Was wir aus dem MIPEX 2020 lernen können (und was nicht)

Die Pro­tes­te gegen Poli­zei­ge­walt und Demons­tra­tio­nen zu Black Lives Mat­ter in den USA bewe­gen auch in der Schweiz. Die Fra­ge liegt nahe, wie die hie­si­ge Situa­ti­on in Bezug auf ras­sis­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung aus­sieht und wel­che Leh­ren aus der Black Lives Mat­ter-Bewe­gung im his­to­ri­schen und poli­ti­schen Kon­text der Schweiz gezo­gen wer­den kön­nen. Dabei hel­fen kön­nen Indi­zes wie der kürz­lich aktua­li­sier­te Migrant Inte­gra­ti­on Poli­cy Index (MIPEX), an dem die Schweiz seit 2008 betei­ligt ist.

Die­ser Blog­bei­trag wur­de erst­mals auf dem Blog des nccr – on the move publi­ziert (1.12.2020)

Migrant Inte­gra­ti­on Poli­cy Index (MIPEX)
Der MIPEX ist ein mehr­di­men­sio­na­ler Index zur stan­dar­di­sier­ten Erfas­sung der Migra­ti­ons- und Inte­gra­ti­ons­po­li­ti­ken in aktu­ell 52 Län­dern, die damit sys­te­ma­tisch erho­ben und ver­gleich­bar gemacht wer­den. Im Fokus ste­hen dabei der Rechts­rah­men und die Umset­zungs­pra­xis der Poli­ti­ken, nicht die Inte­gra­ti­on von Migran­ten und Migrantinnen.

Das Schwei­ze­ri­sche Forum für Migra­ti­ons- und Bevöl­ke­rungs­stu­di­en SFM der Uni­ver­si­tät Neu­châ­tel nimmt an die­sem inter­na­tio­nal kol­la­bo­ra­ti­ven Unter­fan­gen teil, weil Indi­zes wie der MIPEX ein wich­ti­ges Hilfs­mit­tel für die Wis­sen­schaft und die Poli­tik­be­ra­tung sind. Sie ermög­li­chen die ver­ein­fach­te Erfas­sung kom­ple­xer Poli­ti­ken und stel­len im Sin­ne eines Bei­trags zur Ver­sach­li­chung der Debat­ten über­prüf- und ver­gleich­ba­re Daten zur Ver­fü­gung. Dabei ist es uns ein Anlie­gen, die Grund­la­gen zu Indi­zes wie dem MIPEX offen­zu­le­gen. So ist etwa auch der im Rah­men des nccr – on the move erstell­te Index der Bür­ger­rechts­ge­set­ze in den 26 Schwei­zer Kan­to­nen (Swis­s­Cit) trans­pa­rent und überprüfbar.

Die Möglichkeiten und Grenzen von MIPEX

Natür­lich haben quan­ti­ta­ti­ve Erhe­bungs­in­stru­men­te ihre Gren­zen. Unter dem Anspruch der Ver­ein­heit­li­chung und Ver­gleich­bar­keit ist es bei­spiels­wei­se nicht immer mög­lich, alle Facet­ten der Inte­gra­ti­ons­po­li­ti­ken abzu­bil­den. Dies lässt sich am Bei­spiel des MIPEX gut illus­trie­ren: Obwohl die Ein­bür­ge­rungs­pra­xis in der Schweiz 2018 ver­schärft wur­de, hat sich der ent­spre­chen­de Indi­ka­tor im MIPEX nicht ver­än­dert. Der Grund dafür ist ein­fach – auf der gesam­ten Ska­la von «stren­gen» bis «laxen» Ein­bür­ge­rungs­prak­ti­ken bleibt die Ver­än­de­rung unwe­sent­lich. Im Ver­gleich zu ande­ren Län­dern in West­eu­ro­pa hat­te die Schweiz bereits vor 2018 eine restrik­ti­ve Ein­bür­ge­rungs­pra­xis. Wenn es dar­um geht, Nuan­cen der inte­gra­ti­ons­po­li­ti­schen Ent­wick­lung in der Schweiz über einen län­ge­ren Zeit­raum zu beob­ach­ten oder mit ande­ren Län­dern zu ver­glei­chen, ist der Nut­zen des MIPEX somit begrenzt.

Die Indi­ka­to­ren des MIPEX haben zudem eine kla­re nor­ma­ti­ve Dimen­si­on. Mit der empi­ri­schen Beschrei­bung aktu­el­ler Poli­ti­ken und deren Ver­gleich gibt der Index impli­zit vor, wel­che Rich­tung die­se Poli­ti­ken anzu­stre­ben haben. Der MIPEX ori­en­tiert sich zum einen an ver­fas­sungs- und völ­ker­recht­li­chen Vor­ga­ben und Grund­prin­zi­pi­en, und wer­tet ent­spre­chend aus­ge­rich­te­te Poli­ti­ken höher. Zum ande­ren fus­sen die Indi­ka­to­ren auf wis­sen­schaft­lich erhär­te­ten Erkennt­nis­sen. Wenn z. B. die Teil­ha­be der Migrant*innen als posi­tiv gewer­tet wird, beruht dies nicht auf einer «Mei­nung», son­dern auf empi­ri­schen For­schun­gen die ent­spre­chen­de posi­ti­ve Effek­te fest­ge­stellt haben. Zu die­sen Grund­la­gen zäh­len auch Stu­di­en des SFM oder des nccr – on the move.

Der inter­na­tio­na­le Ver­gleich ist wichtig

Der Fokus bei MIPEX liegt auf der Gesetz­ge­bung und gera­de in der föde­ra­lis­ti­schen Schweiz gibt es wesent­li­che regio­na­le oder loka­le Unter­schie­de in deren Imple­men­tie­rung. Die­se erfor­schen wir einer­seits sepa­rat (Swis­s­Cit Indi­ka­to­renSFM Stu­die), und ande­rer­seits betrach­ten wir im Rah­men des MIPEX aus einer mög­lichst umfas­sen­den Per­spek­ti­ve, auf wel­che Wei­se die Schweiz mit der Inte­gra­ti­on von Migrant*innen umgeht.

Auch wenn der his­to­ri­sche und poli­ti­sche Kon­text in jedem Land vari­iert, gibt uns MIPEX wich­ti­ge Anhalts­punk­te über die Stel­lung der Schweiz im Ver­gleich zu ande­ren Län­dern, aber auch dar­über, wie sie im Ver­gleich zu frü­her dasteht. Betrach­ten wir die­se Ent­wick­lung seit der ers­ten MIPEX-Stu­die von 2004, stel­len wir eine Stär­kung der Rech­te von Zuge­wan­der­ten fest, spe­zi­ell auf dem Arbeits­markt. Gleich­zei­tig ver­folgt die Schweiz in Berei­chen wie der Ein­bür­ge­rung und dem Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz kon­se­quent eine ver­gleichs­wei­se restrik­ti­ve Poli­tik. Sol­che Ver­glei­che sind wich­tig, denn sie kön­nen die Poli­tik inspi­rie­ren, sich an Her­an­ge­hens­wei­sen und guten Bei­spie­len in ande­ren Län­dern zu ori­en­tie­ren. In die­sem Sinn för­dert MIPEX das Policy-Learning.

Abbildung: Migrationspolitik der Schweiz im Vergleich zur EU, 2019

Im Ver­gleich zu ande­ren Län­dern sticht vor allem der kon­stant schwa­che Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz in der Schweiz her­aus. Die­ser Befund wider­spie­gelt die rea­len Ver­hält­nis­se in unse­rem Land und legt den Schluss nahe, dass der man­gel­haf­te Schutz vor Dis­kri­mi­nie­rung poli­tisch gewollt ist. Dass gesetz­li­che Lücken bestehen und Per­so­nen in der Schweiz dis­kri­mi­niert wer­den, ist auch durch empi­ri­sche Stu­di­en doku­men­tiert. Mass­nah­men­vor­schlä­ge für einen bes­se­ren Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz lie­gen vor – und die­se sind nicht ein­fach aus ande­ren Län­dern «impor­tiert», son­dern stel­len viel­mehr mass­ge­schnei­der­te Lösun­gen für die Schweiz dar.

Black Lives Mat­ter hat in der Schweiz eini­ge Denk­an­stös­se gege­ben und Ver­än­de­run­gen aus­ge­löst. Wir begrüs­sen die Debat­te dar­über, wie wir in einer von Viel­falt gepräg­ten Gesell­schaft mit Men­schen unter­schied­li­cher Her­kunft gerecht umge­hen wol­len. Der MIPEX und empi­ri­sche Stu­di­en zei­gen auf sach­li­che Wei­se, dass unter­schied­li­che Poli­ti­ken einen ent­schei­den­den Ein­fluss auf den Erfolg der Inte­gra­ti­on von Migrant*innen haben. In Zusam­men­hang mit der Black Lives Mat­ter-The­ma­tik lässt sich auf­grund empi­ri­scher Hilfs­mit­tel wie dem MIPEX fest­stel­len, dass der im inter­na­tio­na­len Ver­gleich sehr schwa­che Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz in der Schweiz die Bekämp­fung von Ungleich­be­hand­lun­gen erschwert. Das Ziel von ver­glei­chen­den Indi­zes soll unse­rer Mei­nung nach nicht sein, blind Poli­ti­ken zu über­neh­men, denn der Kon­text und die Geschich­te sind über­all anders. Dies soll­te aber kein Vor­wand dafür sein, gar nichts zu tun, son­dern viel­mehr ein Ansporn für Poli­tik und Wis­sen­schaft, sich nach im hie­si­gen Kon­text geeig­ne­ten Lösungs­an­sät­zen umzu­se­hen – im Bereich des Dis­kri­mi­nie­rungs­schut­zes und dar­über hinaus.


Gian­ni D’Amato ist Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Neu­châ­tel, Pro­jekt­lei­ter und Direk­tor des nccr – on the move.

Deni­se Efio­nayi-Mäder ist Sozio­lo­gin und Vize­di­rek­to­rin am Schwei­ze­ri­schen Forum für Migra­ti­ons- und Bevöl­ke­rungs­stu­di­en SFM der Uni­ver­si­tät Neuchâtel.

Didier Rue­din ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter und Dozent am Schwei­ze­ri­schen Forum für Migra­ti­ons- und Bevöl­ke­rungs­stu­di­en der Uni­ver­si­tät Neu­châ­tel und Lei­ter des nccr – on the move Pro­jek­tes «Über­win­dung unglei­cher Chan­cen durch Bildung».

Mehr Infor­ma­tio­nen zur Schweiz und MIPEX fin­den Sie auf der MIPEX Web­sei­te.

 

Bild: pixabay.com

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