Lernen vom Nachbarn? Der Schweizer Ständerat und der Deutsche Bundesrat im Vergleich

Der Schweizer Ständerat und der Deutschen Bundesrat repräsentieren verschiedenen Modelle von Zweiten Gesetzgebungskammern. In Bundesstaaten werden diesen Kammern spezifische Funktionen zugeschrieben: die Repräsentation der Gliedstaaten, die Kontrolle der Mehrheitsherrschaft im Bund, die Sicherung der föderalen Machtbalance und die Qualitätssicherung der Gesetzgebung (Reflexionsfunktion). Wie erfüllen der Ständerat und der Bundesrat diese Funktionen und was kann man aus dem Vergleich lernen?

Ständeratsbuch

Die Repräsentationsfunktion einer zweiten Kammer wird meistens mit der Zusammensetzung der Mitglieder einer Zweiten Kammer gleichgesetzt. Doch diese hat nur insoweit Konsequenzen, wie die Merkmale, nach denen die Zusammensetzung bestimmt wird, auch das Handeln ihrer Mitglieder prägt. Das trifft offensichtlich in beiden Ländern auf die Parteipolitik zu, obgleich Mitglieder des Ständerats wie des Bundesrats auch wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Interessen der Kantone oder Länder berücksichtigen. In Deutschland werden Länderinteressen von den Landesregierungen definiert, die in nach Parteien gegliederten informellen Beratungen sich untereinander abstimmen. In der Schweiz dürften informelle Kontakte der Ständeratsmitglieder zu politischen Akteuren und Interessengruppen in den Kantonen ebenso deren Meinung beeinflussen wie Diskussionen in den Parteien.

Inwieweit Zweite Kammern Entscheidungen der Parlamentsmehrheit beeinflussen können, hängt davon ab, ob sie ein Veto- oder ein Einspruchsrecht haben. Demnach scheint der Ständerat eine stärkere Kontrollmacht zu besitzen als der Bundesrat, der nur in bestimmten Materien ein Vetorecht ausüben kann. Doch die Mitglieder beider Kammern haben in der Regel ein Interesse daran, Gesetze zu gestalten und nicht zu verhindern, weshalb sie durch Vetodrohungen Verhandlungen anstreben. In der Schweiz fördert das mehrstufige Differenzbereinigungsverfahren zwischen Nationalrat und Ständerat eine Einigung durch wechselseitige Zugeständnisse. Auch in Deutschland kann mehrmals der Vermittlungsausschuss angerufen werden, dessen Einigungsvorschlag beide Gesetzgebungskammern nur annehmen oder ablehnen können. Blockaden werden durch informelle Verhandlungen vermieden. Während in Deutschland schon eine Einigung als solche als Erfolg gilt, wissen die National- und Ständeräte in der Schweiz, dass sie die Bürgerschaft von ihren Vereinbarungen überzeugen müssen, weil sonst Referenden drohen. Dies fördert die Qualität der Gesetze.

Die föderale Machbalance scheint der deutsche Bundesrat besser zu sichern, da er Verfassungsänderungen mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen muss und eine Zentralisierung von Kompetenzen und Finanzen leicht verhindern kann. Da in der Schweiz eine Verfassungsrevision vom Volk initiiert werden kann und im obligatorischen Referendum zu beschließen ist, kann der Ständerat die Macht der Kantone und Gemeinden nicht allein gewährleisten. Doch in der Regel bevorzugen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Dezentralisierung, was nicht ausschließt, dass sie in einzelnen Politikfeldern Bundeskompetenzen befürworten.

Als Reflexionskammer soll der Ständerat wie der Bundesrat Gesetzesentwürfe nach sachlichen Kriterien prüfen, bevor sie im Parlament verabschiedet werden. Angesichts der Unterstützung durch die Ministerialverwaltung scheinen die Mitglieder des deutschen Bundesrats dazu eher in der Lage zu sein. Mitglieder des Ständerats verfügen aber meistens über Erfahrungen in Regierungs- und Verwaltungsämtern. In der Schweizer Konsensdemokratie scheint die Reflexionsfunktion eher im Vordergrund zu stehen als in der parlamentarischen Demokratie Deutschlands, in der Landesregierungen immer im Parteienwettbewerb agieren.

Der Ständerat und der Bundesrat erfüllen also beide ihre Funktionen, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Beide Kammern haben aber auch „Systemeffekte“, wirken sich also auf das politische System aus. Der Schweizer Ständerat unterstützt die Konsensdemokratie, was in Zeiten zunehmender politischen Polarisierung bedeutsam ist. Der deutsche Bundesrat zwingt Regierungen von Bund und Ländern dazu, sich über Gesetzesvorschläge zu einigen, was schwierig ist, wenn diese Regierungen Parteien vertreten, die in der parlamentarischen Demokratie miteinander um Wählerstimmen konkurrieren. In der Schweiz ist zu beachten, wie sich das Verhältnis zwischen dem Ständerat und der Konferenz der Kantonsregierungen bzw. Direktorenkonferenzen entwickelt. In Deutschland wurden die Konferenzen der Ministerpräsidenten und Fachminister der Länder mit der Einrichtung des Bundesrats gestärkt. Eine vergleichbar institutionell verankerte Machtbasis fehlt den Kantonsregierungen in der Schweizer Bundespolitik.

Sucht man nach Reformempfehlungen, so ist zu bedenken, dass der Schweizer Ständerat wie der Deutsche Bundesrat Teil eines komplexen Institutionengefüges sind, auf das sich Reformen auswirken. Der Vergleich der beiden Gesetzgebungskammern kann jedenfalls dazu beitragen, ihre Funktionsweise und Leistungen im Kontext der unterschiedlichen Regierungssysteme zu verstehen.


Referenz

  • Benz, Arthur (2020). Lernen vom Nachbar? Der Schweizer Ständerat und der Deutsche Bundesrat im Vergleich, in: Mueller, Sean und Adrian Vatter (Hrsg.): Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.

 

Bild: Gebäude des Bundesrats, www.bundesrat.de

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