Wie Schweizerinnen und Schweizer über Grenzgänger denken

Die Schwei­zer Wirt­schaft braucht drin­gend aus­län­di­sche Arbeits­kräf­te. Gleich­zei­tig möch­te man eine 10-Mil­lio­nen Schweiz und zusätz­li­chen Dich­testress ver­hin­dern. Wie kann die­sem Wider­spruch begeg­net wer­den? Wäre die Auf­sto­ckung der Anzahl Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger die per­fek­te Lösung? Unse­re For­schung deu­tet dar­auf hin, dass dem nicht so ist. 

Wäh­rend des Abstim­mungs­kamp­fes über die Begren­zungs­in­itia­ti­ve war das The­ma Per­so­nen­frei­zü­gig­keit omni­prä­sent. Ein kürz­lich hier erschie­ne­ner Bei­trag zeigt auf, dass Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit gegen­über grund­sätz­lich posi­tiv und sta­bil ein­ge­stellt sind. Wir unter­such­ten die Ein­stel­lung der Schwei­zer Bevöl­ke­rung zu ver­schie­de­nen Aspek­ten von Migra­ti­on und Frei­zü­gig­keit im Detail. Im Zen­trum stand dabei die Fra­ge, wie Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer die unter­schied­li­chen Aus­wir­kun­gen der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit auf sich und die Schweiz eva­lu­ie­ren. Dabei inter­es­sier­te uns zum einen, ob die Schwei­zer Stimm­be­völ­ke­rung die ver­schie­de­nen Aspek­te der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit (Grenz­gän­ger vs. Zuwan­de­rer) unter­schied­lich bewer­ten und zum ande­ren ob dies von ihrer per­sön­li­chen Betrof­fen­heit abhängt.

Freizügigkeit hat viele Facetten.

Die Debat­te über die Aus­wir­kun­gen von Frei­zü­gig­kei­ten fokus­siert in der Regel auf Men­schen, die in die Schweiz kom­men, um hier zu leben und zu arbei­ten. Auch wenn wir nicht abstrei­ten möch­ten, dass die­se “klas­si­schen” Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rer einen gros­sen und sehr bedeu­ten­den Teil der Frei­zü­gig­keit aus­ma­chen, ist es ein Ziel unse­rer For­schung, die (poli­tik­wis­sen­schaft­li­che) Debat­te um die Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger zu erweitern.

Wie unterscheiden sich Grenzgängerinnen und Grenzgänger von Zuwanderinnen und Zuwandern?

Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger sind inner­halb der Schwei­zer Wirt­schaft in vie­len Sek­to­ren wich­ti­ge Arbeits­kräf­te. So waren bei­spiels­wei­se im ers­ten Quar­tal 2020 rund 330’000 Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger in der Schweiz beschäf­tigt. Anders als bei Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rern kann der viel­zi­tier­te Dich­testress der Schweiz in Bezug auf Woh­nungs­markt und Zer­sie­de­lung aber nicht auf Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger zurück­ge­führt wer­den, da die­se wei­ter­hin im Aus­land wohn­haft sind. Wei­te­re rele­van­te Über­le­gun­gen zu den Unter­schie­den und Gemein­sam­kei­ten die­ser bei­den Grup­pen sind in Tabel­le 1 dargestellt.

Tabelle 1: Unterschiede und Gemeinsamkeiten Grenzgänger / Zuwanderer

Arbeits­markt

Grenz­gän­ger und Zuwan­de­rer haben ähn­li­che Aus­wir­kun­gen auf den Arbeitsmarkt. 

Woh­nung / öffent­li­che Güter

Zuwan­de­rer kon­kur­rie­ren mit Schwei­zern um Woh­nun­gen und öffent­li­che Güter, wie z.B. Krippenplätze

Ver­kehr

Grenz­gän­ger erhö­hen das Ver­kehrs­auf­kom­men typi­scher­wei­se in einem grö­ße­ren Ausmass

Sozio-kul­tu­rel­le Aspekte

Grenz­gän­ger unter­schei­den sich typi­scher­wei­se weni­ger von Schwei­zern bezüg­lich Spra­che und Kultur 

Öffent­li­ches Leben 

Zuwan­de­rer neh­men ten­den­zi­ell eher am öffent­li­chen Leben in der Schweiz teil 

 
Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung der Schweizer Bevölkerung in Bezug auf die Unterschiede zwischen Grenzgängerinnen und Zuwanderern?

Da die Ein­stel­lung gegen­über Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­gern auch inner­halb der For­schung bis­her kaum unter­sucht wur­de, haben wir uns gefragt, wie Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger gegen­über ver­schie­de­nen Facet­ten der Arbeits­mi­gra­ti­on aus EU/EFTA Staa­ten ein­ge­stellt sind.

Grund­sätz­lich wür­den wir kei­nen Unter­schied zwi­schen der Bewer­tung bei­der Grup­pen erwar­ten, wenn es der Schwei­zer Bevöl­ke­rung bei der Frei­zü­gig­keit um die Arbeits­markt­kon­kur­renz von Migra­ti­on gin­ge. Bei­de Grup­pen haben eine ver­gleich­ba­re Aus­wir­kung auf den schwei­ze­ri­schen Arbeits­markt: Wenn eine vakan­te Stel­le mit einer Grenz­gän­ge­rin oder einer Zuwan­de­rin besetzt wird, ist die­se Stel­le für eine Schwei­ze­rin nicht mehr ver­füg­bar. Ande­rer­seits ste­hen Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer mit Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­gern nicht im Wett­be­werb um knap­pen Wohn­raum, Krip­pen­plät­ze oder Frei­zeit­an­ge­bo­te, mit Zuwan­de­re­rin­nen und Zuwan­de­rern hin­ge­gen schon. Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger spre­chen aus­ser­dem zumeist die pas­sen­de Spra­che und tei­len durch die geo­gra­phi­sche Nähe ihrer Her­kunf­s­re­gi­on zur Schweiz auch ähn­li­che kul­tu­rel­le Tra­di­tio­nen. Soll­ten die­se sozio-kul­tu­rel­len Grün­de aus­schlag­ge­bend sein, Frei­zü­gig­keit abzu­leh­nen, so wür­den wir eine signi­fi­kant bes­se­re Beur­tei­lung von Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­gern erwarten.

Basie­rend auf einer reprä­sen­ta­ti­ven Umfra­ge inklu­si­ve Umfra­ge­ex­pe­ri­ment (sie­he Box “Befra­gung und Metho­de”) durch­ge­führt von respon­di im Sep­tem­ber 2019 fan­den wir kei­ne die­ser bei­den Annah­men bestä­tigt (Schaf­fer und Spil­ker 2020). Wie aus Abbil­dung 1 her­vor­geht wird die Grup­pe der Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger stets nega­ti­ver beur­teilt als die Grup­pe der Zuwan­de­re­rin­nen und Zuwan­de­rer. Zudem sticht eine Grup­pe beson­ders her­aus, näm­lich die der Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger, wel­che im Sek­tor für wis­sen­schaft­li­che und tech­ni­sche Dienst­leis­tun­gen arbeiten.

Abbildung 1: “Frage: „Empfinden Sie die momentane Anzahl an ausländischen GrenzgängerInnen/ZuwanderInnen als «zu wenig (1)» bis «zu viel (5)?» (Mittelkategorie: «genau richtig (3)»)”

Abbildung 1 zeigt die Mittelwertsdifferenzen (Punkte) für die Experimentalgruppen, welche die Information zu den GrenzgängerInnen gelesen haben, und den Experimentalgruppen, welche die Information zu den ZuwanderInnen gelesen haben. Die horizontalen Linien stellen die 95% Konfidenzintervalle dar. Eine positive Differenz bedeutet, dass die Experimentalgruppe mit den Informationen zu den GrenzgängerInnen einen höheren Wert bezüglich der oben gestellten Frage aufweist.
Befra­gung und Methode
In unse­rem Umfra­ge­ex­pe­ri­ment haben wir den befrag­ten Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­gern kon­kre­te Zah­len zur Ent­wick­lung der Arbeits­mi­gra­ti­on in den letz­ten Jah­ren genannt. Im Beson­de­ren haben wir vier unter­schied­li­che Infor­ma­ti­ons­sze­na­ri­en bereit­ge­stellt: die tat­säch­lich Anzahl von GrenzgängerInnen/ZuwanderInnen schweiz­weit, auf Kan­tons­ebe­ne, im Sek­tor für wis­sen­schaft­li­che und tech­ni­sche Dienst­leis­tun­gen ( Wis­sen­schaft­ler, Inge­nieu­re und Steu­er­be­ra­ter) als einen Sek­tor mit sehr vie­len hoch­ge­bil­de­ten Arbeit­neh­me­rIn­nen, und im Bereich des Bau­sek­tors als eines der häu­fig genann­ten Bei­spie­le für einen Sek­tor mit eher weni­ger hoch­ge­bil­de­ten Arbeit­neh­me­rIn­nen. Ins­ge­samt erga­ben sich so acht ver­schie­de­ne Infor­ma­ti­ons­sze­na­ri­os, die wir den Befrag­ten zufäl­lig zuge­teilt haben und die­se somit ent­we­der mit der Ent­wick­lung der Grenz­gän­ge­rIn­nen als eine Grup­pe der Arbeits­mi­gra­ti­on in die Schweiz kon­fron­tiert haben oder aber mit der Ent­wick­lung der stän­di­gen aus­län­di­schen Wohn­be­völ­ke­rung (Zuwan­de­rin­nen aus EU/EFTA Staa­ten mit B oder C Bewil­li­gung). Anschlies­send wur­den die Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger gefragt, ob sie den­ken, dass die­se Zahl eher zu hoch, zu nied­rig oder genau rich­tig ist und wie sie die Aus­wir­kun­gen auf die Schweiz oder sich selbst einschätzen.
Die Ergebnisse unserer Befragung sind in mehrfacher Hinsicht überraschend

Ers­tens hat­ten wir nicht erwar­tet, dass Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger grund­sätz­lich signi­fi­kant nega­ti­ver bewer­tet wer­den als Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rer, die bei glei­cher Arbeits­markt­kon­kur­renz zusätz­lich um Wohn­raum, Krip­pen­plät­ze etc. mit den Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zern kon­kur­rie­ren. Zwei­tens hat­ten wir auf der Basis bis­he­ri­ger For­schungs­er­geb­nis­se (Hain­mu­el­ler und His­cox 2010) nicht erwar­tet, dass aus­ge­rech­net die gut­ge­bil­de­ten Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger auf mehr Wider­stand stos­sen. Drit­tens fin­den wir her­aus, dass eine Mehr­heit der Befrag­ten die momen­ta­ne Anzahl aus­län­di­scher Zuwan­de­rIn­nen und Grenz­gän­ge­rIn­nen als etwas zu viel empfinden.

Worauf können diese Beobachtungen zurückgeführt werden?

Was wir bis­her zei­gen kön­nen ist, dass die­ser Effekt auch mit der direk­ten Betrof­fen­heit unse­rer Befrag­ten zu tun hat. Abbil­dung 2 zeigt, dass Grenz­re­gio­nen deut­lich stär­ker von Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­gern betrof­fen sind (obe­re Kar­te, Abbil­dung 2a), wäh­rend sich Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rer gleich­mäs­si­ger über die gan­ze Schweiz ver­tei­len (unte­re Kar­te, Abbil­dung 2b). Abbil­dung 3 zeigt dar­über hin­aus, wie Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger bzw. Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rer wahr­ge­nom­men wer­den, je nach­dem wie vie­le Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger (lin­ke Abbil­dung) bzw. Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rer (rech­te Abbil­dung) tat­säch­lich in der Gemein­de der Befrag­ten arbei­ten. Wir kön­nen sehen, dass die signi­fi­kant schlech­te­re Wahr­neh­mung von Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­gern im Ver­gleich zu Zuwan­de­rin­nen und Zuwan­de­rer haupt­säch­lich dort ent­steht, wo die­se auch arbei­ten: in stark betrof­fe­nen Gemein­den an den Lan­des­gren­zen wer­den die Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger am nega­tivs­ten beurteilt. 

 
Abbildung 2a: Verteilung der Grenzgängerinnen und Grenzgängern über die Schweiz

Abbildung 2b: Verteilung der Zuwanderinnen und Zuwanderer über die Schweiz

Abbildung 3: Ergebnisse in Abhängigkeit der Betroffenheit der Wohngemeinde der Befragten

Abbildung 3 zeigt den Effekt (Punkte bzw. Diamanten) sowie das 95% Konfidenzintervall (vertikale Linien) des jeweiligen Informationstreatments (GrenzgängerInnen versus ZuwanderInnen) auf die Frage, ob die momentane Anzahl an ausländischen GrenzgängerInnen/ZuwanderInnen als zu wenig (1) oder zu viel (5) wahrgenommen wird abhängig von der Anzahl der tatsächlichen GrenzgängerInnen (horizontale Achse in der linken Grafik) oder der Anzahl der tatsächlichen ZuwanderInnen (horizontale Achse in der rechten Grafik) pro Gemeinde.
Sind unsere Ergebnisse eine Abstimmungsprognose?

Reicht das Wis­sen dar­über, dass bei­de Arten der Arbeits­mi­gra­ti­on gene­rell als zu hoch bewer­tet wer­den und dass dar­über hin­aus die Impli­ka­ti­on „Grenz­gän­ger“ gegen­über „Zuwan­de­rer“ als viru­len­te­res Pro­blem wahr­ge­nom­men wird aus, um eine Aus­sa­ge über den Abstim­mungs­aus­gang bei der Begren­zungs­in­itia­ti­ve zu wagen? Sicher nicht. Denn wie spä­tes­tens die Bre­x­it-Abstim­mung und ihre Fol­gen gezeigt haben, sind Des­in­te­gra­ti­ons­pro­zes­se in ihren Kon­se­quen­zen mul­ti­di­men­sio­nal und die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger anti­zi­pie­ren die­se Kon­se­quen­zen auch (in Tei­len). Den­noch konn­ten wir zei­gen, wel­che Aspek­te der Frei­zü­gig­keit stär­ker nega­tiv wahr­ge­nom­men wer­den und ver­mu­ten, dass in die­sen Regio­nen wahr­schein­lich das gröss­te Poten­zi­al für die Begren­zungs­in­itia­ti­ve steckt.


Refe­renz

  • Hain­mu­el­ler, J. und His­cox, M. J. (2010). Atti­tu­des toward high­ly skil­led and low-skil­led immi­gra­ti­on: Evi­dence from a sur­vey expe­ri­ment. Ame­ri­can poli­ti­cal sci­ence review, 104(1), 61–84.
  • Schaf­fer, Lena Maria und Gabrie­le Spil­ker (2020). “Indi­vi­du­al Migra­ti­on Pre­fe­ren­ces: Cul­tu­re, Con­text or Com­pe­ti­ti­on?”. Working Paper, prä­sen­tiert an Kon­fe­renz der Ame­ri­ka­ni­schen Ver­ei­ni­gung für Poli­tik­wis­sen­schaft APSA 2020.

 

Bild: Grenz­über­gang bei Vey­ri­er, wiki­me­dia commons

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