Warum die Pandemie die Meinungsbildung nicht aushebelte

Der Bun­des­rat hat am 18. März ent­schie­den, die vor­ge­se­he­nen Abstim­mun­gen vom 17. Mai 2020 abzu­sa­gen, weil die Mei­nungs­bil­dung der Bevöl­ke­rung coro­nabe­dingt nicht gewähr­leis­tet wäre. Doch war die­ser Ent­scheid berech­tigt? Wir set­zen da ein Fragezeichen.

Am 17. Mai 2020 hät­te die Schweiz abge­stimmt — doch der Urnen­gang fand nicht statt. Der Bun­des­rat ent­schied, die Abstim­mung coro­nabe­dingt abzu­sa­gen bzw. zu ver­schie­ben. Via Medi­en­mit­tei­lung begrün­de­te er dies damit, dass ein umfas­sen­der Pro­zess der Mei­nungs­bil­dung im Vor­feld des für Mai vor­ge­se­he­nen Abstim­mungs­ter­mins nicht mög­lich wäre.

Die­se Begrün­dung impli­ziert, dass bei­spiels­wei­se Podi­ums­dis­kus­sio­nen von zen­tra­ler Bedeu­tung sind für die poli­ti­sche Mei­nungs­bil­dung. Doch stimmt es, dass Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le, bei denen Regeln des Abstands und Social Distancing nicht gewahrt wer­den kön­nen, eine ent­schei­den­de Rol­le spie­len? Und war aus die­sem Grund eine Ver­schie­bung notwendig?

Wo sich Stimmbürgerinnen und –bürger ihre Informationen holen

Ver­schie­de­ne Unter­su­chun­gen zei­gen, wel­che Infor­ma­ti­ons­ka­nä­le Stimm­bür­ge­rin­nen und ‑bür­ger im Vor­feld von Urnen­gän­gen nut­zen. Wir haben die ver­schie­de­nen Infor­ma­ti­ons­quel­len in Bezug auf ihre Pan­de­mie-Bestän­dig­keit beur­teilt und kom­men zum Schluss: Die Covi­d19-Pan­de­mie hat den Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess in der Schweiz nicht ausgehebelt.

Für unse­re Ana­ly­se haben wir sämt­li­che Infor­ma­ti­ons­quel­len dahin­ge­hend klas­si­fi­ziert, ob sie durch die Coro­na-Abstands­re­geln tan­giert wor­den wären oder nicht. In der Tabel­le 1 sind die von den Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern anläss­lich der Zür­cher Wah­len 2019 kon­sul­tier­ten Infor­ma­ti­ons­quel­len aufgeführt.

Es zeigt sich, dass der über­wie­gen­de Teil der breit genutz­ten Infor­ma­ti­ons­quel­len durch die Coro­na-Restrik­tio­nen kaum beein­träch­tigt wor­den wäre. Die vom Bun­des­rat in sei­ner Begrün­dung zur Ver­schie­bung der Abstim­mung genann­ten Ver­an­stal­tun­gen und Podi­ums­dis­kus­sio­nen spiel­ten hin­ge­gen für die Zür­cher Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler als Infor­ma­ti­ons­quel­len im Wahl­kampf kaum eine Rol­le. Ein­zig die für die Mei­nungs­bil­dung wich­ti­gen Gesprä­che, die mit Fami­li­en­mit­glie­dern oder Freun­den geführt wer­den, wären teil­wei­se tan­giert wor­den. „Teil­wei­se“, weil sol­che Gesprä­che – inso­weit sie von den Schutz­mass­nah­men ver­hin­dert wor­den wären – auch tele­fo­nisch oder über digi­ta­le Wege hät­ten statt­fin­den kön­nen. Nur der Mei­nungs­aus­tausch am Arbeits­platz oder in der Schu­le wur­de als nicht mehr mög­lich eingestuft.

Tabelle 1: Informationsquellen bei den Wahlen im Kanton Zürich 2019

Quel­le: SNF Digi­tal Lives-Pro­jekt «Digi­ta­liz­a­ti­on and Elec­to­ral Decisi­on-Making: The Impact of Voting Advice App­li­ca­ti­ons on Elec­to­ral Choice, Pola­riz­a­ti­on and Demo­cra­tic Repre­sen­ta­ti­on», eige­ne Auswertungen.

Anmer­kun­gen: N=3’840, Daten­satz gewich­tet nach Par­tei­wahl und Wahl­teil­nah­me; Mehr­fach­nen­nun­gen waren möglich.

Einen zusätz­li­chen Ein­blick bie­tet die Ana­ly­se der neus­ten Selects-Daten zu den Eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2019. Die­se zei­gen ein ähn­li­ches Bild wie bei den Zür­cher Wah­len, obwohl sich das Set­ting auf natio­na­ler Ebe­ne – bei­spiels­wei­se auf­grund der grös­se­ren Bedeu­tung von Radio und Fern­se­hen – anders prä­sen­tiert. Die Selects-Ana­ly­se zeigt aber auch, dass im Gegen­satz zu den Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern ana­lo­ge Kam­pa­gnen­in­stru­men­te wie Stras­sen­wahl­kampf und phy­si­sche Ver­samm­lun­gen bei den Kan­di­die­ren­den nach wie vor sehr beliebt sind. Die­ser Befund deckt sich zudem mit den Ergeb­nis­sen einer wei­te­ren, im Rah­men von Selects erstell­ten Stu­die, die auf­zeigt, dass Wahl­kämp­fe von Kan­di­die­ren­den in der Schweiz noch nicht wirk­lich in der digi­ta­len Welt ange­kom­men sind (vgl. Gilar­di et al. 2020).

Tabelle 2: Kampagneninstrumente bei den National- und Ständeratswahlen 2019

Quel­le: Swiss Elec­to­ral Stu­dies Selects 2019.

Anmer­kun­gen: N‑Kandidierende=2’121; N‑Wählende=4’763; Daten­satz gewich­tet nach Par­tei­wahl und Wahl­teil­nah­me; Mehr­fach­nen­nun­gen waren möglich.

Somit tan­gie­ren Wahl- und Abstim­mungs­kam­pa­gnen unter Social-Distancing-Bedin­gun­gen die Stimm­be­rech­tig­ten kaum in der Nut­zung ihrer bevor­zug­ten Infor­ma­ti­ons­quel­len, wäh­rend Kan­di­die­ren­de und Abstim­mungs­ko­mi­tees ver­mehrt zur Aus­rich­tung ihrer Kam­pa­gnen auf digi­ta­le Kanä­le gezwun­gen sind.

Tabelle 3: Informationsquellen bei den National- und Ständeratswahlen 2019

Rechtliche Grundlage fehlt

Der Bun­des­rat aber befürch­te­te, dass zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteu­re und die Medi­en auf­grund der durch die Not­la­ge ent­stan­de­nen Rah­men­be­din­gun­gen kei­nen Abstim­mungs­kampf hät­ten füh­ren kön­nen. Mit der Ver­schie­bung der Volks­ab­stim­mung reagier­te er prä­ven­tiv.

Dafür gab es jedoch kei­ne aus­drück­li­che gesetz­li­che Grund­la­ge. Die Ver­schie­bung einer Volks­ab­stim­mung auf­grund einer mög­li­cher­wei­se vor­han­de­nen Beein­träch­ti­gung der Mei­nungs­bil­dung im Vor­feld wäre unse­res Erach­tens ver­fas­sungs­recht­lich (Art. 34 Abs. 2 BV) nur dann zu recht­fer­ti­gen, wenn Pri­va­te ihre Mei­nung prak­tisch gar nicht mehr äus­sern kön­nen und ent­spre­chen­de Beschwer­den vor Bun­des­ge­richt zur Auf­he­bung der Abstim­mung füh­ren müss­ten. Ist die Mei­nungs­bil­dung dage­gen nur par­ti­ell ein­ge­schränkt, wären mil­de­re Mass­nah­men in Betracht zu zie­hen. Denk­bar wäre zum Bei­spiel gewe­sen, dass der Bun­des­rat digi­ta­le Aus­tausch­mög­lich­kei­ten geschaf­fen hät­te, um den Weg­fall von Prä­senz­ver­an­stal­tun­gen zu kompensieren.

Verschiebung der Volksabstimmung aus Sicht der Meinungsbildung nicht erforderlich

Wie jedes staat­li­che Han­deln muss auch die Ent­schei­dung über die Absa­ge bzw. Ver­schie­bung einer Volks­ab­stim­mung den Grund­satz der Ver­hält­nis­mäs­sig­keit respek­tie­ren. Mit Blick auf die oben skiz­zier­ten Erkennt­nis­se zum Stel­len­wert der ein­zel­nen Infor­ma­ti­ons­ka­nä­le für die Mei­nungs­bil­dung war die Ver­schie­bung der Volk­ab­stim­mung zur Sicher­stel­lung der Mei­nungs­bil­dung nicht erforderlich.

Eine ande­re Fra­ge ist, ob sich die Bevöl­ke­rung wäh­rend des «Shut­downs» für die Abstim­mun­gen über­haupt inter­es­siert hät­te. Für die ers­te Pha­se, als der Bun­des­rat den Beschluss zur Ver­schie­bung der Volks­ab­stim­mung getrof­fen hat, kann dies wohl ver­neint wer­den. Aber ab Anfang April, als man sich mit den Beschrän­kun­gen arran­giert hat­te bzw. als sich gemäss Umfra­gen ein Stim­mungs­wan­del in der Bevöl­ke­rung hin zu ver­mehr­ten Locke­run­gen und zu einer gene­rell posi­ti­ve­ren Ein­schät­zung der Situa­ti­on breit mach­te, wären die Stimm­be­rech­tig­ten für die Abstim­mungs­kam­pa­gnen wie­der erreich­bar gewesen.

Natür­lich ist man im Nach­hin­ein immer schlau­er. Mehr als die Ver­gan­gen­heit inter­es­siert uns die Zukunft. Unser Arti­kel zielt dar­auf ab, einen Dis­kus­si­ons­bei­trag zu leis­ten, um die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der demo­kra­ti­schen Pro­zes­se und Struk­tu­ren zu erhal­ten und deren Resi­li­enz zu stär­ken, wenn der­einst in einer ähn­li­chen Situa­ti­on die Ver­schie­bung von Abstim­mun­gen und Wah­len im Raum stehen. 

Die Daten­grund­la­ge
Unse­rer Ana­ly­se liegt eine Unter­su­chung zu Grun­de, die im Rah­men eines For­schungs­pro­jek­tes des SNF-Pro­gramms «Digi­tal Lives» durch­ge­führt wur­de. Dabei wur­den die Infor­ma­ti­ons­quel­len und Mei­nungs­bil­dungs­pro­zes­se der Wäh­ler­schaft bei den Wah­len im Kan­ton Zürich vom Früh­ling 2019 betrach­tet. Ergän­zed haben wir noch Anga­ben aus den Selects 2019-Umfra­gen aus­ge­wer­tet. Die Annah­me liegt nahe, dass sich das Ver­hal­ten zur Infor­ma­ti­ons- und Mei­nungs­bil­dung der Stimm­bür­ge­rin­nen und ‑bür­ger bei Volk­ab­stim­mun­gen nicht grund­le­gend davon unter­schei­det. Es han­delt sich um das Pro­jekt «Digi­ta­liz­a­ti­on and Elec­to­ral Decisi­on-Making: The Impact of Voting Advice App­li­ca­ti­ons on Elec­to­ral Choice, Pola­riz­a­ti­on and Demo­cra­tic Repre­sen­ta­ti­on», das unter der Lei­tung von Prof. Andre­as Lad­ner an den Uni­ver­si­tä­ten Lau­sanne und Bern durch­ge­führt wor­den ist.
Abstim­mung unter Gel­tung des Bun­des­ge­set­zes über die poli­ti­schen Rech­te erst ein­mal verschoben
Das ein­zi­ge Bei­spiel für die Ver­schie­bung einer Abstim­mung seit 1978 fin­det sich im Jahr 2009. Damals wur­de der Ter­min für die Abstim­mung über die Sanie­rung der Inva­li­den­ver­si­che­rung von Mai in den Sep­tem­ber ver­scho­ben, um dem Par­la­ment die Mög­lich­keit zu geben, die in der Vor­la­ge ent­hal­te­ne Mehr­wert­steu­er­erhö­hung im Umfeld der Finanz­kri­se nach­träg­lich anzupassen.

Bild: pixabay.com

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