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Warum die Pandemie die Meinungsbildung nicht aushebelte

Nadja Braun Binder, Jan Fivaz, Daniel Schwarz
18th September 2020

Der Bundesrat hat am 18. März entschieden, die vorgesehenen Abstimmungen vom 17. Mai 2020 abzusagen, weil die Meinungsbildung der Bevölkerung coronabedingt nicht gewährleistet wäre. Doch war dieser Entscheid berechtigt? Wir setzen da ein Fragezeichen.

Am 17. Mai 2020 hätte die Schweiz abgestimmt - doch der Urnengang fand nicht statt. Der Bundesrat entschied, die Abstimmung coronabedingt abzusagen bzw. zu verschieben. Via Medienmitteilung begründete er dies damit, dass ein umfassender Prozess der Meinungsbildung im Vorfeld des für Mai vorgesehenen Abstimmungstermins nicht möglich wäre.

Diese Begründung impliziert, dass beispielsweise Podiumsdiskussionen von zentraler Bedeutung sind für die politische Meinungsbildung. Doch stimmt es, dass Informations- und Kommunikationskanäle, bei denen Regeln des Abstands und Social Distancing nicht gewahrt werden können, eine entscheidende Rolle spielen? Und war aus diesem Grund eine Verschiebung notwendig?

Wo sich Stimmbürgerinnen und –bürger ihre Informationen holen

Verschiedene Untersuchungen zeigen, welche Informationskanäle Stimmbürgerinnen und -bürger im Vorfeld von Urnengängen nutzen. Wir haben die verschiedenen Informationsquellen in Bezug auf ihre Pandemie-Beständigkeit beurteilt und kommen zum Schluss: Die Covid19-Pandemie hat den Meinungsbildungsprozess in der Schweiz nicht ausgehebelt.

Für unsere Analyse haben wir sämtliche Informationsquellen dahingehend klassifiziert, ob sie durch die Corona-Abstandsregeln tangiert worden wären oder nicht. In der Tabelle 1 sind die von den Wählerinnen und Wählern anlässlich der Zürcher Wahlen 2019 konsultierten Informationsquellen aufgeführt.

Es zeigt sich, dass der überwiegende Teil der breit genutzten Informationsquellen durch die Corona-Restriktionen kaum beeinträchtigt worden wäre. Die vom Bundesrat in seiner Begründung zur Verschiebung der Abstimmung genannten Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen spielten hingegen für die Zürcher Wählerinnen und Wähler als Informationsquellen im Wahlkampf kaum eine Rolle. Einzig die für die Meinungsbildung wichtigen Gespräche, die mit Familienmitgliedern oder Freunden geführt werden, wären teilweise tangiert worden. „Teilweise“, weil solche Gespräche – insoweit sie von den Schutzmassnahmen verhindert worden wären – auch telefonisch oder über digitale Wege hätten stattfinden können. Nur der Meinungsaustausch am Arbeitsplatz oder in der Schule wurde als nicht mehr möglich eingestuft.

Tabelle 1: Informationsquellen bei den Wahlen im Kanton Zürich 2019

Quelle: SNF Digital Lives-Projekt «Digitalization and Electoral Decision-Making: The Impact of Voting Advice Applications on Electoral Choice, Polarization and Democratic Representation», eigene Auswertungen.

Anmerkungen: N=3'840, Datensatz gewichtet nach Parteiwahl und Wahlteilnahme; Mehrfachnennungen waren möglich.

Einen zusätzlichen Einblick bietet die Analyse der neusten Selects-Daten zu den Eidgenössischen Wahlen 2019. Diese zeigen ein ähnliches Bild wie bei den Zürcher Wahlen, obwohl sich das Setting auf nationaler Ebene – beispielsweise aufgrund der grösseren Bedeutung von Radio und Fernsehen – anders präsentiert. Die Selects-Analyse zeigt aber auch, dass im Gegensatz zu den Wählerinnen und Wählern analoge Kampagneninstrumente wie Strassenwahlkampf und physische Versammlungen bei den Kandidierenden nach wie vor sehr beliebt sind. Dieser Befund deckt sich zudem mit den Ergebnissen einer weiteren, im Rahmen von Selects erstellten Studie, die aufzeigt, dass Wahlkämpfe von Kandidierenden in der Schweiz noch nicht wirklich in der digitalen Welt angekommen sind (vgl. Gilardi et al. 2020).

Tabelle 2: Kampagneninstrumente bei den National- und Ständeratswahlen 2019

Quelle: Swiss Electoral Studies Selects 2019.

Anmerkungen: N-Kandidierende=2'121; N-Wählende=4'763; Datensatz gewichtet nach Parteiwahl und Wahlteilnahme; Mehrfachnennungen waren möglich.

Somit tangieren Wahl- und Abstimmungskampagnen unter Social-Distancing-Bedingungen die Stimmberechtigten kaum in der Nutzung ihrer bevorzugten Informationsquellen, während Kandidierende und Abstimmungskomitees vermehrt zur Ausrichtung ihrer Kampagnen auf digitale Kanäle gezwungen sind.

Tabelle 3: Informationsquellen bei den National- und Ständeratswahlen 2019

Rechtliche Grundlage fehlt

Der Bundesrat aber befürchtete, dass zivilgesellschaftliche Akteure und die Medien aufgrund der durch die Notlage entstandenen Rahmenbedingungen keinen Abstimmungskampf hätten führen können. Mit der Verschiebung der Volksabstimmung reagierte er präventiv.

Dafür gab es jedoch keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Die Verschiebung einer Volksabstimmung aufgrund einer möglicherweise vorhandenen Beeinträchtigung der Meinungsbildung im Vorfeld wäre unseres Erachtens verfassungsrechtlich (Art. 34 Abs. 2 BV) nur dann zu rechtfertigen, wenn Private ihre Meinung praktisch gar nicht mehr äussern können und entsprechende Beschwerden vor Bundesgericht zur Aufhebung der Abstimmung führen müssten. Ist die Meinungsbildung dagegen nur partiell eingeschränkt, wären mildere Massnahmen in Betracht zu ziehen. Denkbar wäre zum Beispiel gewesen, dass der Bundesrat digitale Austauschmöglichkeiten geschaffen hätte, um den Wegfall von Präsenzveranstaltungen zu kompensieren.

Verschiebung der Volksabstimmung aus Sicht der Meinungsbildung nicht erforderlich

Wie jedes staatliche Handeln muss auch die Entscheidung über die Absage bzw. Verschiebung einer Volksabstimmung den Grundsatz der Verhältnismässigkeit respektieren. Mit Blick auf die oben skizzierten Erkenntnisse zum Stellenwert der einzelnen Informationskanäle für die Meinungsbildung war die Verschiebung der Volkabstimmung zur Sicherstellung der Meinungsbildung nicht erforderlich.

Eine andere Frage ist, ob sich die Bevölkerung während des «Shutdowns» für die Abstimmungen überhaupt interessiert hätte. Für die erste Phase, als der Bundesrat den Beschluss zur Verschiebung der Volksabstimmung getroffen hat, kann dies wohl verneint werden. Aber ab Anfang April, als man sich mit den Beschränkungen arrangiert hatte bzw. als sich gemäss Umfragen ein Stimmungswandel in der Bevölkerung hin zu vermehrten Lockerungen und zu einer generell positiveren Einschätzung der Situation breit machte, wären die Stimmberechtigten für die Abstimmungskampagnen wieder erreichbar gewesen.

Natürlich ist man im Nachhinein immer schlauer. Mehr als die Vergangenheit interessiert uns die Zukunft. Unser Artikel zielt darauf ab, einen Diskussionsbeitrag zu leisten, um die Funktionsfähigkeit der demokratischen Prozesse und Strukturen zu erhalten und deren Resilienz zu stärken, wenn dereinst in einer ähnlichen Situation die Verschiebung von Abstimmungen und Wahlen im Raum stehen.  

Die Datengrundlage
Unserer Analyse liegt eine Untersuchung zu Grunde, die im Rahmen eines Forschungsprojektes des SNF-Programms «Digital Lives» durchgeführt wurde. Dabei wurden die Informationsquellen und Meinungsbildungsprozesse der Wählerschaft bei den Wahlen im Kanton Zürich vom Frühling 2019 betrachtet. Ergänzed haben wir noch Angaben aus den Selects 2019-Umfragen ausgewertet. Die Annahme liegt nahe, dass sich das Verhalten zur Informations- und Meinungsbildung der Stimmbürgerinnen und -bürger bei Volkabstimmungen nicht grundlegend davon unterscheidet. Es handelt sich um das Projekt «Digitalization and Electoral Decision-Making: The Impact of Voting Advice Applications on Electoral Choice, Polarization and Democratic Representation», das unter der Leitung von Prof. Andreas Ladner an den Universitäten Lausanne und Bern durchgeführt worden ist.

Abstimmung unter Geltung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte erst einmal verschoben
Das einzige Beispiel für die Verschiebung einer Abstimmung seit 1978 findet sich im Jahr 2009. Damals wurde der Termin für die Abstimmung über die Sanierung der Invalidenversicherung von Mai in den September verschoben, um dem Parlament die Möglichkeit zu geben, die in der Vorlage enthaltene Mehrwertsteuererhöhung im Umfeld der Finanzkrise nachträglich anzupassen.


Bild: pixabay.com