Italien — die wahre schwäbische Hausfrau Europas

Die Debat­te über die Schaf­fung euro­päi­scher Anlei­hen zur Bekämp­fung der Coro­na­kri­se ist von Vor­ur­tei­len geprägt, die nicht der Rea­li­tät ent­spre­chen. Ita­li­en wird oft als zu ver­schwen­de­risch dar­ge­stellt, hat aber tat­säch­lich in den letz­ten 30 Jah­ren äus­serst spar­sam gewirt­schaf­tet. Es zahlt heu­te aller­dings immer noch für poli­ti­sche Feh­ler, die in den 1970er und 1980er Jah­ren gemacht wurden.

Die Ver­hand­lun­gen um eine euro­päi­sche Lösung der Coro­na-beding­ten Wirt­schafts­kri­se hat die Euro­län­der erneut gespal­ten. Auf der einen Sei­te befür­wor­ten die von den Nie­der­lan­den ange­führ­ten Nord­län­der eine ein­ma­li­ge finan­zi­el­le Unter­stüt­zung in Form ein­ma­li­ger Hilfs­kre­di­te. Auf der ande­ren Sei­te stre­ben die von der Epi­de­mie beson­ders betrof­fe­nen Süd­län­der, wie Ita­li­en oder Spa­ni­en,  eine grund­le­gen­de Reform an, wel­che ins­be­son­de­re die Bün­de­lung der Staats­ver­schul­dung, d.h. die Emis­si­on euro­päi­scher Anlei­hen (Euro­bonds), mit­ein­schlies­sen würde.

Der­zeit kön­nen Deutsch­land oder die Nie­der­lan­de Kre­di­te zu nega­ti­ven Zins­sät­zen auf­neh­men — was bedeu­tet, dass Anle­ger für das Pri­vi­leg bezah­len, ihnen Geld zu lei­hen — wäh­rend Ita­li­en oder Grie­chen­land Zin­sen von jeweils  1,6 und 1,7 Pro­zent zah­len müs­sen. Euro­bonds wür­den es dem Süden einer­seits ermög­li­chen, von nied­ri­ge­ren Zins­sät­zen zu pro­fi­tie­ren, wäh­rend sie ande­rer­seits die Zins­kos­ten der Nord­län­der erhö­hen würden.

Erbitterte Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten

Trotz der dro­hen­den Gefahr eines bei­spiel­lo­sen wirt­schaft­li­chen Zusam­men­bruchs, der eine schnel­le Gegen­re­ak­ti­on erfor­dern wür­de, waren die Ver­hand­lun­gen von erbit­ter­ten Kon­flik­ten zwi­schen den Mit­glied­staa­ten geprägt. In einer Video­kon­fe­renz der euro­päi­schen Finanz­mi­nis­ter soll der Nie­der­län­der Wop­ke Hoek­s­tra um eine Unter­su­chung gebe­ten haben, war­um eini­ge Mit­glied­staa­ten im Süden in den letz­ten Jah­ren kei­ne finan­zi­el­len Puf­fer geschaf­fen hät­ten, wäh­rend ande­re im Nor­den Reser­ven auf­bau­en konn­ten. Der por­tu­gie­si­sche Pre­mier­mi­nis­ter Anto­nio Cos­ta bezeich­ne­te die­se For­de­rung, mit Ver­weis auf die gesund­heit­li­che Not­la­ge, wenig spä­ter als “abstos­send” und hin­ter­frag­te in die­sem Kon­text die Ernst­haf­tig­keit des euro­pa­po­li­ti­schen Enga­ge­ments der Nie­der­lan­de

Das Haupt­ar­gu­ment der Län­der des Nor­dens war, dass Län­der wie die Nie­der­lan­de spar­sam sei­en, wäh­rend die süd­li­chen EU-Staa­ten über ihre Ver­hält­nis­se leben wür­den. In die­sem Zusam­men­hang wür­de den Süd­län­dern eine Ver­ge­mein­schaf­tung der Schul­den ermög­li­chen, von der Genüg­sam­keit der Nord­län­der zu pro­fi­tie­ren, ohne selbst aus­rei­chen­de Anstren­gun­gen zur Haus­halts­kon­so­li­die­rung unter­nom­men zu haben.

Ita­li­en mit sei­ner Staats­schul­den­quo­te von 134 Pro­zent des Brut­to­in­lands­pro­duk­tes (BIP) und per­ma­nen­ten Haus­halts­de­fi­zi­ten ist das Haupt­ziel der nie­der­län­di­schen Kri­ti­ker. Die­se tre­ten in die Fuss­stap­fen des frü­he­ren nie­der­län­di­schen Finanz­mi­nis­ters Jero­en Dijs­sel­blo­em, der den Süden Euro­pas 2017 beschul­dig­te, zu viel für “Schnaps und Frau­en” auszugeben.

Bei genauer Betrachtung haushaltet der Italien sparsamer als der Norden

Das Pro­blem die­ser Inter­pre­ta­ti­on der ita­lie­ni­schen und nie­der­län­di­schen Haus­halts­po­li­tik der ver­gan­ge­nen 30 Jah­re ist, dass sie sich bei genaue­rer Betrach­tung nicht in den Zah­len wider­spie­gelt. Im Gegen­teil, wenn wir die mas­si­ven Zin­sen, die Ita­li­en jedes Jahr für sei­ne Schul­den zah­len muss, bei­sei­te las­sen und den Pri­mär­sal­do, also ledig­lich die Dif­fe­renz zwi­schen Ein­nah­men und Aus­ga­ben (für Gesund­heit, Bil­dung, Infra­struk­tur usw.) betrach­ten, scheint Ita­li­en seit Anfang der neun­zi­ger Jah­re sogar spar­sa­mer gewirt­schaf­tet zu haben als die Nie­der­lan­de (Abbil­dung 1).

Mit Aus­nah­me der Finanz­kri­se hat Ita­li­en in die­ser Zeit stets Pri­mär­über­schüs­se erzielt, wäh­rend die Nie­der­lan­de regel­mä­ßig Pri­mär­de­fi­zi­te ver­zeich­ne­ten, dabei aller­dings Kre­di­te zu nied­ri­gen Zins­sät­zen auf­neh­men konn­ten. Tat­säch­lich lei­det Ita­li­en nach wie vor unter dem Gewicht eines vier­zig Jah­re alten Schul­den­ber­ges. Die­ser wur­de unter der Ägi­de der christ­de­mo­kra­ti­schen Par­tei Ita­li­ens ange­häuft, die Anfang der 90er-Jah­re im Zuge der Anti­kor­rup­ti­ons­ak­ti­on mani puli­te zer­fiel. Die ita­lie­ni­sche Haus­halts­po­li­tik war seit­dem sogar zu spar­sam und konn­te dem anämi­schen Wachs­tum und dem Zer­fall der Infra­struk­tur wenig entgegensetzen. 

Abbildung 1: Konjunkturbedingter Primärsaldo (1990–2019)

Quel­le: IMF Fis­cal Moni­tor 2020

 

Die Ursprünge der italienischen Schulden

Ita­li­en ist eines der Indus­trie­län­der mit der höchs­ten Staats­ver­schul­dung und wird in die­ser Hin­sicht nur von Grie­chen­land und Japan über­trof­fen. Im Jahr 2015 ent­sprach die ita­lie­ni­sche Staats­ver­schul­dung dem andert­halb­fa­chen des Bruttoinlandsproduktes(BIP).

Ita­li­ens Schul­den explo­dier­ten in den 1980er Jah­ren buch­stäb­lich von sech­zig Pro­zent des BIP im Jahr 1980 auf 120 Pro­zent in den frü­hen 1990er-Jah­ren. Die­se Schul­den­ex­plo­si­on war das Ergeb­nis ver­schie­de­ner poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen, die zusam­men­ge­nom­men bis heu­te kata­stro­pha­le Aus­wir­kun­gen haben.

1981 wur­de die ita­lie­ni­sche Zen­tral­bank vom Finanz­mi­nis­te­ri­um getrennt. Damit ende­te eine impli­zi­te Ver­ein­ba­rung, unter der die Bank von Ita­li­en den Kauf ita­lie­ni­scher Schatz­wech­sel  garan­tier­te. Die Zen­tral­bank fun­gier­te daher als ein Käu­fer der letz­ten Instanz, der es dem ita­lie­ni­schen Staat ermög­lich­te, Kre­di­te zu mode­ra­ten Zins­sät­zen auf­zu­neh­men, indem die Staats­schul­den, trotz schwin­del­erre­gen­der Pri­mär­de­fi­zi­te, auf Kos­ten einer erheb­li­chen Infla­ti­on mone­ta­ri­siert wurden.

Strategiewechsel der Geldpolitik

Ende der 1970er-Jah­re änder­te sich die Geld­po­li­tik in Euro­pa und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten radi­kal, Ziel war nun nicht mehr pri­mär die Voll­be­schäf­ti­gung, son­dern die Bekämp­fung der Inflation.

Mit der Schaf­fung des euro­päi­schen Wäh­rungs­sys­tems wur­de zudem ein Sys­tem fes­ter Wech­sel­kur­se ein­ge­führt. Um den Wert der Lira gegen­über der D‑Mark zu ver­tei­di­gen, sah sich Ita­li­en daher zuneh­mend gezwun­gen, die Zin­sen anzu­he­ben, um die hohe Infla­ti­on in den Griff zu bekom­men. Die Infla­ti­on ging in der Fol­ge zurück, da aber die ita­lie­ni­sche Zen­tral­bank den Kauf von Schatz­wech­seln nicht mehr garan­tier­te, stie­gen auch die Zins­sät­ze für Staats­an­lei­hen an und es ver­dop­pel­te sich die Staatsverschuldung.

Zwi­schen Anfang der 90er-Jah­re und der Euro­kri­se blieb die Ver­schul­dung dank erheb­li­cher Haus­halts­an­stren­gun­gen und kon­stan­ten Pri­mär­über­schüs­sen sta­bil. Die Zins­last blieb aller­dings zu hoch und das Wachs­tum zu gering, um die hohe Ver­schul­dung abzu­bau­en. Noch in den neun­zi­ger Jah­ren muss­te der ita­lie­ni­sche Staat jedes Jahr 9,5 Pro­zent des BIP für Zins­zah­lun­gen aufbringen.

Italien trägt eine hohe Zinsschuld

Dies hat sich auch seit dem Jahr 2000 nicht grund­le­gen­de geän­dert, die Zins­kos­ten Ita­li­ens sind seit­dem zwar auf durch­schnitt­lich 4,4 Pro­zent des BIP gesun­ken, lie­gen damit aber immer noch deut­lich höher als etwa in Deutsch­land (1,84%) oder den Nie­der­lan­den (1,33%).

Seit­dem befin­det sich die ita­lie­ni­sche Wirt­schaft zudem in einer Abwärts­spi­ra­le: Kür­zun­gen bei den Aus­ga­ben zum Schul­den­ab­bau drü­cken auf die Wirt­schaft, was die Steu­er­ein­nah­men senkt, die nicht aus­rei­chen, um die Zin­sen für Schul­den und lau­fen­de Aus­ga­ben zu decken.

Hin­zu kom­men auf­grund der altern­den Bevöl­ke­rung auch stei­gen­de Ren­ten- und Gesund­heits­kos­ten, die wie­der­um zu höhe­ren Defi­zi­ten und mehr Schul­den füh­ren. Trotz eines seit 1992 fast immer posi­ti­ven Pri­mär­sal­dos hat die Ver­schul­dung daher sogar zuge­nom­men, und Ita­li­en muss immer noch Kre­di­te zu höhe­ren Zins­sät­zen auf­neh­men als die meis­ten euro­päi­schen Länder. 

Anämi­sches Wachs­tum und Schul­den­dienst haben auch zu mas­si­ven Kür­zun­gen bei den öffent­li­chen Inves­ti­tio­nen geführt, die das Wachs­tum ankur­beln könn­ten. Seit den 90er-Jah­ren sind die öffent­li­chen Inves­ti­tio­nen Ita­li­ens (etwa in Bil­dung und Infra­struk­tur) weni­ger stark gestie­gen als in den meis­ten EU- Staa­ten und rei­chen nicht ein­mal mehr aus um den Ver­fall der Infra­struk­tur zu ver­hin­dern. Der Ein­sturz einer Brü­cke in Genua, bei dem 2018 43 Men­schen ums Leben kamen, kann daher als sym­bo­lisch für den deso­la­ten Zustand der Infra­struk­tur auf der Halb­in­sel betrach­tet werden.

Die Geopolitik der Eurobonds

Europäische Zinsen: ein Nullsummenspiel

In den letz­ten Jahr­zehn­ten befan­den sich die Nie­der­lan­de in einer güns­ti­ge­ren Haus­halts­la­ge als Ita­li­en. Das Land hat zuletzt sogar ver­mehrt Haus­halts­über­schüs­se erwirt­schaf­tet. Lässt man die für die Staats­schul­den anfal­len­den Zin­sen aber wie­der aus­sen vor und betrach­tet den Pri­mär­sal­do, so waren die Nie­der­lan­de in den letz­ten Jahr­zehn­ten viel weni­ger dis­zi­pli­niert als Ita­li­en. Dass die Nie­der­lan­de, trotz wie­der­keh­ren­der Pri­mär­de­fi­zi­te, ins­ge­samt eine bes­se­re Haus­halts­la­ge hat­ten, ergibt sich dar­aus, dass die Nie­der­lan­de Kre­di­te zu deut­lich bes­se­ren Kon­di­tio­nen auf­neh­men konn­ten bzw. kön­nen also viel gerin­ge­re Zin­sen zah­len müs­sen als Italien.

Auf den ers­ten Blick wür­de man den­ken, dass die nie­der­län­di­sche und ita­lie­ni­sche Situa­ti­on nicht viel mit­ein­an­der zu tun haben: Ita­li­en gilt am Markt als weni­ger zuver­läs­sig und muss Anle­gern des­halb höhe­re Zin­sen anbie­ten, um sie zum Anlei­henkauf zu bewe­gen. Dies ist ver­mut­lich tat­säch­lich ein Teil der Erklärung.

Der Öko­nom Paul de Grau­we hat aber auch gezeigt, dass die  Zins­sät­ze der Euro­län­der von­ein­an­der abhän­gen, da ihre Anlei­hen alle­samt auf die glei­che Wäh­rung lau­ten. In einer Kri­sen­si­tua­ti­on kön­nen sich Anle­ger daher aus einem Land, wel­ches mög­li­cher­wei­se nicht in der Lage ist sei­ne Schul­den zu beglei­chen (wie Ita­li­en) zurück­zie­hen und statt­des­sen in siche­re Län­der (wie die Nie­der­lan­de oder Deutsch­land) inves­tie­ren und damit deren Zins­sät­ze senken.

Dies ist genau das, was in der Euro­kri­se geschah, bevor Mario Draghi mit der Aus­sa­ge  “Wha­te­ver it takes” klar stell­te, dass die EZB bereit sei, alles zu tun, um den Euro zu ret­ten. Das glei­che geschah auch, als das Coro­na­vi­rus Ita­li­en traf und Inves­to­ren ita­lie­ni­sche Schul­den ver­kauf­ten, um deut­sche oder fran­zö­si­sche Schul­den zu kau­fen. Die­ser Umstand  ist eines der Argu­men­te für eine Bün­de­lung der Schul­den: denn der­zeit kommt das Unglück der Süd­län­der den Län­dern des Nor­dens zugute.


Hin­weis:

Die­ses Arti­kel wur­de zuerst auf fran­zö­sich im Le Grand Con­ti­nent ver­öf­fent­licht. Ich dan­ke Maxi­mi­li­an Kiecker für sei­ne Hil­fe bei der Über­set­zung.


 

Bild: pixabay.com

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