Das kritische Potential der Ausnahme für die Post-COVID-19-Normalität

COVID-19 stellt unser sozia­les, poli­ti­sches und wirt­schaft­li­ches Leben auf den Kopf. Zumin­dest zwi­schen­zeit­lich. So nötig und nach­voll­zieh­bar die vom Bun­des­rat ver­ord­ne­ten Ein­schrän­kun­gen sind, so erstaun­lich ist die weit­ge­hend unkri­ti­sche Dis­kus­si­on der Restrik­tio­nen. Lau­fen wir damit Gefahr, dass sich die Ein­schrän­kun­gen in der Post-COVID-19-Ära zur Nor­ma­li­tät mausern?

Aus Spi­tä­lern geklau­tes Des­in­fek­ti­ons­mit­tel, ras­sis­ti­sche Anwand­lun­gen gegen­über Chines*innen und leer­ge­kauf­te Rega­le: In den anek­do­ti­schen Aus­wüch­sen des durch COVID-19 ver­ur­sach­ten Aus­nah­me­zu­stan­des mani­fes­tiert sich, was Gior­gio Agam­ben als nack­tes Leben beti­telt. Dar­in kämpft der auf sei­ne bio­lo­gi­sche Funk­ti­on redu­zier­te Mensch abseits jeg­li­cher poli­ti­schen oder sozia­len Dimen­sio­nen um sein Über­le­ben. So sieht es zumin­dest der Phi­lo­soph selbst. Nach sei­ner Les­art ermög­licht der Aus­nah­me­zu­stand den Regie­run­gen die Ein­schrän­kung der Frei­hei­ten. Und zwar unum­kehr­bar und über die Aus­nah­me hin­aus in die Nor­ma­li­tät hin­ein. Befürch­tet Agam­ben zu Recht, dass der Staat den COVID-19-Aus­nah­me­zu­stand zur nach­hal­ti­gen Ein­schrän­kung der Frei­hei­ten missbraucht?

Die Reduktion der Politik auf den Bundesrat

Dass mit COVID-19 Mass­nah­men ein­her­ge­hen, die tief in die Frei­heits­rech­te ein­grei­fen, ist augen­schein­lich. Der Bun­des­rat ver­fügt über die dazu erfor­der­li­chen Kom­pe­ten­zen, womit das Regie­ren mit­tels Not­recht in der aktu­el­len Kri­se glei­cher­mas­sen not­wen­dig und recht­lich legi­ti­miert ist. Gleich­wohl bedarf es eines Kor­rek­tivs oder zumin­dest einer kri­ti­schen Betrach­tung, um sicher­zu­stel­len, dass mit­tels Not­rechts ver­ord­ne­te Mass­nah­men nicht den neu­en Stan­dard der Rechts­ord­nung setzen.

Die­ses Kor­rek­tiv blieb anfäng­lich weit­ge­hend aus. Kri­tik erfolg­te vor­ab in Form von For­de­run­gen nach zusätz­li­chen Restrik­tio­nen: #Aus­gangs­sper­re­Jetzt #Lock­down­Now. Uni­so­no erin­ner­ten sich die Par­tei­en der Inschrift in der Bun­des­haus­kup­pel und stell­ten sich nach dem Grund­satz «Eine*r für alle, alle für eine*n» hin­ter die Mass­nah­men des Bun­des­ra­tes. Mit­ten in der Früh­jahrs­ses­si­on ver­ab­schie­de­te sich das Par­la­ment ins Home Office und setz­te sei­ne Ple­nums­ar­beit bis zur Son­der­ses­si­on im Mai aus, obschon es auch zum Erlass von Not­ver­ord­nun­gen befä­higt wäre. Damit fehlt den Schweizer*innen wäh­rend des aktu­el­len Aus­nah­me­zu­stan­des das mit­tel­ba­re Instru­ment, um auf den bun­des­rät­lich vor­ge­ge­be­nen Lösungs­an­satz für den Umgang mit COVID-19 zuzu­grei­fen. Oder, um es frei nach Agam­ben aus­zu­drü­cken: Die Schweizer*innen müs­sen den Ver­lust ihrer poli­ti­schen Exis­tenz hinnehmen.

Die Ausnahme von der Freiheit

Die Ein­schrän­kung unse­rer Frei­hei­ten kommt man­nig­fal­tig daher. Ange­sichts der ein­dring­li­chen Auf­for­de­rung zu Hau­se zu blei­ben, ver­kommt die Bewe­gungs­frei­heit zur Far­ce. Besu­che der Fami­lie und von Freund*innen gestal­ten sich als Spiess­ru­ten­lauf, den man als poten­ti­el­ler Viren­herd absol­viert und der rasch in die gesell­schaft­li­che Äch­tung führt. Hin­zu tritt das Ver­samm­lungs­ver­bot für mehr als fünf Per­so­nen. Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, Muse­en und Restau­rants sind geschlos­sen, womit Orte des öffent­li­chen Aus­tau­sches zwi­schen­zeit­lich weg­fal­len. Wie­der­um lei­det dar­un­ter der poli­ti­sche und sozia­le Gestal­tungs­raum der Bevölkerung.

Dass Kri­tik an die­sen teils umfas­sen­den Ein­schrän­kun­gen anfäng­lich aus­blieb, erstaunt aus einer Bürger*innenrechtsperspektive. Nach­voll­zieh­bar ist es den­noch. Nicht nur der Bun­des­rat, son­dern auch ein Gross­teil der Bevöl­ke­rung nimmt die Ver­brei­tung von COVID-19 zu Recht als Not­si­tua­ti­on wahr. Ent­spre­chend wird gut­ge­heis­sen, dass sich der Bun­des­rat zwecks eines effi­zi­en­ten Kri­sen­ma­nage­ments auf sei­ne Not­ver­ord­nungs­kom­pe­tenz beruft. Zumal er aus­führ­lich dar­legt, wes­halb die Mass­nah­men zum Schutz der Bevöl­ke­rung legi­tim sind und er die Parteichef*innen und Kantonsvertreter*innen ins Boot holt.

Die Ausnahme als Einfallstor für ein «Normalitäts-Tuning»?

Sind Abstri­che bei den Frei­heits­rech­ten also hin­zu­neh­men? Kurz­fris­tig und im Fal­le einer «aus­ser­or­dent­li­chen Lage», wie wir sie momen­tan durch­le­ben, lässt sich dies beja­hen. Die Not­ver­ord­nungs­kom­pe­tenz des Bun­des­ra­tes beschreibt nicht die end­gül­ti­ge Abkehr von unse­ren Frei­hei­ten, son­dern die einer Not­si­tua­ti­on geschul­de­te Pflicht, die Gesell­schaft vor den Fol­gen des Virus zu schüt­zen. Agam­bens Befürch­tung beschränkt sich indes nicht nur auf die unmit­tel­ba­re Bewäl­ti­gung des Aus­nah­me­zu­stan­des. Kri­tisch wird es, wenn die in der Aus­nah­me erlas­se­nen Mass­nah­men die Aus­nah­me überdauern.

Dass der Bun­des­rat wie nach dem Zwei­ten Welt­krieg sie­ben Jah­re und zwei Volks­ab­stim­mun­gen brau­chen wird, um das Regie­ren per Not­recht ein­zu­stel­len, ist unwahr­schein­lich. Umso mehr, weil er sich heu­te inner­halb der Ver­fas­sung bewegt und an die­se gebun­den ist. Das von Agam­ben vor­ge­brach­te Argu­ment, wonach der Aus­nah­me­zu­stand die Über­füh­rung von not­ver­ord­ne­ten Mass­nah­men in den Nor­mal­zu­stand begüns­tigt, behält im Kern jedoch sei­ne Gül­tig­keit. So sah sich der Bun­des­rat durch COVID-19 etwa ver­an­lasst, per Ver­ord­nung die gel­ten­den Bestim­mun­gen zu Pau­sen und Ruhe­zei­ten des Pfle­ge­per­so­nals aus­zu­he­beln. Nach der Sis­tie­rung des Arbeits­ge­set­zes für die­sen Bereich wird die in regu­lä­ren Not­si­tua­tio­nen vor­ge­se­he­ne 60-Stun­den-Woche gegen oben geöff­net. Die Ver­drän­gung einer Not­si­tua­ti­on durch eine neue Not­si­tua­ti­on ent­behrt nicht einer gewis­sen Absur­di­tät. Obschon die Sis­tie­rung zeit­lich beschränkt ist, kann sie unter Umstän­den den Boden für die Auf­wei­chung der arbeits­recht­li­chen Bestim­mun­gen in der Post-COVID-19-Ära berei­ten und der bereits zuvor gefor­der­ten «Teil­fle­xi­bi­li­sie­rung» des Arbeits­ge­set­zes Vor­schub leisten.

Der Imperativ des Vorübergehenden

Dem Bun­des­rat vor­zu­wer­fen, den aktu­el­len Aus­nah­me­zu­stand miss­bräuch­lich zur Ein­schrän­kung von Frei­heits­rech­ten aus­zu­nut­zen, greift zu kurz. Ers­tens weil er trotz Not­ver­ord­nungs­kom­pe­tenz an die Ver­fas­sung gebun­den ist. Und zwei­tens, weil der Bun­des­rat kei­ne orb­an­schen Macht­an­sprü­che hegt. Die durch den Bun­des­rat ergrif­fe­nen Mass­nah­men sind nötig und ange­mes­sen. Die­se unter Beru­fung auf ideo­lo­gi­sche Über­le­gun­gen zu «boy­kot­tie­ren oder des­avou­ie­ren» wäre des­halb fehl am Platz. Den­noch soll­te die Gesell­schaft recht­li­che Ein­schrän­kun­gen nicht unkri­tisch hin­neh­men und dar­auf bestehen, dass das Aus­ser­or­dent­li­che nur vor­über­ge­hen­der Natur bleibt. Heu­te hin­zu­schau­en ist not­wen­dig, um die Rechts­ein­schrän­kun­gen wahr­zu­neh­men, ihnen das Eti­kett der Aus­nah­me anzu­hän­gen und sie nach COVID-19 wie­der auszusortieren.

Livia Tomás ist Dok­to­ran­din am Sozio­lo­gi­schen Insti­tut der Uni­ver­si­tät Neu­châ­tel. Sie befasst sich im Rah­men des Natio­na­len For­schungs­schwer­punkts mit Migra­ti­ons- und Mobi­li­täts­plä­nen von Rentner*innen (Trans­na­tio­nal Age­ing and Post-Reti­re­ment Mobi­li­ties). Talin Mari­no absol­vier­te den Mas­ter in «Euro­pean Glo­bal Stu­dies» am Euro­pa­in­sti­tut der Uni­ver­si­tät Basel und befass­te sich aus recht­li­cher und gesell­schafts­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­ti­ve mit Euro­pas glo­ba­ler Vernetzung.


Die­ser Bei­trag erschien zuerst als Blog­bei­trag auf nccr – on the move.


Biblio­gra­phie:

  • Agam­ben, Gior­gio (2016). Homo Sacer: Die sou­ve­rä­ne Macht und das nack­te Leben. [Ori­gi­nal: Homo Sacer: Il pote­re sover­a­no e la nuda vida (1995)]. Frank­furt am Main: Suhr­kamp Verlag.
  • Agam­ben, Gior­gio (2004). Aus­nah­me­zu­stand. [Ori­gi­nal: Sta­to di ecce­zio­ne (2003)]. Frank­furt am Main: Suhr­kamp Verlag.

 

Bild: Par­la­ments­diens­te 3003 Bern

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