Gegenwärtig leben über 760‘000 Schweizer*innen im Ausland. Würden diese Menschen in einem eigenen Kanton leben, wäre es der Viertgrösste der Schweiz. Trotzdem weiss die Wahlforschung bis heute praktisch nichts über sie. Damit handelt es sich um die grösste unerforschte Gruppe Schweizer Wahlberechtigter. Eine neue Studie zeigt nun: Die Wahlbevölkerung im Ausland, die sogenannte „fünfte Schweiz“, ist mit den Wähler*innen in der Schweiz nicht zu vergleichen. Ausserdem treffen sie ihre Entscheide auf andere Art und Weise und stellen damit ein vernachlässigtes Potential für Parteien dar.
Die Gruppe der im Ausland lebenden Bürger*innen wächst weltweit. Angesichts dieser „politischen Globalisierung“ haben zahlreiche Demokratien das Recht an Wahlen teilzunehmen auf ihre im Ausland lebenden Bürger*innen ausgeweitet. Auch die Schweiz kennt das Auslandswahlrecht seit dem Jahr 1992. Während etwa Frankreich oder Italien eigene Wahlkreise für Auslandsbürger*innen gebildet haben, wird in der Schweiz jede Person dem Wahlkreis zugeordnet, in dem sie vor dem Verlassen der Schweiz wahlberechtigt war.
Die Forschung hat sich nur sporadisch mit der Auslandwahl beschäftigt. Um dies zu ändern, haben wir uns in einer kürzlich veröffentlichten Studie in der Zeitschrift Migration Studies den Schweizer Fall genauer angesehen. Basierend auf Daten zu den Nationalratswahlen 2011 verfolgt unsere Studie zwei Ziele: Erstens wollen wir herausfinden, wer die Auslandschweizer*innen sind und wie sie sich von ihren Mitbürger*innenn zu Hause unterscheiden. In einem zweiten Schritt gehen wir der Frage auf den Grund, ob Auslandschweizer*innen andere Entscheidungsstrategien verfolgen.
Auslandschweizer*innen: Wer sind sie?
Abbildung 1 zeigt soziodemografische Merkmale der Wahlbevölkerung in der Schweiz (zweite Spalte) und im Ausland (dritte Spalte). Folgende Unterschiede fallen besonders auf: Wählende im Ausland sind häufiger männlich (+15 Prozentpunkte), eher alleinstehend (+7 Prozentpunkte), tendenziell jünger (-4 Jahre im Durchschnitt), haben ein höheres Bildungsniveau und verordnen sich weiter links auf einer 11-Punkte Links-Rechts Skala (-1.3 Punkte).
Abbildung 1: Soziodemografische Merkmale der Wählenden im Vergleich
Bei Faktoren, die stark mit der Parteiwahl verbunden sind, fallen weitere Unterschiede auf (Abbildung 2): Bei der Religion stellen wir im Ausland eine deutlich höhere Zahl an Konfessionslosen oder Nicht-Christ*innen fest (+23 Prozentpunkte). Speziell die Zahl aktiver Katholik*innen ist dort deutlich geringer (-11 Prozentpunkte) als in der Schweiz selbst. Im Bereich der sozialen Klasse bzw. der beruflichen Tätigkeit zeigen sich ebenfalls Unterschiede: Beispielsweise ist die Zahl der Manager*innen und der im öffentlichen Dienst Angestellten höher im Ausland (+13 Prozentpunkte), genau wie Berufe, welche zum traditionellen Bürgertum gehören und Freiberufler*innen (+8 Prozentpunkte). Bei der Parteienidentifikation zeigt sich eine stärkere Zugehörigkeit zu linken Parteien (SP und Grüne) und eine schwächere zur SVP.
Abbildung 2: Verteilung der Wahldeterminanten
Die Unterschiede bei der Parteizugehörigkeit schlagen sich letztlich auch in der Parteiwahl nieder (Abbildung 3). Speziell die SP und Grüne profitieren von den Auslandstimmen, die anderen Parteien (FDP, CVP und BPD), insbesondere die SVP werden deutlich weniger stark unterstützt. Die Wahlbeteiligung ist im Ausland allerdings auch deutlich tiefer als in der Schweiz. Während nur jede dritte im Ausland wohnhafte Person wählt, war es in der Schweiz fast jede*r zweite Stimmbürger*in.
Abbildung 3: Wahlteilnahme und Wahlentscheid
Auslandschweizer*innen: Wie entscheiden sie?
Wenden wir uns nun der Frage zu, wie Religion, soziale Klasse, Parteizugehörigkeit und Problemlösungskompetenz die Parteiwahl bestimmen und ob deren Effekte im In- und Ausland vergleichbar sind. Mit Hilfe des Lambdaindex (siehe Infobox) können wir die Bedeutung der einzelnen Merkmale vergleichen (Abbildung 4). Dabei gilt: Je höher der Wert, desto wichtiger ist der jeweilige Faktor für den Wahlentscheid. Neben einem Wert für in der Schweiz wohnhafte Wähler*innen, zeigt die Grafik zwei Werte für Auslandwählende an. Der erste basiert auf der tatsächlichen Verteilung im Ausland (z.B. weniger aktive Katholiken). Der zweite Wert gewichtet die einzelnen Merkmale so, dass beispielsweise gleichviele Katholiken in den beiden Gruppen (In- und Ausland) vertreten sind. Dadurch können wir bestimmen, ob Unterschiede aufgrund der verschiedenen Gruppenzusammensetzungen entstehen oder ob es sich um Verhaltensunterschiede zwischen den im In- und Ausland Wählenden handelt.
Abbildung 4: Wichtigkeit der einzelnen Faktoren für die Parteiwahl
Die Resultate zeigen eine relativ gesehen höhere Bedeutung der Religions- und Klassenzugehörigkeit für die Parteiwahl im Ausland. Die Parteiidentifikation schlägt sich bei den Wählenden im Ausland weniger auf ihren Entscheid nieder. Insgesamt spielt die Parteiidentifikation jedoch für beide Wählerschaften eine wichtigere Rolle als die Religion und soziale Klasse. Für die zugeschriebene Problemlösungskompetenz erhalten wir ähnliche Lambdawerte im In- und Ausland.
Die Ähnlichkeit der beiden Werte für Auslandschweizer*innen lässt darauf schliessen, dass die unterschiedlichen Wahlmuster (zwischen In- und Auslandwählenden) aufgrund von echten Verhaltensdifferenzen bestehen und nicht aufgrund unterschiedlicher Gruppenzusammensetzungen. So ist die Religion im Ausland für die Wahl wichtiger als im Inland und zwar nicht wegen der höheren Konzentration von Konfessionslosen, sondern weil allgemein religiöse Gruppen homogener je eine Partei unterstützen. Es ist daher die Motivation eine Partei zu wählen, die sich dem signifikanten Unterschied der Wählenden in- und ausserhalb der Schweizer Landesgrenzen annimmt, wohingegen die unterschiedliche Zusammensetzung der Wählerschaften praktisch keine Rolle spielt. Diese Verhaltensunterschiede könnten Parteien mittels speziell auf Auslandschweizer*innen ausgerichtete Kampagnen nutzen. Doch wie die Forschung scheinen auch die Parteien bis jetzt nur wenig an den Auslandschweizer*innen interessiert zu sein.
Der zur Analyse verwendete Lambdaindex (Lachat 2007a, b) berechnet die Homogenität der Parteiwahl von (sozialen) Gruppen (basierend auf multinominal logistischen Regressionen). Je geschlossener die jeweiligen Gruppen für je eine Partei wählen, desto höhere Werte erreicht der Lambdaindex (0 bis max. 0.5), was wiederum einer höheren Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit für die Parteiwahl entspricht.
Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von Goldberg, Andreas C. und Lanz, Simon (2019). “Living abroad, voting as if at home? Electoral motivations of expatriates.” Migration Studies (early view).
Referenzen:
- FORS. (2012) Swiss Electoral Studies (Selects) 2011: Swiss Abroad: Befragung der Wählerinnen und Wähler nach den Wahlen – 2011. Lausanne: Selects – FORS.
- Lachat, R. (2007a) A Heterogeneous Electorate. Political Sophistication, Predisposition Strength, and the Voting Decision Process. Baden-Baden: Nomos.
- Lachat, R. (2007b) Measuring Cleavage Strength. University of Montreal. Department of Political Science.
Bild: © Auslandschweizer-Organisation / Adrian Moser