Abnehmende Konkordanz – zunehmender Konflikt? Konfliktivität bei Parlamentsabstimmungen

Pola­ri­sie­rung, Glo­ba­li­sie­rung, Media­ti­sie­rung und Per­so­na­li­sie­rung sind Pro­zes­se, die für vie­le Demo­kra­tien neue Her­aus­for­de­run­gen schaf­fen und die Poli­tik in jüngs­ter Zeit prä­gen. Auch in der Schweiz haben sie seit den 1990er-Jah­ren Spu­ren hin­ter­las­sen und ste­hen im Ruf, die für das poli­ti­sche Sys­tem der Schweiz so zen­tra­le Kon­kor­danz zu gefähr­den. Wie steht es also um die Kon­kor­danz beim Schwei­zer Gesetz­ge­ber, der Bun­des­ver­samm­lung? Wird die Kon­kor­danz im Par­la­ment noch gelebt, wer­den noch breit akzep­tier­te Lösun­gen gefun­den oder sind die Kon­flik­te zuneh­mend unüberwindbar?

 

Wird es im Par­la­ment schwie­ri­ger, umfas­sen­de, breit abge­stütz­te Kom­pro­mis­se zu fin­den, deu­tet das dar­auf hin, dass die Kon­kor­danz unter Druck steht, und zwar inso­fern, als die Akteu­re weni­ger gewillt sind, auch ande­ren als ihren eige­nen Inter­es­sen zum Durch­bruch zu ver­hel­fen. Flies­sen in die Ent­schei­dun­gen weni­ger ver­schie­de­ne Inter­es­sen ein, ist die inhalt­li­che Kon­kor­danz gerin­ger. Unter­stüt­zen weni­ger Akteu­re die gefun­de­ne Lösung, ist die arith­me­ti­sche Kon­kor­danz gerin­ger. Im Par­la­ment wäre die Kon­kor­danz in die­sem Sin­ne also maxi­mal, wenn es ein­stim­mig ent­schei­det – und hier kommt die Kon­flik­ti­vi­tät ins Spiel: Gewis­ser­mas­sen im Gegen­teil zu «Kon­sens» oder «Einig­keit» misst Kon­flik­ti­vi­tät die Stär­ke des vor­lie­gen­den Kon­flikts. Damit dient sie letzt­lich als Indi­ka­tor dafür, wel­chen Stel­len­wert die Kon­kor­danz in der par­la­men­ta­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung hat.

Verschiedene Einflussfaktoren auf die Konfliktivität

Das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Umfeld, in dem die par­la­men­ta­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung statt­fin­det, wird seit den 1990er-Jah­ren zuneh­mend von Glo­ba­li­sie­rung, Pola­ri­sie­rung, Media­ti­sie­rung und Per­so­na­li­sie­rung – kurz­um von «ver­stärk­ten Kon­kur­renz­be­din­gun­gen» (Vat­ter 2008: 37) geprägt. Wäh­rend die Glo­ba­li­sie­rung neue Kon­flik­te zwi­schen ihren Gewin­nern und Ver­lie­rern schafft, bezie­hen die (Pol-)Parteien ent­lang die­ser neu­en Kon­flikt­li­nie Stel­lung und drif­ten so ideo­lo­gisch wei­ter aus­ein­an­der. Die grös­se­ren Distan­zen und tie­fe­ren Grä­ben sind schwie­ri­ger zu über­win­den, was die Kom­pro­miss­fin­dung – nicht nur, aber auch im Par­la­ment – erschwert. Eine stär­ke­re Media­ti­sie­rung setzt für Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker zudem neue Anrei­ze, sich in einer Wei­se zu äus­sern oder zu ver­hal­ten, die den Medi­en mög­lichst «berich­tens­wert» erscheint, um von der Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­men zu wer­den. Unter die­sem ver­stärk­ten Pro­fi­lie­rungs­druck ver­drän­gen ein­fa­che, kla­re Aus­sa­gen und prä­gnan­te State­ments aus­schwei­fen­de Argu­men­ta­tio­nen und das Abwä­gen ver­schie­de­ner Posi­tio­nen. Kom­pro­mis­se wer­den weni­ger popu­lär und offe­ne Kon­flik­te umso wahrscheinlicher.

Im poli­ti­schen Sys­tem der Schweiz wird das offe­ne Aus­tra­gen von Kon­flik­ten jedoch durch insti­tu­tio­nel­le Kon­kor­danz­zwän­ge gebremst. Kom­pro­mis­se sind im Par­la­ment u.a. des­halb an der Tages­ord­nung, weil einem für eine gros­se Grup­pe unbe­frie­di­gen­den Gesetz das Schei­tern am Refe­ren­dum droht. Qua­si vor­beu­gend wird in vie­len Fäl­len eine Ver­nehm­las­sung durch­ge­führt, die Kon­flik­te schon ganz zu Beginn des Gesetz­ge­bungs­ver­fah­rens aus­räu­men soll. Auch dem Stän­de­rat wird eine «mode­rie­ren­de Rol­le» (Büti­ko­fer und Hug 2010: 176) im Gesetz­ge­bungs­pro­zess zuge­schrie­ben, da er sich einer­seits durch qua­li­ta­tiv hoch­ste­hen­de Debat­ten aus­zeich­ne und damit «will­kür­li­che und unüber­leg­te Ent­schei­de» (Vat­ter 2016: 344) ver­hin­de­re. Ande­rer­seits sind im Stän­de­rat eher ideo­lo­gisch gemäs­sig­te Per­sön­lich­kei­ten ver­tre­ten. Dem­ge­gen­über soll­ten Volks­in­itia­ti­ven theo­re­tisch die Kon­flik­ti­vi­tät ver­stär­ken, da sie ein Instru­ment zur Ver­tre­tung von Par­ti­ku­lär­in­ter­es­sen sind und eben kei­ne Kom­pro­mis­se beinhal­ten. Zudem ist zu erwar­ten, dass die Kon­flik­ti­vi­tät umso höher ist, je grös­ser die Sitz­zahl der bei­den heu­ti­gen Pol­par­tei­en SP und SVP ist, da es vor allem die­se bei­den Par­tei­en sind, die soge­nann­te «fall­wei­se Oppo­si­ti­on» (Lin­der 2012: 273) betrei­ben und damit immer wie­der aus der Kon­kor­danz ausscheren.

Daten und Vorgehensweise
Für die­se Ana­ly­se wur­de die Kon­flik­ti­vi­tät für alle Schluss­ab­stim­mun­gen zu refe­ren­dums­pflich­ti­gen Geschäf­ten und Volks­in­itia­ti­ven von 1975 bis 2018 berech­net.[1] Es liegt ein Daten­satz von Acker­mann und Bühl­mann (2013) zugrun­de, der 1353 natio­nal­rät­li­che und 1222 stän­de­rät­li­che Schluss­ab­stim­mun­gen umfasst. Die Schluss­ab­stim­mun­gen eig­nen sich beson­ders gut, um Rück­schlüs­se auf die Kon­kor­danz zu zie­hen, weil sie nicht die Zer­strit­ten­heit in ein­zel­nen Detail­fra­gen abbil­den, son­dern zei­gen, wie breit die am Ende gefun­de­ne Lösung mit­ge­tra­gen wird.

Die Kon­flik­ti­vi­tät bil­det die Stär­ke eines Kon­flik­tes ab und wird in die­sem Bei­trag über das Ver­hält­nis von Ja- zu Nein-Stim­men gemes­sen. So liegt bei einem ein­stim­mi­gen Abstim­mungs­er­geb­nis (Ent­hal­tun­gen wer­den nicht berück­sich­tigt) gar kein Kon­flikt vor, wäh­rend die Kon­flik­ti­vi­tät dann am gröss­ten ist, wenn es genau gleich vie­le Ja- wie Nein-Stim­men gege­ben hat. Der Wert kommt immer zwi­schen 0 und 1 zu lie­gen. Neben einer deskrip­ti­ven Aus­wer­tung wur­den auch linea­re Regres­si­ons­mo­del­le für die Ein­fluss­fak­to­ren auf die Kon­flik­ti­vi­tät geschätzt.

Konfliktivität nimmt im Nationalrat zu

Abbil­dung 1 zeigt, dass die durch­schnitt­li­che Kon­flik­ti­vi­tät bei Schluss­ab­stim­mun­gen zu refe­ren­dums­pflich­ti­gen Geschäf­ten und Volks­in­itia­ti­ven im Natio­nal­rat über die Zeit deut­lich ansteigt. Vom Anfang bis zum Ende des Unter­su­chungs­zeit­raums hat sich die durch­schnitt­li­che Kon­flik­ti­vi­tät im Natio­nal­rat mehr als ver­drei­facht. Im Stän­de­rat bleibt sie hin­ge­gen lang­fris­tig auf dem tie­fen Niveau, wo sich auch der Natio­nal­rat in den 1970er-Jah­ren noch befand. Hier­in bestä­ti­gen sich gleich zwei der theo­re­ti­schen Annah­men: Ers­tens geht die par­la­men­ta­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung 2018 deut­lich weni­ger kon­stant von­stat­ten als noch in den 1970er-Jah­ren, zwei­tens macht der Stän­de­rat die­se Ent­wick­lung aber nicht mit.

Abbildung 1: Durchschnittliche Konfliktivität bei Schlussabstimmungen zu referendumspflichtigen Geschäften und Volksinitiativen in den eidgenössischen Räten

Die Kon­flik­ti­vi­tät wird zudem von der Art des Refe­ren­dums beein­flusst, dem ein Geschäft unter­steht. Von den drei Kate­go­rien Volks­in­itia­ti­ve, obli­ga­to­ri­sches Refe­ren­dum und fakul­ta­ti­ves Refe­ren­dum sind Volks­in­itia­ti­ven bei par­la­men­ta­ri­schen Schluss­ab­stim­mun­gen klar am kon­flikt­träch­tigs­ten. Schluss­ab­stim­mun­gen zu Geschäf­ten, die dem fakul­ta­ti­ven Refe­ren­dum unter­ste­hen, sind am wenigs­ten kon­flik­tiv; das obli­ga­to­ri­sche Refe­ren­dum plat­ziert sich dazwi­schen. Nicht bestä­tigt hat sich hin­ge­gen der kon­flikt­hem­men­de Effekt des Ver­nehm­las­sungs­ver­fah­rens. Die Sitz­zahl der SP steht eben­falls in kei­nem Zusam­men­hang mit der Kon­flik­ti­vi­tät. Kon­flik­te sind aber in bei­den Räten umso stär­ker, je höher die Sitz­zahl der SVP ist.

Konkordanz unter Druck, aber nicht verschwunden

Die zuneh­men­de Kon­flik­ti­vi­tät im Natio­nal­rat geht nicht zuletzt mit der Erstar­kung der SVP ein­her. Dass gera­de Schluss­ab­stim­mun­gen immer kon­flik­ti­ver wer­den, zeugt davon, dass im Natio­nal­rat heu­te weni­ger Kom­pro­miss­be­reit­schaft vor­han­den ist als noch in den 1970er-Jah­ren und dass der Kon­kor­danz dort heu­te weni­ger Bedeu­tung bei­gemes­sen wird. Gleich­zei­tig wir­ken jedoch der Stän­de­rat und das Refe­ren­dum als Kon­kor­danz­zwän­ge. Obgleich die Kon­kor­danz stär­ker unter Druck gerät, ist sie nicht aus der par­la­men­ta­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung ver­schwun­den, son­dern passt sichan die sich ändern­den Rah­men­be­din­gun­gen an. Ob dies im All­ge­mei­nen eine posi­ti­ve oder nega­ti­ve Ent­wick­lung ist, kann und will die­ser Bei­trag nicht beant­wor­ten, denn Kon­kor­danz ist aus demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Sicht durch­aus ein zwei­schnei­di­ges Schwert. Wäh­rend die zuneh­men­de Kon­flik­ti­vi­tät die Suche nach einer mög­lichst breit akzep­tier­ten Lösung erschwert, kann sie hand­kehrum aber auch bedeu­ten, dass Kon­flik­te nicht mög­lichst ver­steckt, son­dern offe­ner und inklu­si­ver aus­ge­tra­gen werden.


[1] Die Daten für den Stän­de­rat lie­gen nur von 1979 bis 2005 vor.


Refe­renz:

Frick, Karin (2019). Abneh­men­de Kon­kor­danz – zuneh­men­der Kon­flikt? Kon­flik­ti­vi­tät bei Par­la­ments­ab­stim­mun­gen. In: Kon­kor­danz im Par­la­ment. Zürich: NZZ Libro, Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft in der Schweiz“.

Biblio­gra­phie:

  • Acker­mann, Nad­ja und Marc Bühl­mann (2013). Daten­satz: Erlas­se – Abstim­mun­gen –Ver­nehm­las­sun­gen (1975 bis 2005). Bern: Année Poli­tique Suisse.
  • Büti­ko­fer, Sarah und Simon Hug (2010). The Swiss Upper House: ‹Chambre de Réfle­xi­on› or Con­ser­va­ti­ve Rene­ga­des? The Jour­nal of Legis­la­ti­ve Stu­dies 16(2): 176–94.
  • Lin­der, Wolf (2012). Schwei­ze­ri­sche Demo­kra­tie: Insti­tu­tio­nen, Pro­zes­se, Per­spek­ti­ven. Bern: Haupt.
  • Vat­ter, Adri­an (2008). Vom Extrem­typ zum Nor­mal­fall? Die schwei­ze­ri­sche Kon­sen­sus­de­mo­kra­tie im Wan­del: Eine Re-Ana­ly­se von Lij­pharts Stu­die für die Schweiz von 1997 bis 2007. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 14(1): 1–47.
  • Vat­ter, Adri­an (2016). Das poli­ti­sche Sys­tem der Schweiz. Baden-Baden: Nomos.

Bild: rawpixel.com

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