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Abnehmende Konkordanz – zunehmender Konflikt? Konfliktivität bei Parlamentsabstimmungen

Karin Frick
2nd Dezember 2019

Polarisierung, Globalisierung, Mediatisierung und Personalisierung sind Prozesse, die für viele Demokratien neue Herausforderungen schaffen und die Politik in jüngster Zeit prägen. Auch in der Schweiz haben sie seit den 1990er-Jahren Spuren hinterlassen und stehen im Ruf, die für das politische System der Schweiz so zentrale Konkordanz zu gefährden. Wie steht es also um die Konkordanz beim Schweizer Gesetzgeber, der Bundesversammlung? Wird die Konkordanz im Parlament noch gelebt, werden noch breit akzeptierte Lösungen gefunden oder sind die Konflikte zunehmend unüberwindbar?

 

Wird es im Parlament schwieriger, umfassende, breit abgestützte Kompromisse zu finden, deutet das darauf hin, dass die Konkordanz unter Druck steht, und zwar insofern, als die Akteure weniger gewillt sind, auch anderen als ihren eigenen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. Fliessen in die Entscheidungen weniger verschiedene Interessen ein, ist die inhaltliche Konkordanz geringer. Unterstützen weniger Akteure die gefundene Lösung, ist die arithmetische Konkordanz geringer. Im Parlament wäre die Konkordanz in diesem Sinne also maximal, wenn es einstimmig entscheidet – und hier kommt die Konfliktivität ins Spiel: Gewissermassen im Gegenteil zu «Konsens» oder «Einigkeit» misst Konfliktivität die Stärke des vorliegenden Konflikts. Damit dient sie letztlich als Indikator dafür, welchen Stellenwert die Konkordanz in der parlamentarischen Auseinandersetzung hat.

Verschiedene Einflussfaktoren auf die Konfliktivität

Das politische und gesellschaftliche Umfeld, in dem die parlamentarische Auseinandersetzung stattfindet, wird seit den 1990er-Jahren zunehmend von Globalisierung, Polarisierung, Mediatisierung und Personalisierung – kurzum von «verstärkten Konkurrenzbedingungen» (Vatter 2008: 37) geprägt. Während die Globalisierung neue Konflikte zwischen ihren Gewinnern und Verlierern schafft, beziehen die (Pol-)Parteien entlang dieser neuen Konfliktlinie Stellung und driften so ideologisch weiter auseinander. Die grösseren Distanzen und tieferen Gräben sind schwieriger zu überwinden, was die Kompromissfindung – nicht nur, aber auch im Parlament – erschwert. Eine stärkere Mediatisierung setzt für Politikerinnen und Politiker zudem neue Anreize, sich in einer Weise zu äussern oder zu verhalten, die den Medien möglichst «berichtenswert» erscheint, um von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Unter diesem verstärkten Profilierungsdruck verdrängen einfache, klare Aussagen und prägnante Statements ausschweifende Argumentationen und das Abwägen verschiedener Positionen. Kompromisse werden weniger populär und offene Konflikte umso wahrscheinlicher.

Im politischen System der Schweiz wird das offene Austragen von Konflikten jedoch durch institutionelle Konkordanzzwänge gebremst. Kompromisse sind im Parlament u.a. deshalb an der Tagesordnung, weil einem für eine grosse Gruppe unbefriedigenden Gesetz das Scheitern am Referendum droht. Quasi vorbeugend wird in vielen Fällen eine Vernehmlassung durchgeführt, die Konflikte schon ganz zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens ausräumen soll. Auch dem Ständerat wird eine «moderierende Rolle» (Bütikofer und Hug 2010: 176) im Gesetzgebungsprozess zugeschrieben, da er sich einerseits durch qualitativ hochstehende Debatten auszeichne und damit «willkürliche und unüberlegte Entscheide» (Vatter 2016: 344) verhindere. Andererseits sind im Ständerat eher ideologisch gemässigte Persönlichkeiten vertreten. Demgegenüber sollten Volksinitiativen theoretisch die Konfliktivität verstärken, da sie ein Instrument zur Vertretung von Partikulärinteressen sind und eben keine Kompromisse beinhalten. Zudem ist zu erwarten, dass die Konfliktivität umso höher ist, je grösser die Sitzzahl der beiden heutigen Polparteien SP und SVP ist, da es vor allem diese beiden Parteien sind, die sogenannte «fallweise Opposition» (Linder 2012: 273) betreiben und damit immer wieder aus der Konkordanz ausscheren.

Daten und Vorgehensweise
Für diese Analyse wurde die Konfliktivität für alle Schlussabstimmungen zu referendumspflichtigen Geschäften und Volksinitiativen von 1975 bis 2018 berechnet.[1] Es liegt ein Datensatz von Ackermann und Bühlmann (2013) zugrunde, der 1353 nationalrätliche und 1222 ständerätliche Schlussabstimmungen umfasst. Die Schlussabstimmungen eignen sich besonders gut, um Rückschlüsse auf die Konkordanz zu ziehen, weil sie nicht die Zerstrittenheit in einzelnen Detailfragen abbilden, sondern zeigen, wie breit die am Ende gefundene Lösung mitgetragen wird.

Die Konfliktivität bildet die Stärke eines Konfliktes ab und wird in diesem Beitrag über das Verhältnis von Ja- zu Nein-Stimmen gemessen. So liegt bei einem einstimmigen Abstimmungsergebnis (Enthaltungen werden nicht berücksichtigt) gar kein Konflikt vor, während die Konfliktivität dann am grössten ist, wenn es genau gleich viele Ja- wie Nein-Stimmen gegeben hat. Der Wert kommt immer zwischen 0 und 1 zu liegen. Neben einer deskriptiven Auswertung wurden auch lineare Regressionsmodelle für die Einflussfaktoren auf die Konfliktivität geschätzt.

Konfliktivität nimmt im Nationalrat zu

Abbildung 1 zeigt, dass die durchschnittliche Konfliktivität bei Schlussabstimmungen zu referendumspflichtigen Geschäften und Volksinitiativen im Nationalrat über die Zeit deutlich ansteigt. Vom Anfang bis zum Ende des Untersuchungszeitraums hat sich die durchschnittliche Konfliktivität im Nationalrat mehr als verdreifacht. Im Ständerat bleibt sie hingegen langfristig auf dem tiefen Niveau, wo sich auch der Nationalrat in den 1970er-Jahren noch befand. Hierin bestätigen sich gleich zwei der theoretischen Annahmen: Erstens geht die parlamentarische Auseinandersetzung 2018 deutlich weniger konstant vonstatten als noch in den 1970er-Jahren, zweitens macht der Ständerat diese Entwicklung aber nicht mit.

Abbildung 1: Durchschnittliche Konfliktivität bei Schlussabstimmungen zu referendumspflichtigen Geschäften und Volksinitiativen in den eidgenössischen Räten

Die Konfliktivität wird zudem von der Art des Referendums beeinflusst, dem ein Geschäft untersteht. Von den drei Kategorien Volksinitiative, obligatorisches Referendum und fakultatives Referendum sind Volksinitiativen bei parlamentarischen Schlussabstimmungen klar am konfliktträchtigsten. Schlussabstimmungen zu Geschäften, die dem fakultativen Referendum unterstehen, sind am wenigsten konfliktiv; das obligatorische Referendum platziert sich dazwischen. Nicht bestätigt hat sich hingegen der konflikthemmende Effekt des Vernehmlassungsverfahrens. Die Sitzzahl der SP steht ebenfalls in keinem Zusammenhang mit der Konfliktivität. Konflikte sind aber in beiden Räten umso stärker, je höher die Sitzzahl der SVP ist.

Konkordanz unter Druck, aber nicht verschwunden

Die zunehmende Konfliktivität im Nationalrat geht nicht zuletzt mit der Erstarkung der SVP einher. Dass gerade Schlussabstimmungen immer konfliktiver werden, zeugt davon, dass im Nationalrat heute weniger Kompromissbereitschaft vorhanden ist als noch in den 1970er-Jahren und dass der Konkordanz dort heute weniger Bedeutung beigemessen wird. Gleichzeitig wirken jedoch der Ständerat und das Referendum als Konkordanzzwänge. Obgleich die Konkordanz stärker unter Druck gerät, ist sie nicht aus der parlamentarischen Auseinandersetzung verschwunden, sondern passt sichan die sich ändernden Rahmenbedingungen an. Ob dies im Allgemeinen eine positive oder negative Entwicklung ist, kann und will dieser Beitrag nicht beantworten, denn Konkordanz ist aus demokratietheoretischer Sicht durchaus ein zweischneidiges Schwert. Während die zunehmende Konfliktivität die Suche nach einer möglichst breit akzeptierten Lösung erschwert, kann sie handkehrum aber auch bedeuten, dass Konflikte nicht möglichst versteckt, sondern offener und inklusiver ausgetragen werden.


[1] Die Daten für den Ständerat liegen nur von 1979 bis 2005 vor.


Referenz:

Frick, Karin (2019). Abnehmende Konkordanz – zunehmender Konflikt? Konfliktivität bei Parlamentsabstimmungen. In: Konkordanz im Parlament. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.

Bibliographie:

  • Ackermann, Nadja und Marc Bühlmann (2013). Datensatz: Erlasse – Abstimmungen –Vernehmlassungen (1975 bis 2005). Bern: Année Politique Suisse.
  • Bütikofer, Sarah und Simon Hug (2010). The Swiss Upper House: ‹Chambre de Réflexion› or Conservative Renegades? The Journal of Legislative Studies 16(2): 176–94.
  • Linder, Wolf (2012). Schweizerische Demokratie: Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern: Haupt.
  • Vatter, Adrian (2008). Vom Extremtyp zum Normalfall? Die schweizerische Konsensusdemokratie im Wandel: Eine Re-Analyse von Lijpharts Studie für die Schweiz von 1997 bis 2007. Swiss Political Science Review 14(1): 1–47.
  • Vatter, Adrian (2016). Das politische System der Schweiz. Baden-Baden: Nomos.

Bild: rawpixel.com