Konkordanz im Parlament – Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz

«Kon­kor­danz» ist ein schil­lern­der Begriff, der ins­be­son­de­re bei Bun­des­rats­wah­len media­le Hoch­kon­junk­tur hat. In der Regel spre­chen sich dann alle Par­tei­en für Kon­kor­danz aus, wenn auch aus ganz unter­schied­li­chen Grün­den und mit unter­schied­li­chen Argu­men­ten. Den­noch scheint man sich – nicht nur in der media­len Öffent­lich­keit, son­dern gröss­ten­teils auch in der Poli­tik­wis­sen­schaft – einig zu sein, dass sich die Kon­kor­danz in der Kri­se befin­de. Doch lässt sich die­ser Befund auch empi­risch bele­gen? Die­ser Fra­ge wid­met sich das neue Buch «Kon­kor­danz im Par­la­ment», indem es den Blick auf die Legis­la­ti­ve rich­tet und die Funk­ti­ons­wei­se der par­la­men­ta­ri­schen Ent­schei­dungs­fin­dung aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln beleuchtet. 

Konkordanz

Kon­kor­danz gilt als zen­tra­les Ele­ment der Kon­sens­de­mo­kra­tie, die im Gegen­satz zur Mehr­heits­de­mo­kra­tie ver­sucht, mög­lichst vie­le Inter­es­sen in einen poli­ti­schen Ent­scheid ein­zu­bin­den. Ziel von Kon­kor­danz ist eine mög­lichst ein­ver­nehm­li­che Lösung, die von allen wich­ti­gen Kräf­ten mit­ge­tra­gen wird. Dabei stel­len sich die Fra­gen, was unter «wich­ti­gen Kräf­ten», unter «ein­ver­nehm­li­chen Lösun­gen» und unter «Ein­bin­dung» ver­stan­den wer­den soll und ob die Schweiz die­se Zie­le heu­te noch erreicht.

Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen las­sen sich – so die Idee des Buchs – durch eine Betrach­tung des par­la­men­ta­ri­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­ses fin­den. In der Schweiz wird der Begriff «Kon­kor­danz» häu­fig nur mit dem Bun­des­rat in Ver­bin­dung gebracht, aber es ist eben­so­sehr das Par­la­ment, das unter­schied­li­che Inter­es­sen ein­bin­det, Kom­pro­mis­se oder Kon­sens­lö­sun­gen schmie­det und Ent­schei­dun­gen fällt, die mehr oder weni­ger ein­ver­nehm­lich sein können.

Herausgeforderte Konkordanz

Da sich eine all­fäl­li­ge Kri­se der Kon­kor­danz nur mit­tels Beob­ach­tung eines län­ge­ren Zeit­raums ding­fest machen lässt, ver­fol­gen alle Buch­bei­trä­ge eine Lang­fris­t­per­spek­ti­ve. Dabei muss sich Kon­kor­danz – ver­stan­den als Kul­tur der Ein­bin­dung, der Kom­pro­miss­schmie­de und Kon­sens­fin­dung – in den letz­ten Jahr­zehn­ten ins­be­son­de­re drei Her­aus­for­de­run­gen stellen:

Ers­tens führt die zuneh­men­de Indi­vi­dua­li­sie­rung einer­seits zu einer Diver­si­fi­ka­ti­on von Inter­es­sen und poli­tisch rele­van­ten Akteu­ren und ande­rer­seits zu einer erhöh­ten Vola­ti­li­tät der Wäh­len­den. Dies kann die kon­kor­dan­te Lösungs­su­che schwie­ri­ger machen, aber auch Spiel­raum für neue und varia­ble­re Koali­ti­ons­bil­dun­gen schaffen.

Zwei­tens sieht sich das poli­ti­sche Sys­tem einer zuneh­men­den Pola­ri­sie­rung aus­ge­setzt. Der ver­schärf­te Wett­be­werb um Stim­men setzt zen­tri­fu­ga­le Kräf­te frei und lässt Par­tei­en, die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler an den Rän­dern des poli­ti­schen Spek­trums suchen, aus­ein­an­der­drif­ten. Poli­ti­sches Ent­ge­gen­kom­men wird unter sol­chen Vor­zei­chen nicht mehr als Kom­pro­miss­be­reit­schaft gedeu­tet, son­dern als Schwä­che oder gar als Wen­de­hals­po­li­tik ver­un­glimpft. Par­tei­en ver­su­chen zudem, in sich mög­lichst geschlos­sen auf­zu­tre­ten. Gelingt ihnen dies, dürf­te dies die gemein­sa­me Lösungs­fin­dung erschwe­ren und die poli­ti­sche Kon­flik­ti­vi­tät erhö­hen. Denk­bar ist aber auch, dass eine deut­li­che Posi­tio­nie­rung je nach poli­ti­schem The­men­feld durch­aus unter­schied­li­che und immer wie­der neue Koali­tio­nen ermöglicht.

Drit­tens hat ver­mut­lich auch die zuneh­men­de Media­ti­sie­rung der Poli­tik eine Wir­kung auf Kon­kor­danz. Die Medi­en­lo­gik, die auf mög­lichst hohe Rezep­ti­on zielt, arbei­tet zuneh­mend mit Per­so­na­li­sie­rung und Skan­da­li­sie­rung. Par­tei­en, Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die auf media­le Auf­merk­sam­keit ange­wie­sen sind, nut­zen folg­lich ent­spre­chen­de Tak­ti­ken. Kon­kor­dan­tes Ver­hal­ten bringt ihnen jedoch gerin­ges Pro­fi­lie­rungs­po­ten­zi­al. Es scheint medi­en­wirk­sa­mer zu sein, eine har­te Posi­ti­on zu ver­tre­ten, da kom­pro­miss­be­rei­tes Ver­hal­ten kaum Schlag­zei­len macht.

Konkordanz in der Krise?

Die ver­schie­de­nen Bei­trä­ge unter­su­chen, wie und ob sich Kon­kor­danz in den letz­ten Jahr­zehn­ten auf­grund die­ser Her­aus­for­de­run­gen tat­säch­lich ver­än­dert hat. Dabei wird in einem ers­ten Teil gefragt, wel­che «wich­ti­gen Kräf­te» ein­ge­bun­den wer­den und auf wel­che Wei­se. Fünf Bei­trä­ge legen hier nahe, dass es Gren­zen der Kon­kor­danz gibt. Min­der­hei­ten wer­den nicht ein­fach auto­ma­tisch ein­ge­bun­den, son­dern müs­sen sich den Mehr­heits­ge­pflo­gen­hei­ten anpas­sen und eine kri­ti­sche Mas­se haben, um selbst die Vor­tei­le der Kon­kor­danz nut­zen zu kön­nen. Dies dient durch­aus auch einem gewis­sen Effi­zi­enz­ge­dan­ken. Was sich in die­sen Ana­ly­sen aber nicht zeigt, ist eine dies­be­züg­li­che Ver­än­de­rung über die Zeit. Kon­kor­dan­te Inklu­si­on hat also in den letz­ten Jahr­zehn­ten nicht abgenommen.

Wie ist das hin­sicht­lich des zwei­ten Ele­ments der Kon­kor­danz, näm­lich der Bereit­schaft zur gemein­sa­men Kom­pro­miss­su­che? Häu­fig wird ver­mu­tet, dass sich der Poli­tik­stil in den letz­ten Jah­ren ver­än­dert hat und fast nie­mand mehr bereit ist, zuguns­ten einer kon­sen­su­el­len Lösung über den eige­nen ideo­lo­gi­schen Schat­ten zu sprin­gen. Fünf wei­te­re Bei­trä­ge geben auch zu die­sem Aspekt der Kon­kor­danz eher Anlass zu Gelas­sen­heit. Frei­lich zei­gen sich Unter­schie­de in der Kom­pro­miss­be­reit­schaft etwa zwi­schen Natio­nal­rat und Stän­de­rat – die Mit­glie­der des Letz­te­ren schrei­ben Koope­ra­ti­on oft grös­ser als die­je­ni­gen der gros­sen Kam­mer. Zudem ist die Suche nach ein­ver­nehm­li­chen Lösun­gen stark vom The­ma abhän­gig. Es gibt The­men, bei denen die roten Lini­en für ein­zel­ne Par­tei­en wich­ti­ger sind. Hier ist es natur­ge­mäss schwie­ri­ger, Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen. Ins­ge­samt fin­den sich aber auch hier kei­ne Trends über die Zeit. Auch die Bereit­schaft zur Koope­ra­ti­on erweist sich in allen unter­such­ten Berei­chen ins­ge­samt als ziem­lich stabil.

Blei­ben die Ent­schei­dun­gen selbst. Die letz­ten bei­den Buch­bei­trä­ge unter­su­chen, ob Abstim­mungs­ent­schei­de im Par­la­ment immer häu­fi­ger nur noch von sehr knap­pen und nicht mehr von kon­kor­dant-über­gros­sen Mehr­hei­ten gefällt wer­den. In der Tat schei­nen Abstim­mun­gen umstrit­te­ner zu wer­den – auch und ins­be­son­de­re, weil eine pro­non­cier­te Zunah­me der Frak­ti­ons­dis­zi­plin und eine immer schär­fer abge­grenz­te Par­tei­po­si­tio­nie­rung kaum mehr Über­lap­pun­gen zwi­schen den Par­tei­en zulas­sen. Aller­dings muss die­ser Befund in zwei­er­lei Hin­sicht nuan­ciert wer­den. Ers­tens wer­den Par­la­ments­ab­stim­mun­gen auch heu­te noch in aller Regel von über­gros­sen Mehr­hei­ten ent­schie­den. Im Ver­gleich zu den 1980er Jah­ren kommt es zwar sel­te­ner zu Ein­stim­mig­keit, aber auch heu­te begnügt man sich nicht ein­fach mit der Schaf­fung einer knap­pen Mehr­heit. Zwei­tens hängt der Befund vom betrach­te­ten Zeit­raum ab: Der Kon­flikt­grad heu­te ist zwar höher als noch vor 40 Jah­ren, aber seit 2003 ist kei­ne wei­te­re Ent­wick­lung hin zu knap­pe­ren Abstim­mun­gen mehr festzustellen.

Konkordanz im Wandel

Für den Befund einer Kri­se der Kon­kor­danz geben die ver­schie­de­nen Bei­trä­ge also kaum Anlass. Viel­mehr zeich­nen sie das Bild einer ziem­lich gros­sen Sta­bi­li­tät der ver­schie­de­nen unter­such­ten Ele­men­te von Konkordanz.

Die Fra­ge bleibt, wes­halb dies in der Öffent­lich­keit anders wahr­ge­nom­men wird. Ein Grund könn­te im Umstand lie­gen, dass aus medi­en­lo­gi­schen Über­le­gun­gen eben vor allem jene The­men her­aus­ge­pickt wer­den, in denen es zu Emo­tio­nen, Unei­nig­keit und Streit kommt. Obwohl es Kon­flik­te immer schon gege­ben hat, wer­den die­se heu­te des­halb womög­lich stär­ker wahr­ge­nom­men als die nach wie vor weit­aus zahl­rei­che­ren Kom­pro­mis­se. Indi­vi­dua­li­sie­rung, Media­ti­sie­rung und Pola­ri­sie­rung füh­ren durch­aus zu Ver­än­de­run­gen bei der Zusam­men­ar­beit im Par­la­ment, aber das muss nicht das Ende der Kon­kor­danz bedeu­ten. Das zeigt sich etwa bei der Pola­ri­sie­rung: Die Pro­fi­lie­rung der Par­tei­en ver­hin­dert zwar ein­stim­mi­ge Kon­sens­lö­sun­gen, dank einer Mul­ti­po­la­ri­tät wer­den aber neue Koali­tio­nen mög­lich. Das führt dazu, dass die meis­ten Ent­schei­de nach wie vor von über­gros­sen Mehr­hei­ten gefällt wer­den. Dass sich die­se Mehr­hei­ten immer wie­der anders zusam­men­set­zen und nicht immer die­sel­ben (Pol-)Parteien zur Min­der­heit gehö­ren, kann durch­aus auch als Gewinn für die Demo­kra­tie gese­hen wer­den. Kei­ne Fra­ge: Die Kon­kor­danz bleibt auch in Zukunft her­aus­ge­for­dert. In eine Kri­se muss sie aber auch wei­ter­hin nicht gera­ten, wenn die poli­ti­schen Akteu­re für neue Wege und For­men der Koope­ra­ti­on offenbleiben.


Refe­renz:

Bühl­mann, Marc, Anja Hei­del­ber­ger und Hans-Peter Schaub (2019). Kon­kor­danz im Par­la­ment. Ent­schei­dungs­fin­dung zwi­schen Koope­ra­ti­on und Kon­kur­renz. Zürich: NZZ

Bild: Par­la­ments­diens­te 3003 Bern

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