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Konkordanz im Parlament – Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz

Marc Bühlmann, Anja Heidelberger, Hans-Peter Schaub
18th November 2019

«Konkordanz» ist ein schillernder Begriff, der insbesondere bei Bundesratswahlen mediale Hochkonjunktur hat. In der Regel sprechen sich dann alle Parteien für Konkordanz aus, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Argumenten. Dennoch scheint man sich – nicht nur in der medialen Öffentlichkeit, sondern grösstenteils auch in der Politikwissenschaft – einig zu sein, dass sich die Konkordanz in der Krise befinde. Doch lässt sich dieser Befund auch empirisch belegen? Dieser Frage widmet sich das neue Buch «Konkordanz im Parlament», indem es den Blick auf die Legislative richtet und die Funktionsweise der parlamentarischen Entscheidungsfindung aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.

Konkordanz

Konkordanz gilt als zentrales Element der Konsensdemokratie, die im Gegensatz zur Mehrheitsdemokratie versucht, möglichst viele Interessen in einen politischen Entscheid einzubinden. Ziel von Konkordanz ist eine möglichst einvernehmliche Lösung, die von allen wichtigen Kräften mitgetragen wird. Dabei stellen sich die Fragen, was unter «wichtigen Kräften», unter «einvernehmlichen Lösungen» und unter «Einbindung» verstanden werden soll und ob die Schweiz diese Ziele heute noch erreicht.

Antworten auf diese Fragen lassen sich – so die Idee des Buchs – durch eine Betrachtung des parlamentarischen Entscheidungsprozesses finden. In der Schweiz wird der Begriff «Konkordanz» häufig nur mit dem Bundesrat in Verbindung gebracht, aber es ist ebensosehr das Parlament, das unterschiedliche Interessen einbindet, Kompromisse oder Konsenslösungen schmiedet und Entscheidungen fällt, die mehr oder weniger einvernehmlich sein können.

Herausgeforderte Konkordanz

Da sich eine allfällige Krise der Konkordanz nur mittels Beobachtung eines längeren Zeitraums dingfest machen lässt, verfolgen alle Buchbeiträge eine Langfristperspektive. Dabei muss sich Konkordanz – verstanden als Kultur der Einbindung, der Kompromissschmiede und Konsensfindung – in den letzten Jahrzehnten insbesondere drei Herausforderungen stellen:

Erstens führt die zunehmende Individualisierung einerseits zu einer Diversifikation von Interessen und politisch relevanten Akteuren und andererseits zu einer erhöhten Volatilität der Wählenden. Dies kann die konkordante Lösungssuche schwieriger machen, aber auch Spielraum für neue und variablere Koalitionsbildungen schaffen.

Zweitens sieht sich das politische System einer zunehmenden Polarisierung ausgesetzt. Der verschärfte Wettbewerb um Stimmen setzt zentrifugale Kräfte frei und lässt Parteien, die Wählerinnen und Wähler an den Rändern des politischen Spektrums suchen, auseinanderdriften. Politisches Entgegenkommen wird unter solchen Vorzeichen nicht mehr als Kompromissbereitschaft gedeutet, sondern als Schwäche oder gar als Wendehalspolitik verunglimpft. Parteien versuchen zudem, in sich möglichst geschlossen aufzutreten. Gelingt ihnen dies, dürfte dies die gemeinsame Lösungsfindung erschweren und die politische Konfliktivität erhöhen. Denkbar ist aber auch, dass eine deutliche Positionierung je nach politischem Themenfeld durchaus unterschiedliche und immer wieder neue Koalitionen ermöglicht.

Drittens hat vermutlich auch die zunehmende Mediatisierung der Politik eine Wirkung auf Konkordanz. Die Medienlogik, die auf möglichst hohe Rezeption zielt, arbeitet zunehmend mit Personalisierung und Skandalisierung. Parteien, Politikerinnen und Politiker, die auf mediale Aufmerksamkeit angewiesen sind, nutzen folglich entsprechende Taktiken. Konkordantes Verhalten bringt ihnen jedoch geringes Profilierungspotenzial. Es scheint medienwirksamer zu sein, eine harte Position zu vertreten, da kompromissbereites Verhalten kaum Schlagzeilen macht.

Konkordanz in der Krise?

Die verschiedenen Beiträge untersuchen, wie und ob sich Konkordanz in den letzten Jahrzehnten aufgrund dieser Herausforderungen tatsächlich verändert hat. Dabei wird in einem ersten Teil gefragt, welche «wichtigen Kräfte» eingebunden werden und auf welche Weise. Fünf Beiträge legen hier nahe, dass es Grenzen der Konkordanz gibt. Minderheiten werden nicht einfach automatisch eingebunden, sondern müssen sich den Mehrheitsgepflogenheiten anpassen und eine kritische Masse haben, um selbst die Vorteile der Konkordanz nutzen zu können. Dies dient durchaus auch einem gewissen Effizienzgedanken. Was sich in diesen Analysen aber nicht zeigt, ist eine diesbezügliche Veränderung über die Zeit. Konkordante Inklusion hat also in den letzten Jahrzehnten nicht abgenommen.

Wie ist das hinsichtlich des zweiten Elements der Konkordanz, nämlich der Bereitschaft zur gemeinsamen Kompromisssuche? Häufig wird vermutet, dass sich der Politikstil in den letzten Jahren verändert hat und fast niemand mehr bereit ist, zugunsten einer konsensuellen Lösung über den eigenen ideologischen Schatten zu springen. Fünf weitere Beiträge geben auch zu diesem Aspekt der Konkordanz eher Anlass zu Gelassenheit. Freilich zeigen sich Unterschiede in der Kompromissbereitschaft etwa zwischen Nationalrat und Ständerat – die Mitglieder des Letzteren schreiben Kooperation oft grösser als diejenigen der grossen Kammer. Zudem ist die Suche nach einvernehmlichen Lösungen stark vom Thema abhängig. Es gibt Themen, bei denen die roten Linien für einzelne Parteien wichtiger sind. Hier ist es naturgemäss schwieriger, Kompromisse einzugehen. Insgesamt finden sich aber auch hier keine Trends über die Zeit. Auch die Bereitschaft zur Kooperation erweist sich in allen untersuchten Bereichen insgesamt als ziemlich stabil.

Bleiben die Entscheidungen selbst. Die letzten beiden Buchbeiträge untersuchen, ob Abstimmungsentscheide im Parlament immer häufiger nur noch von sehr knappen und nicht mehr von konkordant-übergrossen Mehrheiten gefällt werden. In der Tat scheinen Abstimmungen umstrittener zu werden – auch und insbesondere, weil eine prononcierte Zunahme der Fraktionsdisziplin und eine immer schärfer abgegrenzte Parteipositionierung kaum mehr Überlappungen zwischen den Parteien zulassen. Allerdings muss dieser Befund in zweierlei Hinsicht nuanciert werden. Erstens werden Parlamentsabstimmungen auch heute noch in aller Regel von übergrossen Mehrheiten entschieden. Im Vergleich zu den 1980er Jahren kommt es zwar seltener zu Einstimmigkeit, aber auch heute begnügt man sich nicht einfach mit der Schaffung einer knappen Mehrheit. Zweitens hängt der Befund vom betrachteten Zeitraum ab: Der Konfliktgrad heute ist zwar höher als noch vor 40 Jahren, aber seit 2003 ist keine weitere Entwicklung hin zu knapperen Abstimmungen mehr festzustellen.

Konkordanz im Wandel

Für den Befund einer Krise der Konkordanz geben die verschiedenen Beiträge also kaum Anlass. Vielmehr zeichnen sie das Bild einer ziemlich grossen Stabilität der verschiedenen untersuchten Elemente von Konkordanz.

Die Frage bleibt, weshalb dies in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen wird. Ein Grund könnte im Umstand liegen, dass aus medienlogischen Überlegungen eben vor allem jene Themen herausgepickt werden, in denen es zu Emotionen, Uneinigkeit und Streit kommt. Obwohl es Konflikte immer schon gegeben hat, werden diese heute deshalb womöglich stärker wahrgenommen als die nach wie vor weitaus zahlreicheren Kompromisse. Individualisierung, Mediatisierung und Polarisierung führen durchaus zu Veränderungen bei der Zusammenarbeit im Parlament, aber das muss nicht das Ende der Konkordanz bedeuten. Das zeigt sich etwa bei der Polarisierung: Die Profilierung der Parteien verhindert zwar einstimmige Konsenslösungen, dank einer Multipolarität werden aber neue Koalitionen möglich. Das führt dazu, dass die meisten Entscheide nach wie vor von übergrossen Mehrheiten gefällt werden. Dass sich diese Mehrheiten immer wieder anders zusammensetzen und nicht immer dieselben (Pol-)Parteien zur Minderheit gehören, kann durchaus auch als Gewinn für die Demokratie gesehen werden. Keine Frage: Die Konkordanz bleibt auch in Zukunft herausgefordert. In eine Krise muss sie aber auch weiterhin nicht geraten, wenn die politischen Akteure für neue Wege und Formen der Kooperation offenbleiben.


Referenz:

Bühlmann, Marc, Anja Heidelberger und Hans-Peter Schaub (2019). Konkordanz im Parlament. Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz. Zürich: NZZ

Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern