Wie Wirtschaftskrisen unseren Zusammenhalt gefährden

Die Finanz­kri­se hat die euro­päi­sche Staa­ten­ge­mein­schaft auf­ge­wir­belt. Vie­le Leu­te sind in finan­zi­el­le Schwie­rig­kei­ten gera­ten, was nicht ohne Kon­se­quen­zen für den sozia­len Zusam­men­halt bleibt. In einer ver­glei­chen­den euro­päi­schen Stu­die zei­gen wir, dass finan­zi­el­le Not­la­gen das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment ero­die­ren las­sen, sich aber auch Sil­ber­strei­fen am Hori­zont zeigen.

Seit gerau­mer Zeit wird in der For­schung dis­ku­tiert, ob Wirt­schafts­kri­sen den Zusam­men­halt einer Gesell­schaft gefähr­den kön­nen. Eini­ge wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en haben argu­men­tiert, dass finan­zi­el­le Not­la­gen die dafür not­wen­di­gen Res­sour­cen aus­höh­len und den sozia­len Kitt durch­lö­chern. Ande­re Ana­ly­sen haben dage­gen gezeigt, dass die Bevöl­ke­rung gera­de in finan­zi­ell schwie­ri­gen Zei­ten zusammensteht.

Offen­bar ist der Zusam­men­hang zwi­schen einer finan­zi­el­len Not­la­ge und dem sozia­len Mit­ein­an­der kom­ple­xer als dies bis­he­ri­ge Stu­di­en ange­nom­men haben. Aus die­sem Grund haben wir in einer empi­risch ver­glei­chen­den Stu­die das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment in 27 euro­päi­schen Staa­ten ana­ly­siert und nach Erklä­rungs­fak­to­ren gesucht.

Finanzielle Notlagen untergraben das freiwillige Engagement

Frei­wil­li­ge­n­en­ga­ge­ment meint, dass Bür­ge­rin­nen und Bür­ger aus frei­en Stü­cken und weit­ge­hend unbe­zahlt Zeit, Geld und Ener­gie auf­brin­gen, sich für ande­re Men­schen und Orga­ni­sa­tio­nen ein­zu­set­zen und einen Bei­trag zum gesell­schaft­li­chen Sozi­al­ka­pi­tal zu leis­ten. Doch war­um gefähr­den finan­zi­el­le Nöte frei­wil­li­ge Tätig­kei­ten? Das soge­nann­te «vol­un­ta­rism model» argu­men­tiert, dass Bür­ge­rin­nen und Bür­ger  auf­grund begrenz­ter Res­sour­cen wie Zeit, Geld und Fähig­kei­ten weni­ger häu­fig einem frei­wil­li­gen Enga­ge­ment nach­ge­hen (Ver­ba et al. 1995).

In wirt­schaft­lich schwie­ri­gen Zei­ten füh­len sich Men­schen finan­zi­ell unsi­che­rer. Zum Schutz ihres Arbeits­plat­zes arbei­ten sie här­ter, was zu Las­ten ihres gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ments geht (Lim und Lau­rence 2015: 322). Abbil­dung 1 zeigt den Zusam­men­hang zwi­schen der wirt­schaft­li­chen Not­la­ge und dem frei­wil­li­gen Enga­ge­ment für die unter­such­ten Län­der. Aller­dings sind davon nicht alle frei­wil­li­gen Tätig­kei­ten glei­cher­mas­sen betrof­fen. Wäh­rend ins­be­son­de­re das Enga­ge­ment in Frei­zeit­or­ga­ni­sa­ti­on (Sport‑, Kul­tur­ver­ei­ne) nach­lässt, blei­ben die frei­wil­li­gen Tätig­kei­ten in Ver­bän­den, die ihren Mit­glie­dern öko­no­mi­sche Vor­tei­le ver­spre­chen, in wirt­schaft­lich schwie­ri­gen Zei­ten unbe­rührt (Gewerk­schaf­ten, Berufs­ver­bän­de etc.).

Abbildung 1: Der Zusammenhang zwischen finanzieller Notlage und freiwilligem Engagement in Europa

Anmer­kun­gen: Die Abbil­dung zeigt die aggre­gier­ten Niveaus der finan­zi­el­len Not­la­ge und der Frei­wil­li­gen­tä­tig­keit in Euro­pa, wobei bei­de Varia­blen dicho­to­mi­siert wurden.

Lesebeispiel:Die Gra­fik zeigt, dass sich in den Nie­der­lan­den 18% der Befrag­ten in einer schwie­ri­gen Not­la­ge befin­den und 60% frei­wil­lig tätig sind, wäh­rend in Por­tu­gal 65% der Befrag­ten finan­zi­el­le Pro­ble­me haben und 12% einem frei­wil­li­gen Enga­ge­ment nachgehen.

Bildung vermag finanzielle Notlagen zu kompensieren

Zudem reagie­ren die Men­schen in wirt­schaft­li­che Not­la­gen unter­schied­lich. Ins­be­son­de­re der indi­vi­du­el­le Bil­dungs­grad scheint eine wich­ti­ge Rol­le für die Frei­wil­li­gen­ar­beit zu spie­len, da die­ser das Bewusst­sein für sozia­le Pro­ble­me und für die Bedeu­tung des bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments schärft. Bil­dung belebt die Moti­va­ti­on, sich aus wert­ori­en­tier­ten Grün­den frei­wil­lig zu enga­gie­ren. Obwohl auch gut aus­ge­bil­de­te Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in finan­zi­el­le Schwie­rig­kei­ten gera­ten könn­ten, wol­len sie sich wei­ter frei­wil­lig enga­gie­ren, weil sie durch gemein­wohl­ori­en­tier­te Nor­men wie auch altru­is­ti­sche Moti­ve und nicht durch Erwar­tun­gen zukünf­ti­ger Beloh­nun­gen mobi­li­siert wer­den (Abbil­dung 2).

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen finanzieller Notlage und freiwilligem Engagement

Anmer­kun­gen: Die Abbil­dung zeigt die durch­schnitt­li­chen mar­gi­na­len Aus­wir­kun­gen wirt­schaft­li­cher Här­te­fäl­le mit 95 Pro­zent Kon­fi­denz­in­ter­vall für ein tie­fes und hohes Bildungsniveau.

Lese­bei­spiel: Die Gra­fik zeigt, dass sich die finan­zi­el­le Not­la­ge bei tie­fen Bil­dungs­grup­pen nega­tiv auf die Wahr­schein­lich­keit aus­wirkt, sich frei­wil­lig zu enga­gie­ren, wäh­rend der Effekt bei hohen Bil­dungs­grup­pen umge­kehrt ver­läuft und Men­schen in finan­zi­el­ler Not­la­ge eher frei­wil­lig tätig sind (Effekt nicht signifikant).

Bildung ist unerlässlich für die Gewinnung von Sozialkapital

Die Dyna­mik der wirt­schaft­li­chen Res­sour­cen und des Human­ka­pi­tals sind ent­schei­dend für das Ver­ständ­nis der Ent­wick­lung von Frei­wil­li­gen­ar­beit wäh­rend finan­zi­el­ler Kri­sen. In die­ser Hin­sicht dürf­ten sowohl das Wirt­schafts- als auch das Human­ka­pi­tal glei­cher­mas­sen inein­an­der­grei­fen­de Aus­wir­kun­gen auf ande­re Berei­che der Gesell­schaft haben. Unse­re Ergeb­nis­se legen hier­bei offen­sicht­li­che Kon­se­quen­zen für das Sozi­al­ge­fü­ge dar: Frei­wil­li­ge reagie­ren auf wirt­schaft­li­che Schwie­rig­kei­ten anfäl­li­ger, wenn ihnen das Human­ka­pi­tal fehlt.

Mit ande­ren Wor­ten: Inves­ti­tio­nen in das Bil­dungs­sys­tem soll­ten sich für ein Land lang­fris­tig loh­nen, um in wirt­schaft­lich schwie­ri­gen Zei­ten das Gleich­ge­wicht des sozia­len Mit­ein­an­ders zu erhal­ten. Die­se Nach­richt ver­dient eine beson­de­re Erwäh­nung, da auch der Bil­dungs­sek­tor in wirt­schaft­lich schwie­ri­gen Zei­ten oft­mals Federn las­sen muss.

Sozi­al­ka­pi­tal
Sozi­al­ka­pi­tal beschreibt den Wert sozia­ler Bezie­hun­gen. Die­ser zeigt sich bei­spiels­wei­se im Enga­ge­ment in Ver­ei­nen, in der unbe­zahl­ten Arbeit für die Gemein­schaft, bei Hil­fe­leis­tun­gen im sozia­len Umfeld von Fami­lie, Freun­den, Kol­le­gen und Nach­barn als auch anhand des Ver­trau­ens in das Gegen­über, die Unter­stüt­zung von Nor­men rezi­pro­ker Hand­lun­gen oder tole­ran­te Ein­stel­lun­gen (Frei­tag 2016). Von die­sem sozia­len Mit­ein­an­der kann das ein­zel­ne Indi­vi­du­um eben­so pro­fi­tie­ren wie gan­ze Gemein­den, Regio­nen oder Natio­nen und damit Erfol­ge in ihren poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung erzielen.

Daten und Methoden
Für die Stu­die wur­den die Umfra­ge­da­ten des Euro­ba­ro­me­ters 75.2 ver­wen­det, der wäh­rend des Höhe­punkts der Finanz­kri­se durch­ge­führt wur­de. Die Daten wur­den anhand einer geschich­te­ten Zufalls­stich­pro­be und mit­tels per­sön­li­cher Inter­views von 26’825 Befrag­ten in 27 euro­päi­schen Län­dern im Jahr 2011 erho­ben. Unse­re dicho­to­me unab­hän­gi­ge Varia­ble bil­det ab, ob Befrag­te am Ende des Monats Pro­ble­me hat­ten, ihre Rech­nun­gen zu beglei­chen ((1=ja); (0=nein)). Der Bil­dungs­grad wird durch das Alters­jahr gemes­sen, in wel­chem die Befrag­ten ihre Haupt­aus­bil­dung abge­schlos­sen haben (0–30). Als abhän­gi­ge Varia­ble ver­wen­den wir eine kate­go­ria­le Varia­ble, wel­che die Häu­fig­keit des frei­wil­li­gen Enga­ge­ments der Befrag­ten erfasst: kein frei­wil­li­ges Enga­ge­ment (1), gele­gent­li­ches frei­wil­li­ges Enga­ge­ment (2) und regel­mäs­si­ges frei­wil­li­ges Enga­ge­ment (3). Wir schät­zen ordi­nal-logis­ti­sche Meh­re­be­nen­mo­del­le, die ver­schie­de­ne Kon­troll­va­ria­blen (z.B. Alter, Geschlecht und sozio-öko­no­mi­scher Sta­tus) berücksichtigen.

Quel­le: Bun­di, Pir­min und Mar­kus Frei­tag (2019). Eco­no­mic Hardship and Social Capi­tal in Euro­pe. A Com­pa­ra­ti­ve Ana­ly­sis of 27 Demo­cra­ci­es. Euro­pean Jour­nal of Poli­ti­cal Rese­arch.

 

Refe­ren­zen:

  • Frei­tag, Mar­kus (2016). Das sozia­le Kapi­tal der Schweiz. Zürich: NZZ Libro.
  • Lim, Chae­y­oon und James Lau­rence (2015). Doing good when times are bad: Vol­un­tee­ring beha­vi­or in eco­no­mic hard­ti­mes. Bri­tish Jour­nal of Socio­lo­gy 66(2): 319–344.
  • Ver­ba, Sid­ney, Schloz­man, Kay Leh­man und Hen­ry E. Bra­dy (1995).Voice and equa­li­ty: Civic vol­un­ta­rism in Ame­ri­can poli­tics. Cam­bridge, MA: Har­vard Uni­ver­si­ty Press.

 

Bild: Flickr

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