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Wie Wirtschaftskrisen unseren Zusammenhalt gefährden

Pirmin Bundi, Markus Freitag
13th November 2019

Die Finanzkrise hat die europäische Staatengemeinschaft aufgewirbelt. Viele Leute sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten, was nicht ohne Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt bleibt. In einer vergleichenden europäischen Studie zeigen wir, dass finanzielle Notlagen das freiwillige Engagement erodieren lassen, sich aber auch Silberstreifen am Horizont zeigen.

Seit geraumer Zeit wird in der Forschung diskutiert, ob Wirtschaftskrisen den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährden können. Einige wissenschaftliche Studien haben argumentiert, dass finanzielle Notlagen die dafür notwendigen Ressourcen aushöhlen und den sozialen Kitt durchlöchern. Andere Analysen haben dagegen gezeigt, dass die Bevölkerung gerade in finanziell schwierigen Zeiten zusammensteht.

Offenbar ist der Zusammenhang zwischen einer finanziellen Notlage und dem sozialen Miteinander komplexer als dies bisherige Studien angenommen haben. Aus diesem Grund haben wir in einer empirisch vergleichenden Studie das freiwillige Engagement in 27 europäischen Staaten analysiert und nach Erklärungsfaktoren gesucht.

Finanzielle Notlagen untergraben das freiwillige Engagement

Freiwilligenengagement meint, dass Bürgerinnen und Bürger aus freien Stücken und weitgehend unbezahlt Zeit, Geld und Energie aufbringen, sich für andere Menschen und Organisationen einzusetzen und einen Beitrag zum gesellschaftlichen Sozialkapital zu leisten. Doch warum gefährden finanzielle Nöte freiwillige Tätigkeiten? Das sogenannte «voluntarism model» argumentiert, dass Bürgerinnen und Bürger  aufgrund begrenzter Ressourcen wie Zeit, Geld und Fähigkeiten weniger häufig einem freiwilligen Engagement nachgehen (Verba et al. 1995).

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten fühlen sich Menschen finanziell unsicherer. Zum Schutz ihres Arbeitsplatzes arbeiten sie härter, was zu Lasten ihres gesellschaftlichen Engagements geht (Lim und Laurence 2015: 322). Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Notlage und dem freiwilligen Engagement für die untersuchten Länder. Allerdings sind davon nicht alle freiwilligen Tätigkeiten gleichermassen betroffen. Während insbesondere das Engagement in Freizeitorganisation (Sport-, Kulturvereine) nachlässt, bleiben die freiwilligen Tätigkeiten in Verbänden, die ihren Mitgliedern ökonomische Vorteile versprechen, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unberührt (Gewerkschaften, Berufsverbände etc.).

Abbildung 1: Der Zusammenhang zwischen finanzieller Notlage und freiwilligem Engagement in Europa

Anmerkungen: Die Abbildung zeigt die aggregierten Niveaus der finanziellen Notlage und der Freiwilligentätigkeit in Europa, wobei beide Variablen dichotomisiert wurden.

Lesebeispiel:Die Grafik zeigt, dass sich in den Niederlanden 18% der Befragten in einer schwierigen Notlage befinden und 60% freiwillig tätig sind, während in Portugal 65% der Befragten finanzielle Probleme haben und 12% einem freiwilligen Engagement nachgehen.

Bildung vermag finanzielle Notlagen zu kompensieren

Zudem reagieren die Menschen in wirtschaftliche Notlagen unterschiedlich. Insbesondere der individuelle Bildungsgrad scheint eine wichtige Rolle für die Freiwilligenarbeit zu spielen, da dieser das Bewusstsein für soziale Probleme und für die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements schärft. Bildung belebt die Motivation, sich aus wertorientierten Gründen freiwillig zu engagieren. Obwohl auch gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger in finanzielle Schwierigkeiten geraten könnten, wollen sie sich weiter freiwillig engagieren, weil sie durch gemeinwohlorientierte Normen wie auch altruistische Motive und nicht durch Erwartungen zukünftiger Belohnungen mobilisiert werden (Abbildung 2).

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen finanzieller Notlage und freiwilligem Engagement

Anmerkungen: Die Abbildung zeigt die durchschnittlichen marginalen Auswirkungen wirtschaftlicher Härtefälle mit 95 Prozent Konfidenzintervall für ein tiefes und hohes Bildungsniveau.

Lesebeispiel: Die Grafik zeigt, dass sich die finanzielle Notlage bei tiefen Bildungsgruppen negativ auf die Wahrscheinlichkeit auswirkt, sich freiwillig zu engagieren, während der Effekt bei hohen Bildungsgruppen umgekehrt verläuft und Menschen in finanzieller Notlage eher freiwillig tätig sind (Effekt nicht signifikant).

Bildung ist unerlässlich für die Gewinnung von Sozialkapital

Die Dynamik der wirtschaftlichen Ressourcen und des Humankapitals sind entscheidend für das Verständnis der Entwicklung von Freiwilligenarbeit während finanzieller Krisen. In dieser Hinsicht dürften sowohl das Wirtschafts- als auch das Humankapital gleichermassen ineinandergreifende Auswirkungen auf andere Bereiche der Gesellschaft haben. Unsere Ergebnisse legen hierbei offensichtliche Konsequenzen für das Sozialgefüge dar: Freiwillige reagieren auf wirtschaftliche Schwierigkeiten anfälliger, wenn ihnen das Humankapital fehlt.

Mit anderen Worten: Investitionen in das Bildungssystem sollten sich für ein Land langfristig lohnen, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten das Gleichgewicht des sozialen Miteinanders zu erhalten. Diese Nachricht verdient eine besondere Erwähnung, da auch der Bildungssektor in wirtschaftlich schwierigen Zeiten oftmals Federn lassen muss.

Sozialkapital
Sozialkapital beschreibt den Wert sozialer Beziehungen. Dieser zeigt sich beispielsweise im Engagement in Vereinen, in der unbezahlten Arbeit für die Gemeinschaft, bei Hilfeleistungen im sozialen Umfeld von Familie, Freunden, Kollegen und Nachbarn als auch anhand des Vertrauens in das Gegenüber, die Unterstützung von Normen reziproker Handlungen oder tolerante Einstellungen (Freitag 2016). Von diesem sozialen Miteinander kann das einzelne Individuum ebenso profitieren wie ganze Gemeinden, Regionen oder Nationen und damit Erfolge in ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung erzielen.

Daten und Methoden
Für die Studie wurden die Umfragedaten des Eurobarometers 75.2 verwendet, der während des Höhepunkts der Finanzkrise durchgeführt wurde. Die Daten wurden anhand einer geschichteten Zufallsstichprobe und mittels persönlicher Interviews von 26'825 Befragten in 27 europäischen Ländern im Jahr 2011 erhoben. Unsere dichotome unabhängige Variable bildet ab, ob Befragte am Ende des Monats Probleme hatten, ihre Rechnungen zu begleichen ((1=ja); (0=nein)). Der Bildungsgrad wird durch das Altersjahr gemessen, in welchem die Befragten ihre Hauptausbildung abgeschlossen haben (0-30). Als abhängige Variable verwenden wir eine kategoriale Variable, welche die Häufigkeit des freiwilligen Engagements der Befragten erfasst: kein freiwilliges Engagement (1), gelegentliches freiwilliges Engagement (2) und regelmässiges freiwilliges Engagement (3). Wir schätzen ordinal-logistische Mehrebenenmodelle, die verschiedene Kontrollvariablen (z.B. Alter, Geschlecht und sozio-ökonomischer Status) berücksichtigen.


Quelle: Bundi, Pirmin und Markus Freitag (2019). Economic Hardship and Social Capital in Europe. A Comparative Analysis of 27 Democracies. European Journal of Political Research.

 

Referenzen:

  • Freitag, Markus (2016). Das soziale Kapital der Schweiz. Zürich: NZZ Libro.
  • Lim, Chaeyoon und James Laurence (2015). Doing good when times are bad: Volunteering behavior in economic hardtimes. British Journal of Sociology 66(2): 319–344.
  • Verba, Sidney, Schlozman, Kay Lehman und Henry E. Brady (1995).Voice and equality: Civic voluntarism in American politics. Cambridge, MA: Harvard University Press.

 

Bild: Flickr