Mangelndes Wohlbefinden als Protestantrieb

För­dert Wohl­be­fin­den die poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on oder beein­flusst die Absicht zu par­ti­zi­pie­ren unser Wohl­be­fin­den? Eine Längs­schnitt­stu­die, die auf einer reprä­sen­ta­ti­ven Stich­pro­be von Haus­hal­ten in der Schweiz basiert, zeigt, dass es das Wohl­be­fin­den ist, das der poli­ti­schen Par­ti­zi­pa­ti­on vor­aus­geht und dass man­geln­des Wohl­be­fin­den die Men­schen zur Teil­nah­me an Pro­test­ak­tio­nen ermutigt.

Meh­re­re Stu­di­en zei­gen, dass Men­schen mit hohem sozio­öko­no­mi­schen Sta­tus mehr am poli­ti­schen Leben teil­neh­men. Auf der ande­ren Sei­te wis­sen wir wenig über die psy­cho­lo­gi­schen Fak­to­ren, die die (Nicht-)Teilnahme erklä­ren. Da die­se so genann­ten “objek­ti­ven” indi­vi­du­el­len Res­sour­cen, die mit dem sozio­öko­no­mi­schen Sta­tus ver­bun­den sind, nicht unbe­dingt das Niveau des indi­vi­du­el­len Wohl­be­fin­dens vor­her­sa­gen, ist es not­wen­dig, das Wohl­be­fin­den als einen unab­hän­gi­gen und zusätz­li­chen Fak­to­ren zu betrach­ten, um das poli­ti­sche Enga­ge­ment der Bür­ger zu erklä­ren. Das Wohl­be­fin­den wird in Umfra­gen oft an einer Lebens­zu­frie­den­heits­ska­la und dem Auf­tre­ten von posi­ti­ven und nega­ti­ven Gefüh­len im täg­li­chen Leben gemes­sen. So kann das Wohl­be­fin­den als psy­cho­lo­gi­sche Res­sour­ce fun­gie­ren, die den Ein­zel­nen dazu anregt, in poli­ti­sche Akti­vi­tä­ten zu inves­tie­ren, da es einen posi­ti­ven Ein­fluss auf die Moti­va­ti­on und ein Gefühl der poli­ti­schen Wirk­sam­keit hat. Letz­te­res beruht ins­be­son­de­re auf dem Ver­trau­en in die Fähig­keit, poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen im eige­nen Land zu beeinflussen.

Malaise macht die Bürger herausfordernder

Macht in die­sem Zusam­men­hang man­geln­des Wohl­be­fin­den die Men­schen poli­tisch apa­thisch? Moti­va­ti­ons­theo­rien legen nahe, dass Ein­zel­per­so­nen, bevor sie gesell­schaft­li­che Zie­le wie poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on ver­fol­gen, ein Gefühl der Selbst­wirk­sam­keit ent­wi­ckeln müs­sen, sprich an ihre per­sön­li­che Fähig­keit zu glau­ben, etwas errei­chen zu kön­nen. Dar­über hin­aus muss jede ein­zel­ne Per­son zuerst ihre lebens­not­wen­di­gen Grund­be­dürf­nis­se erfüllt haben, bevor sie sich poli­tisch betä­ti­gen kann. Man­geln­des Wohl­be­fin­den führt daher zu einem Moti­va­ti­ons­ver­lust und mini­miert das Gefühl der poli­ti­schen Wirk­sam­keit und behin­dert so die poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on in all ihren For­men. Ande­rer­seits kön­nen nega­ti­ve Emo­tio­nen, die aus man­geln­dem Wohl­be­fin­den resul­tie­ren, die Bür­ger zur Teil­nah­me an poli­ti­schen Pro­test­be­we­gun­gen ermu­ti­gen. Unter­su­chun­gen haben gezeigt, dass nega­ti­ve Gefüh­le eine wich­ti­ge Rol­le bei der Vor­her­sa­ge von Pro­test­ak­tio­nen spielen.

Die­se For­schung zielt dar­auf ab, die Aus­wir­kun­gen des Wohl­be­fin­dens auf die poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on anhand von Daten des Schwei­zer Haus­halt-Panels (“Leben in der Schweiz”) zu ver­ste­hen, einer jähr­li­chen Umfra­ge unter in der Schweiz leben­den Pri­vat­haus­hal­ten. Dank des Längs­schnitts­cha­rak­ters der Umfra­ge wird die Ent­wick­lung des Wohl­be­fin­dens und des poli­ti­schen Ver­hal­tens der­sel­ben Per­so­nen über einen Zeit­raum von 20 Jah­ren beobachtet.

Die Ana­ly­se der Daten des Schwei­zer Haus­halt-Panels zeigt, dass sich der zwei­te Trend bestä­tigt: Eine Zunah­me nega­ti­ver Gefüh­le bei Ein­zel­per­so­nen wie Ver­zweif­lung, Angst, Depres­si­on oder das Gefühl der Mut­lo­sig­keit ver­stärkt die Bereit­schaft der Bür­ger zur Teil­nah­me an poli­ti­schen Pro­test­ak­tio­nen (Abb. 1 und 2 unten). Wäh­rend das Aus­mass des Effekts bei der Ana­ly­se indi­vi­du­el­ler Lebens­ver­läu­fe  eher gering ist, ist es den­noch sta­tis­tisch signi­fi­kant für Boy­kott- und Demons­tra­ti­ons­ab­sich­ten. Dar­über hin­aus zei­gen die Daten, dass nega­ti­ve Gefüh­le den Absich­ten zur Teil­nah­me an poli­ti­schen Pro­test­ak­tio­nen vor­aus­ge­hen und nicht umge­kehrt. Indem wir nicht nur den Ver­gleich zwi­schen ein­zel­nen Per­so­nen zie­hen, son­dern die Lebens­ver­läu­fe der ein­zel­nen Per­so­nen ana­ly­sie­ren, kön­nen wir mit gr grös­se­rer empi­ri­scher Sicher­heit sagen, dass nega­ti­ve Gefüh­le den poli­ti­schen Absich­ten vor­aus­ge­hen und sie tat­säch­lich beein­flus­sen, anstatt einen mög­li­chen Effekt in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung. Aller­dings scheint das Wohl­be­fin­den die so genann­te “kon­ven­tio­nel­le” poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on (gemes­sen an der Teil­nah­me an natio­na­len Wah­len) nicht zu erhö­hen, wie eini­ge Stu­di­en zeigen.

Abbildungen 1 und 2: Der Einfluss negativer Gefühle auf die Teilnahmeabsichten

Die Abbil­dung links zeigt die Wir­kung nega­ti­ver Gefüh­le über die gesam­te Ska­la (0–10) der Pro­testab­sich­ten; die Abbil­dung rechts zeigt die Wir­kung mehr im Detail. Daten: Schwei­zer Haus­halt-Panel. 20’253 Beob­ach­tun­gen an 2’735 in der Schweiz leben­den Per­so­nen, die zwi­schen 2000 und 2008 jähr­lich erho­ben wur­den. Die ver­ti­ka­le Ach­se gibt die durch­schnitt­li­che Inten­si­tät der Absich­ten an, an poli­ti­schen Aktio­nen teil­zu­neh­men (“Wenn 0 “nie” und 10 “sicher” bedeu­tet, inwie­weit sind Sie in Zukunft bereit, an einer Demonstration/ einem Boy­kott teil­zu­neh­men)”), durch die Zunah­me nega­ti­ver Emo­tio­nen (“Erle­ben Sie oft nega­ti­ve Gefüh­le wie Ver­zweif­lung, Angst, Depres­si­on, wenn 0 “nie” und 10 “immer” bedeu­tet? ”) (Die hori­zon­ta­le Achse).

Wohlbefinden: ein politisches Thema?

Durch die Unter­su­chung des Ein­flus­ses nega­ti­ver Gefüh­le auf das Pro­test­ver­hal­ten wird das Wohl­be­fin­den, das tra­di­tio­nell als Pri­vat­sa­che betrach­tet wird, auch zu einem öffent­li­chen und poli­ti­schen The­ma. Das Wohl­be­fin­den wird zu einem zusätz­li­chen Fak­tor, der berück­sich­tigt wer­den muss, um das Ent­ste­hen von Pro­tes­ten unter den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern zu ver­ste­hen und zu anti­zi­pie­ren – ins­be­son­de­re für gewähl­te Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die ver­su­chen, Pro­test­be­we­gun­gen zu ver­mei­den, um Refor­men durch­zu­set­zen. Die Teil­nah­me an Wah­len scheint jedoch nicht durch das Wohl­be­fin­den beein­flusst zu wer­den.  Die Aus­rich­tung der Poli­tik auf das Wohl­be­fin­den der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ist daher kei­ne Lösung, um die nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung zu erhö­hen oder dem zuneh­men­den Miss­trau­en der Bevöl­ke­rung gegen­über dem der­zei­ti­gen poli­ti­schen Sys­tem zu begegnen.

20 Jah­re «Leben in der Schweiz»

Die Stu­die „Leben in der Schweiz“ befragt seit 1999 jedes Jahr die­sel­ben Haus­hal­te und Per­so­nen zu The­men wie Fami­li­en- und Erwerbs­ar­beit, Ein­kom­men und Lebens­be­din­gun­gen, Frei­zeit, Gesund­heit, per­sön­li­che Bezie­hun­gen, Ein­stel­lun­gen und Poli­tik. Dadurch ist eine ein­zig­ar­ti­ge Daten­ba­sis ent­stan­den zur Ana­ly­se der Lebens­si­tua­ti­on der Schwei­zer Wohn­be­völ­ke­rung sowie den Ursa­chen und Fol­gen sozia­len Wan­dels in der Schweiz.

Die Stu­die „Leben in der Schweiz“ wird vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds zur För­de­rung der wis­sen­schaft­li­chen For­schung finan­ziert und von FORS, dem Schwei­zer Kom­pe­tenz­zen­trum Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, ange­sie­delt an der Uni­ver­si­tät Lau­sanne, durch­ge­führt. Die Daten ste­hen For­schen­den kos­ten­los zur Ver­fü­gung. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen zur Stu­die (auch „Schwei­zer Haus­halt-Panel“ genannt) fin­den Sie auf der Web­sei­te.


Bild: rawpixel.com

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