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Mangelndes Wohlbefinden als Protestantrieb

Annika Lindholm
12th November 2019

Fördert Wohlbefinden die politische Partizipation oder beeinflusst die Absicht zu partizipieren unser Wohlbefinden? Eine Längsschnittstudie, die auf einer repräsentativen Stichprobe von Haushalten in der Schweiz basiert, zeigt, dass es das Wohlbefinden ist, das der politischen Partizipation vorausgeht und dass mangelndes Wohlbefinden die Menschen zur Teilnahme an Protestaktionen ermutigt.

Mehrere Studien zeigen, dass Menschen mit hohem sozioökonomischen Status mehr am politischen Leben teilnehmen. Auf der anderen Seite wissen wir wenig über die psychologischen Faktoren, die die (Nicht-)Teilnahme erklären. Da diese so genannten “objektiven” individuellen Ressourcen, die mit dem sozioökonomischen Status verbunden sind, nicht unbedingt das Niveau des individuellen Wohlbefindens vorhersagen, ist es notwendig, das Wohlbefinden als einen unabhängigen und zusätzlichen Faktoren zu betrachten, um das politische Engagement der Bürger zu erklären. Das Wohlbefinden wird in Umfragen oft an einer Lebenszufriedenheitsskala und dem Auftreten von positiven und negativen Gefühlen im täglichen Leben gemessen. So kann das Wohlbefinden als psychologische Ressource fungieren, die den Einzelnen dazu anregt, in politische Aktivitäten zu investieren, da es einen positiven Einfluss auf die Motivation und ein Gefühl der politischen Wirksamkeit hat. Letzteres beruht insbesondere auf dem Vertrauen in die Fähigkeit, politische Entscheidungen im eigenen Land zu beeinflussen.

Malaise macht die Bürger herausfordernder

Macht in diesem Zusammenhang mangelndes Wohlbefinden die Menschen politisch apathisch? Motivationstheorien legen nahe, dass Einzelpersonen, bevor sie gesellschaftliche Ziele wie politische Partizipation verfolgen, ein Gefühl der Selbstwirksamkeit entwickeln müssen, sprich an ihre persönliche Fähigkeit zu glauben, etwas erreichen zu können. Darüber hinaus muss jede einzelne Person zuerst ihre lebensnotwendigen Grundbedürfnisse erfüllt haben, bevor sie sich politisch betätigen kann. Mangelndes Wohlbefinden führt daher zu einem Motivationsverlust und minimiert das Gefühl der politischen Wirksamkeit und behindert so die politische Partizipation in all ihren Formen. Andererseits können negative Emotionen, die aus mangelndem Wohlbefinden resultieren, die Bürger zur Teilnahme an politischen Protestbewegungen ermutigen. Untersuchungen haben gezeigt, dass negative Gefühle eine wichtige Rolle bei der Vorhersage von Protestaktionen spielen.

Diese Forschung zielt darauf ab, die Auswirkungen des Wohlbefindens auf die politische Partizipation anhand von Daten des Schweizer Haushalt-Panels ("Leben in der Schweiz") zu verstehen, einer jährlichen Umfrage unter in der Schweiz lebenden Privathaushalten. Dank des Längsschnittscharakters der Umfrage wird die Entwicklung des Wohlbefindens und des politischen Verhaltens derselben Personen über einen Zeitraum von 20 Jahren beobachtet.

Die Analyse der Daten des Schweizer Haushalt-Panels zeigt, dass sich der zweite Trend bestätigt: Eine Zunahme negativer Gefühle bei Einzelpersonen wie Verzweiflung, Angst, Depression oder das Gefühl der Mutlosigkeit verstärkt die Bereitschaft der Bürger zur Teilnahme an politischen Protestaktionen (Abb. 1 und 2 unten). Während das Ausmass des Effekts bei der Analyse individueller Lebensverläufe  eher gering ist, ist es dennoch statistisch signifikant für Boykott- und Demonstrationsabsichten. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass negative Gefühle den Absichten zur Teilnahme an politischen Protestaktionen vorausgehen und nicht umgekehrt. Indem wir nicht nur den Vergleich zwischen einzelnen Personen ziehen, sondern die Lebensverläufe der einzelnen Personen analysieren, können wir mit gr grösserer empirischer Sicherheit sagen, dass negative Gefühle den politischen Absichten vorausgehen und sie tatsächlich beeinflussen, anstatt einen möglichen Effekt in die entgegengesetzte Richtung. Allerdings scheint das Wohlbefinden die so genannte “konventionelle” politische Partizipation (gemessen an der Teilnahme an nationalen Wahlen) nicht zu erhöhen, wie einige Studien zeigen.

Abbildungen 1 und 2: Der Einfluss negativer Gefühle auf die Teilnahmeabsichten

Die Abbildung links zeigt die Wirkung negativer Gefühle über die gesamte Skala (0–10) der Protestabsichten; die Abbildung rechts zeigt die Wirkung mehr im Detail. Daten: Schweizer Haushalt-Panel. 20'253 Beobachtungen an 2'735 in der Schweiz lebenden Personen, die zwischen 2000 und 2008 jährlich erhoben wurden. Die vertikale Achse gibt die durchschnittliche Intensität der Absichten an, an politischen Aktionen teilzunehmen ("Wenn 0 "nie" und 10 "sicher" bedeutet, inwieweit sind Sie in Zukunft bereit, an einer Demonstration/ einem Boykott teilzunehmen)"), durch die Zunahme negativer Emotionen ("Erleben Sie oft negative Gefühle wie Verzweiflung, Angst, Depression, wenn 0 "nie" und 10 "immer" bedeutet? ") (Die horizontale Achse).

Wohlbefinden: ein politisches Thema?

Durch die Untersuchung des Einflusses negativer Gefühle auf das Protestverhalten wird das Wohlbefinden, das traditionell als Privatsache betrachtet wird, auch zu einem öffentlichen und politischen Thema. Das Wohlbefinden wird zu einem zusätzlichen Faktor, der berücksichtigt werden muss, um das Entstehen von Protesten unter den Bürgerinnen und Bürgern zu verstehen und zu antizipieren – insbesondere für gewählte Politikerinnen und Politiker, die versuchen, Protestbewegungen zu vermeiden, um Reformen durchzusetzen. Die Teilnahme an Wahlen scheint jedoch nicht durch das Wohlbefinden beeinflusst zu werden.  Die Ausrichtung der Politik auf das Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger ist daher keine Lösung, um die niedrige Wahlbeteiligung zu erhöhen oder dem zunehmenden Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem derzeitigen politischen System zu begegnen.

20 Jahre «Leben in der Schweiz»

Die Studie „Leben in der Schweiz“ befragt seit 1999 jedes Jahr dieselben Haushalte und Personen zu Themen wie Familien- und Erwerbsarbeit, Einkommen und Lebensbedingungen, Freizeit, Gesundheit, persönliche Beziehungen, Einstellungen und Politik. Dadurch ist eine einzigartige Datenbasis entstanden zur Analyse der Lebenssituation der Schweizer Wohnbevölkerung sowie den Ursachen und Folgen sozialen Wandels in der Schweiz.

Die Studie „Leben in der Schweiz“ wird vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert und von FORS, dem Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften, angesiedelt an der Universität Lausanne, durchgeführt. Die Daten stehen Forschenden kostenlos zur Verfügung. Weitere Informationen zur Studie (auch „Schweizer Haushalt-Panel“ genannt) finden Sie auf der Webseite.


Bild: rawpixel.com