Die sozio-professionelle Zusammensetzung des Nationalrats 2019–2023

Im neu­en Par­la­ment ist vor allem der Natio­nal­rat anders zusam­men­ge­setzt als in der vor­he­ri­gen Legis­la­tur. 61 neu gewähl­te Mit­glie­der wer­den im Dezem­ber 2019 ihren Platz ein­neh­men, das ent­spricht 30,5 Pro­zent aller Sit­ze im Natio­nal­rat. Dass die Erneue­rungs­ra­te so hoch ist, kann auf zwei Grün­de zurück­ge­führt wer­den: Zum einen tra­ten 30 Per­so­nen nicht mehr zur Wahl an und zum ande­ren wur­den 31 Bis­he­ri­ge nicht wie­der gewählt. Die Nicht­wie­der­wahl­quo­te betrug somit 18 Pro­zent und war die höchs­te seit 1999. 

Ver­si­on française

Stark gestiegener Frauenanteil

Nach den natio­na­len Wahle vom 20. Okto­ber 2019 kam es zu einer deut­li­chen Femi­ni­sie­rung des Natio­nal­ra­tes. Tat­säch­lich stieg der Anteil der gewähl­ten Frau­en von 33 Pro­zent im Jahr 2015 auf 42 Pro­zent im Jahr 2019. Damit bewegt sich der Natio­nal­rat in Rich­tung Geschlech­ter­pa­ri­tät (Abbil­dung 1).

Abbildung 1: Frauen- und Männeranteil im Nationalrat (2015 und 2019)

Betrach­tet man die neu­ge­wähl­ten Vertreter*innen, so stellt man fest, dass die­se Femi­ni­sie­rung des Natio­nal­ra­tes alle Haupt­par­tei­en betrifft: Alle par­tei­po­li­ti­schen Dele­ga­tio­nen, mit Aus­nah­me der CVP, haben unter ihren neu gewähl­ten Vertreter*innen eine Balan­ce (SVP, GLP, SP) oder eine Mehr­heit von Frau­en (Grü­ne und FDP) (Abbil­dung 2).

In abso­lu­ten Zah­len ist es jedoch der Wahl­er­folg der Grü­nen, der am meis­ten zur Femi­ni­sie­rung des Natio­nal­ra­tes bei­steu­ert. Von den 32 neu­en Par­la­ments­mit­glie­der sind zehn grü­ne Frau­en, zudem je 5 von der SP und der GLP, je 4 von der FDP, 3 von der SVP, 2 von der CVP und je eine Per­son von der Ensem­ble à Gau­che, BDP und EVP).

Abbildung 2: Anteil der neugewählten Frauen nach Parteien (2019)

Nach die­sen Wah­len sind die Par­tei­de­le­ga­tio­nen mit dem höchs­ten Frau­en­an­teil im neu­en Natio­nal­rat daher die Mit­te-Links-For­ma­tio­nen. So beträgt der Frau­en­an­teil bei der SP  62 Pro­zent, bei den Grü­nen 61 Pro­zent und 50 Pro­zent bei der GLP. Die ande­ren Frak­tio­nen haben kei­ne Geschlech­ter­pa­ri­tät: 34 Pro­zent der gewähl­ten Vertreter*innen der FDP sind Frau­en, bei der CVP sind es 32 Pro­zent und bei der SVP 25 Pro­zent (Abbil­dung 3).

Abbildung 3: Frauenanteil bezüglich Parteizugehörigkeit im Nationalrat (2019)

Leichte Akademisierung

Wäh­rend die Zahl der Akademiker*innen im Natio­nal­rat seit den 90er-Jah­ren auf­grund des Erfolgs der SVP ste­tig zurück­ge­gan­gen ist, steigt erst­mals der Anteil der Mandatsträger*innen mit Hoch­schul­ab­schluss. Der Natio­nal­rat wird aka­de­mi­scher, da 61Prozent der gewähl­ten Amtsträger*innen einen Hoch­schul­ab­schluss haben (nach den Wah­len 2015 betrug der Anteil der Akademiker*innen 57 Pro­zent, sie­he Abbil­dung 4). Über die lan­ge Frist betrach­tet, bleibt der Aka­de­mi­sie­rungs­grad aber tie­fer als 1980, als­dem  Natio­nal­rat 67 Pro­zent Hochschulabsolvent*innen angehörten.

Die aktu­el­le Zunah­me der Akademiker*innen erklärt sich dadurch, dass unter den Neu­ge­wähl­ten 66 Pro­zent einen Hoch­schul­ab­schluss haben. In Bezug auf die Par­tei­en ist die­ser Trend bei der GLP am aus­ge­präg­tes­ten, da von den zehn Neu­ge­wähl­ten neun einen Uni­ver­si­täts­ab­schluss haben; aber auch bei der der CVP, der SP und den Grü­nen hat die Mehr­heit der Neu­ge­wähl­ten einen Hoch­schul­ab­schluss (CVP: 83 Pro­zent, SP: 80 Pro­zent, Grü­ne: 71 Pro­zent, sie­he Abbil­dung 5). Die­ser Trend ist auf der rech­ten Sei­te weni­ger aus­ge­prägt, bei der SVP sind von den sechs neu­en Mit­glie­der zwei Akademiker*innen; vier der sie­ben neu­en Par­la­ments­mit­glie­der der FDP ver­fü­gen eben­falls über einen Universitätsabschluss.

Abbildung 4: Anteil der gewählten Mitglieder des Nationalrates mit akademischem Titel (2015 und 2019)

Abbildung 5: Anteil der gewählten Mitglieder des Nationalrates mit akademischem Titel nach Parteien (2019)

Die Frak­ti­on mit dem höchs­ten Aka­de­mi­ker­an­teil im neu­en Natio­nal­rat ist die GLP, bei der 88 Pro­zent der Gewähl­ten Akademiker*innen sind; dicht gefolgt von den Grü­nen und der SP mit je 79 Pro­zent Akademiker*innen. Dar­auf folgt die CVP mit 72 Pro­zent und die FDP mit 59 Pro­zent; nur inner­halb der SVP-Frak­ti­on sind die Hochschulabsolvent*innen mit 34 Pro­zent eine Min­der­heit (Abbil­dung 6).

Abbildung 6: Anteil Hochschulabsolventen nach Partei

Änderung des Berufsbildes des Nationalrates

Das Berufs­bild des Natio­nal­ra­tes bleibt recht sta­bil. Das Bun­des­par­la­ment bleibt 2019 ein Par­la­ment, das sich haupt­säch­lich aus Politiker*innen (37 Pro­zent kom­mu­na­le Füh­rungs­kräf­te, Berufsparlamentarier*innen und Verbandsfunktionär*innen), Unternehmer*innen (23%) und gewähl­ten Vertreter*innen frei­er Beru­fe (23%) zusammensetzt.

Wir kön­nen jedoch drei leich­te Ver­schie­bun­gen fest­stel­len, obwohl wir ins­ge­samt kei­ne signi­fi­kan­ten Ver­än­de­run­gen feststellen.

Ers­tens eine Erhö­hung der Zahl der gewähl­ten Amtsträger*innen mit Ange­stell­ten­sta­tus von 15 Pro­zent im Jahr 2015 auf 19 Pro­zent im Jahr 2019 (Abbil­dung 7). Die­ser Anstieg wird ins­be­son­de­re durch eine Erhö­hung der Zahl der Lehrer*innen von zwei Pro­zent im Jahr 2015 auf sechs Pro­zent im Jahr 2019 erreicht (Anhang 2). Par­tei­be­zo­gen gese­hen sind es vor allem die Neu­ge­wähl­ten der Grü­nen, der GLP und der SP, die die­sen Trend ver­stär­ken, wobei durch­schnitt­lich ein Drit­tel der neu­ge­wähl­ten Per­so­nen den Sta­tus von Arbeitnehmer*innen haben (Abbil­dung 8).

Abbildung 7: Verteilung der gewählten Mitglieder nach Berufsstand (2015 und 2019)

 
Zwei­tens ist die Zahl der Selbst­stän­di­gen leicht rück­läu­fig, die 2015 mit 51 Pro­zent noch eine abso­lu­te Mehr­heit erreich­te und 2019 auf 45 Pro­zent fiel (Abbil­dung 7 oben). Die­ser Rück­gang wur­de durch die Wahl neu­er Par­la­ments­mit­glie­der aus rechts- und mit­te-rechts­ge­rich­te­ten Par­tei­en mit selb­stän­di­gem Sta­tus gemil­dert (Abbil­dung 9). Die­se Quo­te beträgt 83 Pro­zent unter den Neu­ge­wähl­ten der SVP; 43 Pro­zent bei der FDP; 50 Pro­zent bei der CVP und 40 Pro­zent bei der GLP, wäh­rend sie bei den Grü­nen 12 Pro­zent (2 von 17 Neu­ge­wähl­ten) und bei der SP zwan­zig Pro­zent aus­macht. Der Wahl­er­folg der Grü­nen trägt somit dazu bei, die Zahl der Selbst­stän­di­gen zu ver­rin­gern und die Zahl der Exe­ku­tiv­be­am­ten im öffent­li­chen Sek­tor zu stärken.
Abbildung 8: Anteil neugewählter ArbeitnehmerInnen im Nationalrat nach Parteien (2019)

Abbildung 9: Anteil neugewählter Selbstständiger im Nationalrat nach Parteien (2019)

 
Drit­tens gibt es im Natio­nal­rat eine leich­te Zunah­me von Berufspolitiker*innen, der Anteil stieg von 35 Pro­zent im Jahr 2015 auf 37 Pro­zent im Jahr 2019 (Abbil­dung 7 oben). Auch die­se Ent­wick­lung erklärt sich durch den Erfolg der Grü­nen, bei denen mehr als die Hälf­te der Neu­gwähl­ten (53 Pro­zent) einen poli­ti­schen Beruf haben (Abbil­dung 10), z.B. Nico­las Wal­der, Mit­glied der Exe­ku­ti­ve der Stadt Carouge, Sophie Mich­aud-Gigon, Direk­to­rin der Kon­su­men­ten­schutz­or­ga­ni­sa­ti­on der West­schweiz oder Del­phi­ne Klop­fen­stein-Brog­gi­ni, Sekre­tä­rin der Grü­nen des Kan­tons Genf und Mit­glied des Par­la­ments. Die­se Berufspolitiker*innen machen bei der SP fünf­zig Pro­zent, bei der FDP 43 Pro­zent, bei der GLP 30 Pro­zent und bei der CVP 17 Pro­zent aus.
Abbildung 10: Anteil neugewählter Mitglieder, die bereits ein politisches Amt besetzten (2019)

Es sei auch dar­auf hin­ge­wie­sen, dass unter die­sen neu gewähl­ten Mit­glie­dern ein beacht­li­cher Anteil aus Fami­li­en mit ehe­ma­li­gen Parlamentarier*innen stammt. Tat­säch­lich haben zehn Pro­zent der Neu­ge­wähl­ten einen Vater oder eine Mut­ter, die der Bun­des­ver­samm­lung frü­her ange­hör­ten (z.B. bei der CVP Mari­an­ne Bin­der-Kel­ler und Vin­cent Maitre, bei den Grü­nen Kili­an Bau­mann oder bei der SVP Ben­ja­min Giezendanner).

Fazit

Das sozio-pro­fes­sio­nel­le Pro­fil des Natio­nal­ra­tes hat sich nach den Natio­nal­rats­wah­len vom 20. Okto­ber 2019 ver­än­dert. Her­vor­zu­he­ben sind die signi­fi­kan­te Femi­ni­sie­rung der Kam­mer, die Zunah­me der Aka­de­mi­sie­rung, der rela­ti­ve Anstieg der Füh­rungs­kräf­te aus der öffent­li­chen Ver­wal­tung und ein Anstieg der Berufspolitiker*innen, die die Bun­des­ver­samm­lung noch wei­ter von einem so genann­ten Miliz­par­la­ment ent­fer­nen. Par­tei­be­zo­gen gese­hen las­sen sich die­se vier Trends ins­be­son­de­re durch den Wahl­er­folg der Grü­nen und der GLP (+17 bzw. +9 Sit­ze), durch die rela­ti­ve Sta­bi­li­tät der SP und der FDP (trotz des Ver­lusts von jeweils 4 Sit­zen) und durch den deut­li­chen Rück­gang der SVP (-12 Sit­ze) erklären.

In Bezug auf die Reprä­sen­ta­ti­vi­tät ist der Natio­nal­rat weit davon ent­fernt, ein Reprä­sen­ta­ti­ons­ide­al zu errei­chen, das von einem Miliz­sys­tem erwar­tet wird. Obwohl bei der Ver­tre­tung der Frau­en Fort­schrit­te erzielt wur­den, bleibt das Schwei­zer Par­la­ment ein sozi­al hoch selek­ti­ves Organ, das sich haupt­säch­lich aus Akademiker*innen, Unternehmer*innen, Freiberufler*innen oder Berufspolitiker*innen zusam­men­setzt; alles Min­der­hei­ten­grup­pen inner­halb der Schwei­zer Gesell­schaft, die haupt­säch­lich aus Arbeitnehmer*innen besteht.

Metho­dik
Die­se kur­ze, deskrip­ti­ve Ana­ly­se wur­de anhan der 200 gewähl­ten Mit­glie­der des Natio­nal­ra­tes nach den natio­na­len Wah­len vom 20. Okto­ber 2019 durch­ge­führt. Es ist wahr­schein­lich, dass sich die Zusam­men­set­zung des Natio­nal­ra­tes nach den zwei­ten Wahl­gän­gen des Stän­de­ra­tes etwas ändern wird. Die Stich­pro­be der nicht­ge­wähl­ten Vertreter*innen besteht aus 61 Per­so­nen mit fol­gen­der par­tei­po­li­ti­scher Ver­tei­lung: 17 Grü­ne; 10 SP, 10 GLP, 7 FDP, 6 CVP, 7 SVP, 1 Ensem­ble à Gau­che, 1 BDP, 1 EVP, 1 EDU. Die sozio-demo­gra­phi­schen Daten stam­men aus der Swiss Eli­te Data­ba­se oder von den per­sön­li­chen Web­sites der gewähl­ten Vertreter*innen (2019).
Anhang 1: Berufe der neugewählten Mitglieder des Nationalrats (2019)

Anhang 2: Die Berufsgruppen der Gewählten (Vergleich 2015 und 2019)

Anhang 3: Neu gewählte Mitglieder der öffentlichen Verwaltung nach Parteien (2019)

Bild: admin.ch

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