Aus welchen Gründen geniesst die Landwirtschaft sowohl in Bundesbern als auch in der Bevölkerung eine starke politische Unterstützung? Die Konstruktion des Mythos um die Schweizer Bauernschaft beeinflusst die Politik bis heute. Meine Analysen zeigen in Form einer Chronik die Entstehung dieses Mythos und seine politische Wirkung.
Die Agrarpolitik wird in der Schweiz oft als “heilige Kuh” bezeichnet. Sie geniesst eine starke Unterstützung im Parlament und in der Bevölkerung. Diese Unterstützung erfolgt in Form von protektionistischen Massnahmen und Direkthilfen, die in anderen Wirtschaftssektoren in dieser Form nicht anzutreffen sind. Diese Sonderstellung hat die Agrarpolitik während der beiden Weltkriege erlangt. Meine Arbeit konzentriert sich auf die Gründe für die bis heute andauernde politische Unterstützung dieser Sonderstellung.
Die Entstehung eines Mythos der Schweizer Bauernschaft geht auf die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Die Figur des Bergbauern wird von Reiseschriftstellern der gebildeten europäischen und schweizerischen Bourgeoisie auf der Suche nach Freiheit idealisiert, idyllisiert, ja sogar heroisiert. Das emblematischste und wirkungsvollste Beispiel ist sicherlich Friedrich Schillers 1804 erschienenes Stück Wilhelm Tell. Dieses Theaterstück stellt eine Schweizer Bauernschaft dar, die in einer idyllischen Umgebung lebt und von einem fast instinktiven Wunsch nach Freiheit angetrieben wird.
Die politische Nutzung dieses Mythos erfolgt in einer zweiten Phase mit der Entstehung des modernen Nationalstaats im 19. Jahrhundert und insbesondere nach der Bildung des föderalistischen Staats im Jahr 1848 – mit dem Sonderbundkrieg als Höhepunkt der internen Konflikte.
Bauernmythos bildet kollektive Identität
Der Mythos wird von den politischen Eliten genutzt, um eine kollektive Identität zu bilden, welche die ganze Schweiz vereinigen und damit eine gewisse politische Stabilität gewährleisten sollte. In der Folge nutzt und entwickelt der Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Schweizerische Bauernverband auf Anregung seines charismatischen Präsidenten Ernst Laur den Mythos der Bauernschaft weiter. Dieser wird zur wesentlichen Grundlage des Bundes, zum gemeinsamen Nenner der Schweizer Kultur.
Der Bauer und die Bäuerin werden somit als Träger von Schweizer Werten, Traditionen und der Moral dargestellt. Als Antwort auf ein Gebot zur Einigkeit der Schweiz und der Bauernschaft, aber auch der Ausgrenzung der Sozialisten- und der Arbeiterbewegung ist die Instrumentalisierung des Mythos der Bauernschaft im Dienste der “Bauernstaatsideologie” während der beiden Weltkonflikte erneut von hoher Bedeutung. Diesmal werden der Bauer und die Bäuerin zu Rettern der Nation gemacht.
Dabei ist der Anstieg der Selbstversorgung mit Lebensmitteln weitgehend auf Rationierungs- und Reorganisationsmassnahmen der Anbauflächen zurückzuführen. Darüber hinaus bleibt die Schweiz auch während der Konflikte von ausländischen Importen abhängig. Aufgrund der Verherrlichung der Bauernschaft profitiert die Landwirtschaft von einer ganzen Reihe wirtschaftlicher Ausnahmeregelungen, die der Bauernschaft relativ gute Bedingungen bieten.
Erste Kritik am Bauernmythos ab den 1970er Jahren
Ab den 1970er Jahren entsteht ein kritischer Diskurs über die die Schweiz prägenden Mythen. Ein Beispiel ist Wilhelm Tell für die Schule von Max Frisch. Dieses Buch hinterfragt die pseudo-historische Erzählung, wonach das heroische Bauerntum die Schweiz gegründet hat. Danach wird die Bauernschaft unter anderen Aspekten in Frage gestellt.
Ab den 80er Jahren werden ihre Auswirkungen auf die Umwelt, ihre Nichtübereinstimmung mit den GATT-Vereinbarungen und der Anstieg der Lebensmittelpreise kritisiert, was zu umfassenden Reformen der gewährten Beihilfen in den 90er Jahren führt. Es erfolgt eine Umstellung auf Direktzahlungen für Dienstleistungen an Gesellschaft und Umwelt. Auf diese Weise wird die Agrarpolitik weiterhin stark unterstützt und vor einer vollständigen Marktöffnung geschützt, ohne die internationalen Freihandelsabkommen zu verletzen.
Mythos der Bauernschaft lebt weiter
Die mythische Figur des Bauern verwandelt sich allmählich und wird den aktuellen Anforderungen angepasst. Der Mythos der Bauernschaft zeugt weiterhin vom Einfluss auf die Parlamentarier und die Bevölkerung. Der neue Diskurs ist weit davon entfernt, den alten Mythos auszulöschen, sondern ergänzt ihn. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Bauernschaft neben den ihr zugewiesenen neuen Funktionen (Tierschutz, Landschaftspflege etc.) immer noch als Garantin der Schweizer Traditionen und der Volkskultur gilt.
Der Mythos scheint also in zwei Teile gespalten zu sein – einen konservativen Mythos und einen neu geschaffenen Mythos – und betrifft damit eine andere Kategorie der Bevölkerung. Die Erhaltung der Bauernschaft wird daher mit neuen Geschichten gerechtfertigt: Der Bauer ist der Garant für die Schönheit unserer Landschaften und bewahrt so das Bild einer idyllischen Schweiz (siehe Werbekampagnen des Schweizerischen Bauernverbandes seit 2011). Die Geschichten stellen Institutionen dar, die den Rahmen für die Interaktion zwischen den Akteuren bilden und spielen daher nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Erklärung der Unterstützung der Landwirtschaft im Parlament und in der Bevölkerung.
Ich habe angenommen, dass sich irgendwann ein Mythos um die Schweizer Bauernschaft gebildet hat und seither die Schweizer Politik beeinflusst. Um die Forschungsfrage – «Welche Rolle spielt der Mythos um die Schweizer Bauernschaft bei der Erklärung der starken Unterstützung der Landwirtschaft im Parlament und in der Bevölkerung?» – beantworten zu können, habe ich mit der Process Tracing Methode gearbeitet, mit der ich mich auf die Spuren dieses Mythos und seines Einflusses auf die Schweizer Politik gemacht habe.
Den Mythos habe ich als eine Erzählung verstanden, die fiktive und reale Elemente vermischt (Matthias Weishaupt, Interview) und das Bild eines Idealtyps mit alten heiligen Werten erzeugt (Reszler, 1986; Eliade, 1957). Es kann von der Politik als Instrument zum Aufbau eines kollektiven Bewusstseins genutzt werden (Reszler, 1986) und entwickelt sich im Laufe der Zeit, um zu anzudauern (Baros, 2009). Basierend auf vier Hypothesen mit dem Zweck, die Suche nach Antworten zu strukturieren, nimmt diese Arbeit die Form einer Chronik an, die den Mythos der Bauernschaft nachzeichnet.
Quelle:
Die Masterarbeit Le mythe du “bon paysan” ist über die Website von Année Politique Suisse frei zugänglich.
Referenzen:
- Baros, Linda Maria. « A la recherche d’une définition du mythe ». Philologica Jassyensia 2(10). 2009 : 89-98.
- Baumann, Werner et Peter Moser. Bauern im Industriestaat. Agrarpolitische Konzeptionen und bäuerliche Bewegungen in der Schweiz 1918-1968. Zürich : Orell Füssli, 1999.
- Chappuis, Jean-Marc et al., L’agriculture dans son nouveau rôle. 1re éd. Lausanne : PPUR, 2008.
- Eliade, Mircea. Mythes, rêves et mystères. Paris: Editions Gallimard, 1957.
- Engeler, Urs Paul. « Der Tanz ums Kalb. Der Bauer als Bilderbuchschweizer – eine Fiktion ». NZZ Folio, September 1994.
- Gfs.bern. « Studie “Gesellschaftliche Wünsche hinsichtlich landwirtschaftlicher Wirtschaftsweisen und Strukturen“. Schlussbericht zur quantitativen Hauptstudie ». Gfs.bern im Auftrag des Bundesamtes für Landwirtschaft. Bern. 19.09.2017.
- March, James G. et Johan P. Olsen. « The New Institutionalism: Organizational Factors in Political Life ». American Political Science Review, 78(3). Décembre 1983 : 734-49.
- Mayntz, Renate et Fritz W. Scharpf. « L’institutionnalisme centré sur les acteurs ». Politix, 55(3). Septembre 2001 : 95-123.
- Reszler, André. Mythes et identité de la Suisse. Genève : Georg Editeur, 1986.
- Tanner Albert et Anne-Lise Head-König (Hg.). Die Bauern in der Geschichte der Schweiz. Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Heft 10, 10. Jg., Zürich: Chronos Verlag, 1992b.
- Weishaupt, Matthias. Bauern, Hirten und « frume edle puren ». Bauern- und Bauern- staatsideologie in der spätmittelalterichen Eidgenossenschaft und der nationalen Geschichtsschreibung der Schweiz. Basel und Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn, 1992a.
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