Das Proporzwahlrecht: Schutz der Mehrheit, nicht der Minderheit?

Fast alle Schwei­zer Kan­to­ne haben in den letz­ten 130 Jah­ren das Ver­hält­nis­wahl­recht ein­ge­führt. Der Pro­porz hat jedoch in vie­len Fäl­len nicht zu einer Ver­bes­se­rung der Reprä­sen­ta­ti­on von poli­ti­schen Min­der­hei­ten geführt, im Gegen­teil: Unse­re Ana­ly­se zeigt, dass die domi­nan­ten Par­tei­en oft­mals bei der Gestal­tung der Wahl­ge­set­ze ihren Ein­fluss gel­tend gemacht und sich dadurch sys­te­ma­tisch bevor­teilt haben.

Mitt­ler­wei­le haben fast alle Schwei­zer Kan­to­ne das Ver­hält­nis­wahl­rechts­sys­tem für die Wahl der kan­to­na­len Legis­la­ti­ve eta­bliert. Aber nicht immer ist beim Pro­porz drin, was dar­auf steht. In vie­len Kan­to­nen hat die kon­kre­te Aus­ge­stal­tung des Ver­hält­nis­wahl­sys­tems dazu geführt, dass die Wahl­er­geb­nis­se trotz Pro­porz eher einem Mehr­heits­wahl­sys­tem ähneln. Aller­dings hat das Bun­des­ge­richt begon­nen, den ver­fas­sungs­recht­li­chen Anspruch auf Stimm­rechts­gleich­heit durch­zu­set­zen und in meh­re­ren Kan­to­nen die Ein­füh­rung eines unver­fälsch­ten Ver­hält­nis­wahl­rechts erzwun­gen.

Proporz als Mehrheitsschutz

Schwyz war einer der ers­ten Kan­to­ne, in dem unter dem Deck­man­tel des Pro­porz ein Misch­sys­tem mit der Ver­fas­sungs­re­vi­si­on 1898 ein­ge­führt wur­de. Feder­füh­rend waren bei die­ser Reform die Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven, die unter dem alten Mehr­heits­wahl­recht über eine abso­lu­te Mehr­heit im Kan­tons­rat ver­füg­ten. Die ers­te Wahl im Jahr 1900 unter dem neu­en Wahl­recht brach­te jedoch kei­ne gros­sen Ver­än­de­run­gen der Par­tei­ver­hält­nis­se. Die Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven konn­ten ihre Mehr­heits­po­si­ti­on pro­blem­los behaupten.

Aller­dings war das Ergeb­nis zumin­dest teil­wei­se einer Beson­der­heit geschul­det: Das Ver­hält­nis­wahl­recht wur­de nur in Wahl­krei­sen mit mehr als zwei Sit­zen ange­wen­det. Die­se Rege­lung führ­te zu gerech­te­ren Ver­hält­nis­sen in den urba­nen und indus­tria­li­sier­ten Gemein­den, die bis­her von der Libe­ra­len Par­tei domi­niert wor­den war. In länd­li­chen und klei­ne­ren Wahl­krei­sen wur­de hin­ge­gen wei­ter­hin zum Vor­teil der Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven nach Mehr­heits­wahl­recht gewählt.

Das Vor­ge­hen der Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven in Schwyz war jedoch kei­ne Beson­der­heit. In meh­re­ren Kan­to­nen haben die his­to­risch domi­nan­ten Par­tei­en bei der Ein­füh­rung des Ver­hält­nis­wahl­rechts klei­ne­re Wahl­krei­se in ihren Hoch­bur­gen bestehen las­sen und sich damit siche­re Sit­ze ver­schafft; so in Luzern oder der Waadt. Das Zurecht­schnei­den von Wahl­krei­sen war aller­dings nur eine Stra­te­gie der domi­nan­ten Par­tei­en, um die Macht zu behal­ten. Neu­châ­tel und Fri­bourg haben bei­spiels­wei­se ihre zumeist gros­sen Wahl­krei­se nicht ver­än­dert, jedoch eine 15%-Sperrklausel ein­ge­führt, was dazu führ­te, dass Min­der­heits­par­tei­en trotz Ver­hält­nis­wahl­recht kaum zusätz­li­che Sit­ze gewannen. 

Wirklicher Proporz nur gegen die Mehrheitsparteien

Ein wirk­lich pro­por­tio­na­les Sys­tem wur­de nur in Kan­to­nen ein­ge­führt, in denen Min­der­heits­par­tei­en das Ver­hält­nis­wahl­recht gegen den Wil­len der domi­nan­ten Par­tei durch­ge­setzt haben. Einer­seits öff­ne­ten (kurz­zei­ti­ge) par­la­men­ta­ri­sche Mehr­hei­ten die­se Mög­lich­keit. Bei­spiels­wei­se in Genf durch die Zusam­men­ar­beit der Libe­ral-Kon­ser­va­ti­ven Par­tei mit einer Abspal­tung der Radi­ka­len oder in St. Gal­len durch eine Drei­er­al­li­anz von Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven, Demo­kra­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten. Ande­rer­seits konn­te auch das direkt­de­mo­kra­ti­sche Initia­ti­ve­recht dazu die­nen, den Wider­stand der domi­nan­ten Par­tei zu bre­chen. Bei­spie­le hier­für las­sen sich in Zürich, Basel-Stadt, Aar­gau und natür­lich auf der natio­na­len Ebe­ne fin­den. In den meis­ten Fäl­len waren aber meh­re­re Anläu­fe von­nö­ten, bis der Pro­porz in Volks­ab­stim­mun­gen akzep­tiert wurde.

Eigeninteresse anstatt Minderheitenschutz

Stein Rok­kan hat die The­se ver­tre­ten, dass das Ver­hält­nis­wahl­recht in den Schwei­zer Kan­to­nen zum Schutz von poli­ti­schen Min­der­hei­ten ein­ge­führt wur­de. Damit soll­ten lang­jäh­ri­ge Kon­flik­te befrie­det wer­den. Für die­se The­se gibt es jedoch wenig empi­ri­sche Evi­denz. Ganz im Gegen­teil lässt sich beob­ach­ten, dass poli­tisch domi­nan­te Par­tei­en die Ein­füh­rung des Pro­porz­wahl­rechts ver­wen­det haben, um sich Vor­tei­le auch unter dem neu­en Wahl­recht zu sichern. Woll­ten Min­der­hei­ten­par­tei­en dem­ge­gen­über ein unver­fälsch­tes Pro­porz­wahl­recht, muss­ten sie dies in der Regel gegen den Wider­stand der domi­nan­ten Par­tei­en erkämpfen.

Noch heu­te sehen wir die Nach­wir­kun­gen die­ser Ursprün­ge des Pro­porz­wahl­rechts in den Kan­to­nen. So hat das Bun­des­ge­richt 2012 das Schwy­zer Misch­sys­tem aus Mehr­heits- und Ver­hält­nis­wahl­recht wegen feh­len­der Stimm­rechts­gleich­heit als ver­fas­sungs­wid­rig ein­ge­stuft. Eine ent­spre­chen­de Wahl­rechts­re­form wur­de jedoch von der mitt­ler­wei­le poli­tisch domi­nan­ten Schwei­ze­ri­schen Volks­par­tei bekämpft, die ein – für sie wohl vor­teil­haf­te­res – rei­nes Mehr­heits­wahl­recht anstreb­te. In einer Volks­ab­stim­mung im Früh­jahr 2015 ent­schie­den sich die Schwy­zer jedoch für die Ein­füh­rung des Ver­hält­nis­wahl­rechts. Wenig über­ra­schend hat die ers­te Kan­tons­rats­wahl unter dem neu­en Wahl­sys­tem 2016 zu Ver­schie­bun­gen zu Guns­ten der klei­nen Par­tei­en geführt. Ähn­li­che Ent­wick­lun­gen las­sen sich auch in ande­ren Schwei­zer Kan­to­nen wie Nid­wal­den, Uri und Zug beob­ach­ten. Ob mit die­sen Ver­schie­bun­gen jedem Kan­ton gedient ist, ist aber wie­der­um eine ande­re Frage.


Refe­renz:

Wal­ter, André und Patrick Emmen­eg­ger (2019). Majo­ri­ty Pro­tec­tion: The Ori­gins of Dis­tor­ted Pro­por­tio­nal Repre­sen­ta­ti­on, Elec­to­ral Stu­dies, online first.

 

Bild: Pla­kat des «Schwei­ze­ri­schen Actions-Comi­tés für den Natio­nal­rats-Pro­porz» (Quel­le: Sozialarchiv)

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