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Das Proporzwahlrecht: Schutz der Mehrheit, nicht der Minderheit?

André Walter, Patrick Emmenegger
19th März 2019

Fast alle Schweizer Kantone haben in den letzten 130 Jahren das Verhältniswahlrecht eingeführt. Der Proporz hat jedoch in vielen Fällen nicht zu einer Verbesserung der Repräsentation von politischen Minderheiten geführt, im Gegenteil: Unsere Analyse zeigt, dass die dominanten Parteien oftmals bei der Gestaltung der Wahlgesetze ihren Einfluss geltend gemacht und sich dadurch systematisch bevorteilt haben.

Mittlerweile haben fast alle Schweizer Kantone das Verhältniswahlrechtssystem für die Wahl der kantonalen Legislative etabliert. Aber nicht immer ist beim Proporz drin, was darauf steht. In vielen Kantonen hat die konkrete Ausgestaltung des Verhältniswahlsystems dazu geführt, dass die Wahlergebnisse trotz Proporz eher einem Mehrheitswahlsystem ähneln. Allerdings hat das Bundesgericht begonnen, den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Stimmrechtsgleichheit durchzusetzen und in mehreren Kantonen die Einführung eines unverfälschten Verhältniswahlrechts erzwungen.

Proporz als Mehrheitsschutz

Schwyz war einer der ersten Kantone, in dem unter dem Deckmantel des Proporz ein Mischsystem mit der Verfassungsrevision 1898 eingeführt wurde. Federführend waren bei dieser Reform die Katholisch-Konservativen, die unter dem alten Mehrheitswahlrecht über eine absolute Mehrheit im Kantonsrat verfügten. Die erste Wahl im Jahr 1900 unter dem neuen Wahlrecht brachte jedoch keine grossen Veränderungen der Parteiverhältnisse. Die Katholisch-Konservativen konnten ihre Mehrheitsposition problemlos behaupten.

Allerdings war das Ergebnis zumindest teilweise einer Besonderheit geschuldet: Das Verhältniswahlrecht wurde nur in Wahlkreisen mit mehr als zwei Sitzen angewendet. Diese Regelung führte zu gerechteren Verhältnissen in den urbanen und industrialisierten Gemeinden, die bisher von der Liberalen Partei dominiert worden war. In ländlichen und kleineren Wahlkreisen wurde hingegen weiterhin zum Vorteil der Katholisch-Konservativen nach Mehrheitswahlrecht gewählt.

Das Vorgehen der Katholisch-Konservativen in Schwyz war jedoch keine Besonderheit. In mehreren Kantonen haben die historisch dominanten Parteien bei der Einführung des Verhältniswahlrechts kleinere Wahlkreise in ihren Hochburgen bestehen lassen und sich damit sichere Sitze verschafft; so in Luzern oder der Waadt. Das Zurechtschneiden von Wahlkreisen war allerdings nur eine Strategie der dominanten Parteien, um die Macht zu behalten. Neuchâtel und Fribourg haben beispielsweise ihre zumeist grossen Wahlkreise nicht verändert, jedoch eine 15%-Sperrklausel eingeführt, was dazu führte, dass Minderheitsparteien trotz Verhältniswahlrecht kaum zusätzliche Sitze gewannen. 

Wirklicher Proporz nur gegen die Mehrheitsparteien

Ein wirklich proportionales System wurde nur in Kantonen eingeführt, in denen Minderheitsparteien das Verhältniswahlrecht gegen den Willen der dominanten Partei durchgesetzt haben. Einerseits öffneten (kurzzeitige) parlamentarische Mehrheiten diese Möglichkeit. Beispielsweise in Genf durch die Zusammenarbeit der Liberal-Konservativen Partei mit einer Abspaltung der Radikalen oder in St. Gallen durch eine Dreierallianz von Katholisch-Konservativen, Demokraten und Sozialdemokraten. Andererseits konnte auch das direktdemokratische Initiativerecht dazu dienen, den Widerstand der dominanten Partei zu brechen. Beispiele hierfür lassen sich in Zürich, Basel-Stadt, Aargau und natürlich auf der nationalen Ebene finden. In den meisten Fällen waren aber mehrere Anläufe vonnöten, bis der Proporz in Volksabstimmungen akzeptiert wurde.

Eigeninteresse anstatt Minderheitenschutz

Stein Rokkan hat die These vertreten, dass das Verhältniswahlrecht in den Schweizer Kantonen zum Schutz von politischen Minderheiten eingeführt wurde. Damit sollten langjährige Konflikte befriedet werden. Für diese These gibt es jedoch wenig empirische Evidenz. Ganz im Gegenteil lässt sich beobachten, dass politisch dominante Parteien die Einführung des Proporzwahlrechts verwendet haben, um sich Vorteile auch unter dem neuen Wahlrecht zu sichern. Wollten Minderheitenparteien demgegenüber ein unverfälschtes Proporzwahlrecht, mussten sie dies in der Regel gegen den Widerstand der dominanten Parteien erkämpfen.

Noch heute sehen wir die Nachwirkungen dieser Ursprünge des Proporzwahlrechts in den Kantonen. So hat das Bundesgericht 2012 das Schwyzer Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht wegen fehlender Stimmrechtsgleichheit als verfassungswidrig eingestuft. Eine entsprechende Wahlrechtsreform wurde jedoch von der mittlerweile politisch dominanten Schweizerischen Volkspartei bekämpft, die ein – für sie wohl vorteilhafteres – reines Mehrheitswahlrecht anstrebte. In einer Volksabstimmung im Frühjahr 2015 entschieden sich die Schwyzer jedoch für die Einführung des Verhältniswahlrechts. Wenig überraschend hat die erste Kantonsratswahl unter dem neuen Wahlsystem 2016 zu Verschiebungen zu Gunsten der kleinen Parteien geführt. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen Schweizer Kantonen wie Nidwalden, Uri und Zug beobachten. Ob mit diesen Verschiebungen jedem Kanton gedient ist, ist aber wiederum eine andere Frage.


Referenz:

Walter, André und Patrick Emmenegger (2019). Majority Protection: The Origins of Distorted Proportional Representation, Electoral Studies, online first.

 

Bild: Plakat des «Schweizerischen Actions-Comités für den Nationalrats-Proporz» (Quelle: Sozialarchiv)