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Nationale Souveränität oder wirtschaftliche Integration? Nur für Bürgerliche eine schwierige Entscheidung.

Patrick Emmenegger, Silja Häusermann, Stefanie Walter
9th Januar 2019

Nicht nur in der Schweiz stehen zwei Ziele zunehmend in Konflikt: die autonome nationale Steuerung der Migration einerseits und der Erhalt internationaler wirtschaftlicher Verflechtung andererseits. Wer beides will, befindet sich im Zielkonflikt. Wir zeigen, dass vor allem bürgerliche Wählerinnen und Wähler diesem Konflikt ausgesetzt sind und ihre Entscheidung stark von der Parteilinie geprägt ist.

Französische Version

Mit der Begrenzungsinitiative will die SVP an der Urne eine Entscheidung zum Konflikt um die Personenfreizügigkeit herbeiführen. Der Bundesrat lehnt die Vorlage ab. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sollen voraussichtlich im nächsten Jahr darüber entscheiden, ob die Schweiz die Immigration künftig alleine kontrollieren soll und dafür den Preis in Form des Zuganges zum EU-Binnenmarkt zu zahlen bereit ist.

Was die Briten im Rahmen des Brexit gerade schmerzlich erfahren, sagt mittlerweile auch die SVP offen: «Die Schweiz zu verteidigen war noch nie gratis.» (Tagesanzeiger, 27.11.2018). Es mag politisch umstritten sein, ob eine Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens als Verteidigung der Schweiz zu zählen ist, aber dass das Wiedererlangen nationaler Souveränität in Migrationsfragen hohe wirtschaftliche Kosten hätte, ist weit weniger kontrovers.

Dieser Preis der nationalen Souveränität steht im Zentrum unseres Beitrages. Wir untersuchen, wie viele und welche Stimmbürgerinnen und Stimmbürger effektiv mit einem Zielkonflikt konfrontiert sind und wie diese sich entscheiden, wenn sie explizit vor die Wahl gestellt werden.

Konkret gingen wir folgenden beiden Fragen nach:

1) Wie viele und welche Stimmbürgerinnen und Stimmbürger befinden sich in einem sogenannten Zielkonflikt bezüglich ihrer politischen Präferenzen?

2) Wie entscheiden sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zwischen den zwei präferierten Zielen der Immigrationssteuerung und der ökonomischen Integration?

Die Untersuchung im Detail
Zwei spezifische Aspekte aus der Befragung, welche im Rahmen der Schweizer Wahlstudie Selects im Vorfeld der Nationalratswahlen 2015 durchgeführt wurde, haben unsere Untersuchung ermöglicht. Einerseits beinhalten diese Daten nicht nur Fragen nach der Bewertung von Immigration und den Bilateralen Verträgen, sondern auch eine explizite Entscheidungsfrage zwischen den Bilateralen Verträgen und einer Immigrationsbegrenzung. Zum anderen umfassen diese Daten ein besonders grosses Sample von über 11'000 Personen, was eine Analyse mehrerer Teilgruppen ermöglicht. In der Tat befinden sich im Sample nicht weniger als rund 1'300 Wählerinnen und Wähler, welche sowohl die Immigration als problematisch bewerten, als auch die Bilateralen Verträge positiv beurteilen.

Bürgerliche im Zielkonflikt

Für Wählende, welche sowohl die Bilateralen als auch die Folgen der Migration für das Land positiv bewerten, besteht natürlich kein Zielkonflikt. Sie könnten eine Begrenzungsinitiative getrost ablehnen. Wir nennen sie in unserer Analyse International Gesinnte und sie repräsentieren ein gutes Drittel der Befragten (siehe Abbildung 1).

Auch wer sowohl der Immigration als auch den Bilateralen gegenüber skeptisch eingestellt ist, hat eine leichte Wahl: National Gesinnte (14% der Befragten) könnten eine Begrenzungsinitiative problemlos annehmen.

Aber Stimmbürger und Stimmbürgerinnen, welche sowohl eine Begrenzung der Immigration als auch die Beibehaltung der Bilateralen anstreben, sind zumindest potenziell hin- und hergerissen. Potenziell darum, weil der Konflikt nur in der konkreten Entscheidungssituation akut wird. Mit 12 Prozent ist dies eine substanzielle Gruppe in der Schweiz, welche gerade im Fall von Volksentscheiden von grosser Relevanz sein kann.

Zusammen mit den Neutralen, welche gegenüber Immigration und/oder den Bilateralen indifferent sind, bilden die Hin- und Hergerissenen eine grosse Gruppe von Personen, deren Entscheidung im Zielkonflikt zwischen einer autonomen nationalen Steuerung der Migration und dem Erhalt internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen nur schwer abzuschätzen ist.

Hingegen zeigt Abbildung 1, dass die Gruppe derjenigen, welche «alternativ» hin- und hergerissen sind – welche also die Bilateralen negativ bewerten, aber Immigration positiv gegenüber stehen – in der Schweiz sehr klein ist (ca. 4%) und kaum politisches Gewicht hat.

Abbildung 1

Es gibt verschiedene theoretische Erklärungen, warum Individuen zwischen Immigrationsbegrenzung und wirtschaftlicher Offenheit hin- und hergerissen sein könnten. Wir untersuchten drei zentrale Hypothesen:

Die erste Hypothese ist eine politökonomische und geht davon aus, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in wirtschaftlich exponierten Sektoren mit hohem Ausländeranteil im Dilemma befinden, weil sie einerseits von der wirtschaftlichen Offenheit abhängig sind und anderseits der Arbeitsmarktkonkurrenz durch Migrantinnen und Migranten besonders ausgesetzt sind. Für diese Hypothese finden wir in den Daten aber keine Evidenz. Wir messen die individuelle Bedrohung durch die Exportabhängigkeit des Beschäftigungssektors und durch den Ausländeranteil an den Beschäftigten. Keine der beiden Variablen, weder einzeln noch in Kombination, stehen mit dem divergierenden Präferenzprofil im Zusammenhang.

Eine zweite Erklärung des Zielkonfliktes beruht auf der Idee, dass weniger gut informierte Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sich des Konflikts ihrer Präferenzen schlicht nicht bewusst sind. Entsprechend sollten Personen mit geringem politischem Interesse oder Wissen häufiger im Zielkonflikt stecken. Doch auch unsere zweite Hypothese wird durch die Analyse nicht bestätigt. Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, welche zwischen Immigrationsbegrenzung und Bilateralen hin- und hergerissen sind, sind durchaus informierte und aktive Bürgerinnen und Bürger.

Drittens untersuchen wir, welche Parteien die Personen mit unterschiedlichem Präferenzprofil bevorzugen. Hier sind die Befunde glasklar (Abbildung 2): der Zielkonflikt zwischen Immigrationssteuerung und wirtschaftlichem Marktzugang ist in der Schweiz ein (fast) rein bürgerliches Phänomen. Zwei Drittel der SVP-Wählenden bewertet Immigration als negativ, ein knappes Drittel der SVP-Wählenden schätzt die Auswirkungen der bilateralen Verträge auf die Schweiz aber als positiv ein. Insgesamt ist jede fünfte Person, die SVP wählt, mit einem potenziellen Zielkonflikt konfrontiert.

Auch bei der FDP und der CVP haben fünfzehn bzw. dreizehn Prozent der Wählerschaft diesen Zielkonflikt, während nur gerademal jeder zwanzigste aus der SP-Wählerschaft diesem Profil entspricht. Weiterführende Analysen zeigen, dass es vor allem gutverdienende SVP- und FDP-Wählerinnen und Wähler sind, welche sich in einem Zielkonflikt befinden. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass diese bürgerlichen Wählerinnen und Wähler beruflich von der wirtschaftlichen Verflechtung profitieren, gesellschaftspolitisch jedoch konservativ denken.

Abbildung 2

Ob der «bürgerliche Zielkonflikt» ein spezifisch Schweizerischer ist, oder ob auch in anderen Ländern kaum Binnenmarkt-befürwortende Immigrationsskeptikerinnen und Immigrationsskeptiker auf der Linken zu finden wären, bleibt in unserer Analyse offen. Allerdings zeigt der Anteil International Gesinnter bei den Linken in der Schweiz einmal mehr, dass die SP in der Schweiz kaum mehr gesellschaftskonservative Wählende mobilisiert.

Parteipolitisch geprägte Entscheidungen

Auf welche Seite tendieren nun Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Zielkonflikt, wenn sie konkret zur Entscheidung gezwungen werden?

Abbildung 3 zeigt die Resultate unserer Analysen zu dieser Frage. Wie sich zeigt, erklärt die individuelle Betroffenheit den Entscheid kaum. Bürgerinnen und Bürger in handelsexponierten Sektoren entscheiden sich nicht überproportional für den Erhalt der Bilateralen (obwohl ihre Beschäftigung stark davon abhängt). Und wer in einen Sektor mit einem hohen Ausländeranteil arbeitet, entscheidet sich auch nicht häufiger für die Beschränkung der Immigration.

Der zentrale Effekt in Abbildung 3 ist die starke Korrelation zwischen SVP-Wahl und einer Präferenz für die Immigrationskontrolle. Auch SVP-Wählende, welche die Bilateralen positiv einschätzen, tendieren in der Entscheidungssituation gegen dieselben. Wir interpretieren diesen Effekt als Effekt der Parteilinie auf die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger. Man könnte einwenden, dass es gerade andersrum ist. Dass also Personen, die Immigrationsbeschränkung höher gewichten, aus diesem Grund SVP wählen. Unsere Interpretation des Parteieffektes wird jedoch dadurch gestützt, dass dieser auch im multivariaten Modell robust bleibt, also unabhängig davon, welche Wichtigkeit jemand dem Thema Migration beimisst.

Abbildung 3

Abschliessend lässt sich festhalten, dass der Zielkonflikt betreffend Immigrationskontrolle und ökonomischer Integration in der Schweiz ein fast ausschliesslich bürgerliches Phänomen ist. Linke Wählerinnen und Wähler sind diesem Zielkonflikt weniger ausgesetzt, und falls sie es doch sind, entscheiden sie sich in der Regel für die Bilateralen.

Auf der anderen Seite ist die Präferenz für eine Immigrationsbeschränkung bei den SVP-Wählenden sehr klar und robust. Offener ist die Entscheidung für hin- und hergerissene Wählende der FDP und CVP. Hier scheinen Salienzeffekte (z.B. die Wichtigkeit der Migrations- bzw. EU-Politik) einen grossen Stellenwert zu haben. Eine Abstimmungskampagne wird daher vor allem effektiv sein, wenn sie stark auf die Mobilisierung dieser Gruppen und das Framing der Entscheidung zugeschnitten wird.  


 Referenz:

Emmenegger, Patrick; Silja Häusermann und Stefanie Walter (2018).

 

Bild: commons.wikimedia.org