Ein politischer Scheinriese? – Die Schweizer Bundesversammlung im internationalen Vergleich

Der Bei­trag geht der Fra­ge nach, wie es um die Macht der Bun­des­ver­samm­lung bei der Wahr­neh­mung ihrer Auf­ga­ben steht, wel­che Rah­men­be­din­gun­gen ihren Ein­fluss gegen­über der Exe­ku­ti­ve beein­flus­sen und wie sich die Ver­hält­nis­se in der Schweiz im Ver­gleich zu ande­ren ent­wi­ckel­ten Demo­kra­tien darstellen.

Mehr als politische Rechte: Zeit und Geld

Zu den klas­si­schen Auf­ga­ben von Par­la­men­ten gehö­ren die Wahl (der Regie­rung), Gesetz­ge­bung und Kon­trol­le. Die­se bil­den den Aus­gangs­punkt für unse­re Mes­sung des Ver­hält­nis­ses von Legis­la­ti­ve und Exe­ku­ti­ve. Die vier­te oft genann­te Funk­ti­on von Par­la­men­ten, näm­lich die Reprä­sen­ta­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on, betrifft vor allem die Bezie­hung von Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­ern und dem Wahl­volk und bleibt des­we­gen aus­ser Acht.

Statt­des­sen betrach­ten wir zusätz­lich die Res­sour­cen­aus­stat­tung des Par­la­ments, die einen ent­schei­den­den Ein­fluss dar­auf hat, inwie­weit ein Par­la­ment sei­ne Auf­ga­ben, ins­be­son­de­re in den Berei­chen Gesetz­ge­bung und Kon­trol­le, fak­tisch aus­üben kann. Dar­aus erge­ben sich für unse­re Mes­sung zwei Dimen­sio­nen (Insti­tu­tio­nen und Res­sour­cen), wobei wie­der­um meh­re­re Bestand­tei­le wie zum Bei­spiel die finan­zi­el­le Aus­stat­tung der Par­la­men­ta­ri­er oder die Stär­ke ihres (wis­sen­schaft­li­chen) Per­so­nals unter­schie­den wer­den kön­nen (vgl. Info­box für Details). Die Erhe­bung bemüht sich, ein aus­ge­wo­ge­nes Bild der for­ma­len Rech­te und der Aus­stat­tung wiederzugeben.

Arm, aber glücklich?

Die Abbil­dung ver­or­tet die so gemes­se­ne Macht des schwei­ze­ri­schen Par­la­ments im inter­na­tio­na­len Ver­gleich (CH). Die Bun­des­ver­samm­lung erweist sich in einer Grup­pe von 22 ent­wi­ckel­ten Demo­kra­tien als schwach mit Res­sour­cen aus­ge­stat­tet und befin­det sich mit Blick auf ihre insti­tu­tio­nel­len Rech­te im Mit­tel­feld. Nur das Par­la­ment im bevöl­ke­rungs­ar­men Island, dass sich in einem unauf­fäl­li­gen Häus­chen in Reykja­vik befin­det und eher mit einer kan­to­na­len Ver­samm­lung ver­gleich­bar ist sowie die spa­ni­sche Ver­tre­tung stat­ten ihre Abge­ord­ne­ten mit noch weni­ger Geld und Per­so­nal aus. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, Kana­da oder Ita­li­en zei­gen sich hier deut­lich grosszügiger.

Bei den insti­tu­tio­nel­len Rech­ten, also etwa der Gesetz­ge­bung oder Regie­rungs­wahl, befin­det sich die Schweiz in einer soli­den Posi­ti­on etwa auf Augen­hö­he mit dem Ver­ei­nig­ten König­reich und Deutsch­land. Zu den insti­tu­tio­nell schwächs­ten Par­la­men­ten gehö­ren (teils durch die Mes­sung bedingt, sie­he Info­box) die Ver­ei­nig­ten Staa­ten und Frank­reich, aber auch Japan und Finn­land, wäh­rend die Par­la­ment in Ita­li­en, Bel­gi­en und Isra­el die am wei­tes­ten gehen­den Befug­nis­se aufweisen.

Es zeigt sich auch, dass die insti­tu­tio­nel­le Par­la­ments­macht nega­tiv mit der Res­sour­cen­aus­stat­tung zusam­men­hängt. Stark aus­ge­bau­te insti­tu­tio­nel­le Rech­te des Par­la­ments gehen also ten­den­zi­ell mit einer gerin­gen Res­sour­cen­aus­stat­tung ein­her und umge­kehrt. Auf­fäl­lig sind auch die extre­men Kom­bi­na­tio­nen von gerin­ger insti­tu­tio­nel­ler und hoher res­sour­cen­be­ding­ter Macht bei den (semi-)präsidentiellen Sys­te­men USA und Frank­reich. Am ande­ren Ende der Abbil­dung kom­bi­niert Isra­el weit­ge­hen­de insti­tu­tio­nel­le Kom­pe­ten­zen mit gerin­gen Ressourcen.

Welche Art von Scheinriese?

Wie unter den Bedin­gun­gen des Halb­be­rufs­par­la­ments zu erwar­ten, bil­det die Schweiz also zusam­men mit Spa­ni­en und Island das Schluss­licht bei den Res­sour­cen. Hier spie­gelt sich wider, dass die Bun­des­ver­samm­lung im inter­na­tio­na­len Ver­gleich nur in gerin­gem Mass mit per­so­nel­len Res­sour­cen in Form von Sekre­ta­ria­ten und wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­tern aus­ge­stat­tet ist. Auch die knap­pe Sit­zungs­zeit im Rah­men von jähr­lich vier Ses­sio­nen trägt zu die­sem Teil­ergeb­nis bei.

Der Befund, dass die Schweiz bei den insti­tu­tio­nel­len Befug­nis­sen im Mit­tel­feld der unter­such­ten Län­der ran­giert, über­rascht mit Blick auf die bis­he­ri­ge For­schung ein wenig, die auf eine eher star­ke insti­tu­tio­nel­le Posi­ti­on der Bun­des­ver­samm­lung hin­weist. Unser abwei­chen­des Ergeb­nis lässt sich dar­auf zurück­füh­ren, dass bis­he­ri­ge Stu­di­en die for­mel­len Befug­nis­se des Par­la­ments betrach­tet haben, wäh­rend unse­re Mes­sung die fak­ti­schen Befug­nis­se in den Blick nimmt. Letz­te­re blei­ben zum Teil hin­ter den for­mel­len Rege­lun­gen zurück.

Ver­ant­wort­lich dafür sind zum einen die beson­de­ren Rah­men­be­din­gun­gen des Par­la­ments in der halb­di­rek­ten Demo­kra­tie. Die Bun­des­ver­samm­lung ist dadurch inso­fern ein­ge­schränkt, als Eck­punk­te von Geset­zes­vor­la­gen zum Zeit­punkt der par­la­men­ta­ri­schen Bera­tung viel­fach schon durch die Ergeb­nis­se des vor­gän­gi­gen Ver­nehm­las­sungs­ver­fah­rens oder durch Refe­ren­dums­dro­hun­gen von gesell­schaft­lich rele­van­ten Akteu­ren fest­ge­legt sind. Dies schränkt den fak­ti­schen Gestal­tungs­spiel­raum des Par­la­ments im Rah­men des Gesetz­ge­bungs­ver­fah­rens ein. Die Kon­troll­funk­ti­on wird bei­spiels­wei­se durch das Feh­len einer insti­tu­tio­na­li­sier­ten Oppo­si­ti­on geschwächt, was das schwei­ze­ri­sche Par­la­ment in der Tat nicht nur zu einem res­sour­cen­be­ding­tem, son­dern auch zu einer Art insti­tu­tio­nel­lem Schein­rie­sen macht.

Daten und Methoden
Im Mit­tel­punkt unse­rer Mes­sung ste­hen die bei­den Dimen­sio­nen Insti­tu­tio­nen und Res­sour­cen. Hier­zu wer­den jeweils drei Sub­di­men­sio­nen berück­sich­tigt, die über je zwei bis drei Indi­ka­to­ren gemes­sen wer­den. Um wel­che es sich dabei han­delt, ist aus der Tabel­le ersicht­lich. Viel­fach geben die ver­fas­sungs­mäs­sig fest­ge­leg­ten Rech­te von Exe­ku­ti­ve und Legis­la­ti­ve kein völ­lig rea­li­täts­ge­treu­es Abbild der tat­säch­li­chen Ver­hält­nis­se. Bei­spiels­wei­se liegt die Initia­tiv­ho­heit für Gesetz­ge­bungs­pro­jek­te in den USA for­mell aus­schliess­lich beim Kon­gress. Tat­säch­lich wer­den aber vie­le Gesetz­ent­wür­fe durch die Exe­ku­ti­ve ein­ge­bracht, wobei for­mell Abge­ord­ne­te, die der jewei­li­gen Admi­nis­tra­ti­on nahe­ste­hen, ihr Initia­tiv­recht nut­zen. Aus die­sem Grund betrach­ten wir bei den insti­tu­tio­nel­len Indi­ka­to­ren soweit mög­lich nicht die for­mel­len Rech­te von Exe­ku­ti­ve und Legis­la­ti­ve, son­dern kon­zen­trie­ren uns auf die tat­säch­li­chen Befug­nis­se, da letzt­lich sie es sind, die das poli­ti­sche Gesche­hen prä­gen. Dafür nut­zen wir ent­spre­chen­de Mes­sun­gen bei Sebaldt (2009).

Die Unter­su­chung des Macht­ver­hält­nis­ses zwi­schen Par­la­ment und Regie­rung erfolgt anhand einer Grup­pe von 22 ent­wi­ckel­ten Demo­kra­tien: Aus­tra­li­en (AU), Bel­gi­en (BE), Däne­mark (DK), Deutsch­land (DE), Finn­land (FI), Frank­reich (FR), Gross­bri­tan­ni­en (UK), Irland (IE), Island (IS), Isra­el (IL), Ita­li­en (IT), Japan (JP), Kana­da (CA), Neu­see­land (NZ), Nie­der­lan­de (NE), Nor­we­gen (NO), Öster­reich (AT), Por­tu­gal (PT), Schwe­den (SE), Schweiz (CH), Spa­ni­en (ES) und Ver­ei­nig­te Staa­ten (US).

Über­sicht der Messung:
Dimen­si­onSub­di­men­si­onIndi­ka­tor
Insti­tu­tio­nenWahl­funk­ti­onWahl des Regie­rungs­chefs / der Regierungschefin
  Wahl der Minis­te­rin­nen / Minister
 Gesetz­ge­bungInitia­tiv­ho­heit des Par­la­ments (fak­tisch)
  Gestal­tungs­feld (fak­tisch)
  Gestal­tungs­au­to­no­mie (fak­tisch)
 Kon­trol­leRegie­rungs­ab­wahl (fak­tisch)
  Par­la­men­ta­ri­sche Kon­trol­le (fak­tisch)
  Regie­rungs­be­fra­gung
Res­sour­cenPer­so­nalWis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­ter / Mitarbeiterinnen
  Par­la­ments­se­kre­ta­ri­at
 Finan­zenEin­kom­men Parlamentsmitglieder
  Kos­ten des Parlaments
 Zeit­auf­wandZeit­auf­wand Plenum
  Zeit­auf­wand Kommissionen

 


Lite­ra­tur:

  • Sebaldt, Mar­tin (2009): Die Macht der Par­la­men­te. Funk­tio­nen und Leis­tungs­pro­fi­le natio­na­ler Volks­ver­tre­tun­gen in den alten Demo­kra­tien der Welt. Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.

 

Refe­renz:

Flick Wit­zig, Mar­ti­na und Juli­an Ber­nau­er: Aus der Balan­ce? Das Ver­hält­nis von Par­la­ment und Regie­rung im inter­na­tio­na­len Ver­gleich, in: Vat­ter, Adri­an (Hg.): Das Par­la­ment in der Schweiz. Macht und Ohn­macht der Volks­ver­tre­tung. Zürich: NZZ Libro.

 

Bild: Par­la­ment Island / Bun­des­haus (Wiki­me­dia Commons)

image_pdfimage_print