1

Ein politischer Scheinriese? – Die Schweizer Bundesversammlung im internationalen Vergleich

Julian Bernauer, Martina Flick Witzig
5th Oktober 2018

Der Beitrag geht der Frage nach, wie es um die Macht der Bundesversammlung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben steht, welche Rahmenbedingungen ihren Einfluss gegenüber der Exekutive beeinflussen und wie sich die Verhältnisse in der Schweiz im Vergleich zu anderen entwickelten Demokratien darstellen.

Mehr als politische Rechte: Zeit und Geld

Zu den klassischen Aufgaben von Parlamenten gehören die Wahl (der Regierung), Gesetzgebung und Kontrolle. Diese bilden den Ausgangspunkt für unsere Messung des Verhältnisses von Legislative und Exekutive. Die vierte oft genannte Funktion von Parlamenten, nämlich die Repräsentation und Kommunikation, betrifft vor allem die Beziehung von Parlamentarierinnen und Parlamentariern und dem Wahlvolk und bleibt deswegen ausser Acht.

Stattdessen betrachten wir zusätzlich die Ressourcenausstattung des Parlaments, die einen entscheidenden Einfluss darauf hat, inwieweit ein Parlament seine Aufgaben, insbesondere in den Bereichen Gesetzgebung und Kontrolle, faktisch ausüben kann. Daraus ergeben sich für unsere Messung zwei Dimensionen (Institutionen und Ressourcen), wobei wiederum mehrere Bestandteile wie zum Beispiel die finanzielle Ausstattung der Parlamentarier oder die Stärke ihres (wissenschaftlichen) Personals unterschieden werden können (vgl. Infobox für Details). Die Erhebung bemüht sich, ein ausgewogenes Bild der formalen Rechte und der Ausstattung wiederzugeben.

Arm, aber glücklich?

Die Abbildung verortet die so gemessene Macht des schweizerischen Parlaments im internationalen Vergleich (CH). Die Bundesversammlung erweist sich in einer Gruppe von 22 entwickelten Demokratien als schwach mit Ressourcen ausgestattet und befindet sich mit Blick auf ihre institutionellen Rechte im Mittelfeld. Nur das Parlament im bevölkerungsarmen Island, dass sich in einem unauffälligen Häuschen in Reykjavik befindet und eher mit einer kantonalen Versammlung vergleichbar ist sowie die spanische Vertretung statten ihre Abgeordneten mit noch weniger Geld und Personal aus. Die Vereinigten Staaten, Kanada oder Italien zeigen sich hier deutlich grosszügiger.

Bei den institutionellen Rechten, also etwa der Gesetzgebung oder Regierungswahl, befindet sich die Schweiz in einer soliden Position etwa auf Augenhöhe mit dem Vereinigten Königreich und Deutschland. Zu den institutionell schwächsten Parlamenten gehören (teils durch die Messung bedingt, siehe Infobox) die Vereinigten Staaten und Frankreich, aber auch Japan und Finnland, während die Parlament in Italien, Belgien und Israel die am weitesten gehenden Befugnisse aufweisen.

Es zeigt sich auch, dass die institutionelle Parlamentsmacht negativ mit der Ressourcenausstattung zusammenhängt. Stark ausgebaute institutionelle Rechte des Parlaments gehen also tendenziell mit einer geringen Ressourcenausstattung einher und umgekehrt. Auffällig sind auch die extremen Kombinationen von geringer institutioneller und hoher ressourcenbedingter Macht bei den (semi-)präsidentiellen Systemen USA und Frankreich. Am anderen Ende der Abbildung kombiniert Israel weitgehende institutionelle Kompetenzen mit geringen Ressourcen.

Welche Art von Scheinriese?

Wie unter den Bedingungen des Halbberufsparlaments zu erwarten, bildet die Schweiz also zusammen mit Spanien und Island das Schlusslicht bei den Ressourcen. Hier spiegelt sich wider, dass die Bundesversammlung im internationalen Vergleich nur in geringem Mass mit personellen Ressourcen in Form von Sekretariaten und wissenschaftlichen Mitarbeitern ausgestattet ist. Auch die knappe Sitzungszeit im Rahmen von jährlich vier Sessionen trägt zu diesem Teilergebnis bei.

Der Befund, dass die Schweiz bei den institutionellen Befugnissen im Mittelfeld der untersuchten Länder rangiert, überrascht mit Blick auf die bisherige Forschung ein wenig, die auf eine eher starke institutionelle Position der Bundesversammlung hinweist. Unser abweichendes Ergebnis lässt sich darauf zurückführen, dass bisherige Studien die formellen Befugnisse des Parlaments betrachtet haben, während unsere Messung die faktischen Befugnisse in den Blick nimmt. Letztere bleiben zum Teil hinter den formellen Regelungen zurück.

Verantwortlich dafür sind zum einen die besonderen Rahmenbedingungen des Parlaments in der halbdirekten Demokratie. Die Bundesversammlung ist dadurch insofern eingeschränkt, als Eckpunkte von Gesetzesvorlagen zum Zeitpunkt der parlamentarischen Beratung vielfach schon durch die Ergebnisse des vorgängigen Vernehmlassungsverfahrens oder durch Referendumsdrohungen von gesellschaftlich relevanten Akteuren festgelegt sind. Dies schränkt den faktischen Gestaltungsspielraum des Parlaments im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens ein. Die Kontrollfunktion wird beispielsweise durch das Fehlen einer institutionalisierten Opposition geschwächt, was das schweizerische Parlament in der Tat nicht nur zu einem ressourcenbedingtem, sondern auch zu einer Art institutionellem Scheinriesen macht.

Daten und Methoden
Im Mittelpunkt unserer Messung stehen die beiden Dimensionen Institutionen und Ressourcen. Hierzu werden jeweils drei Subdimensionen berücksichtigt, die über je zwei bis drei Indikatoren gemessen werden. Um welche es sich dabei handelt, ist aus der Tabelle ersichtlich. Vielfach geben die verfassungsmässig festgelegten Rechte von Exekutive und Legislative kein völlig realitätsgetreues Abbild der tatsächlichen Verhältnisse. Beispielsweise liegt die Initiativhoheit für Gesetzgebungsprojekte in den USA formell ausschliesslich beim Kongress. Tatsächlich werden aber viele Gesetzentwürfe durch die Exekutive eingebracht, wobei formell Abgeordnete, die der jeweiligen Administration nahestehen, ihr Initiativrecht nutzen. Aus diesem Grund betrachten wir bei den institutionellen Indikatoren soweit möglich nicht die formellen Rechte von Exekutive und Legislative, sondern konzentrieren uns auf die tatsächlichen Befugnisse, da letztlich sie es sind, die das politische Geschehen prägen. Dafür nutzen wir entsprechende Messungen bei Sebaldt (2009).

Die Untersuchung des Machtverhältnisses zwischen Parlament und Regierung erfolgt anhand einer Gruppe von 22 entwickelten Demokratien: Australien (AU), Belgien (BE), Dänemark (DK), Deutschland (DE), Finnland (FI), Frankreich (FR), Grossbritannien (UK), Irland (IE), Island (IS), Israel (IL), Italien (IT), Japan (JP), Kanada (CA), Neuseeland (NZ), Niederlande (NE), Norwegen (NO), Österreich (AT), Portugal (PT), Schweden (SE), Schweiz (CH), Spanien (ES) und Vereinigte Staaten (US).

Übersicht der Messung:
Dimension Subdimension Indikator
Institutionen Wahlfunktion Wahl des Regierungschefs / der Regierungschefin
    Wahl der Ministerinnen / Minister
  Gesetzgebung Initiativhoheit des Parlaments (faktisch)
    Gestaltungsfeld (faktisch)
    Gestaltungsautonomie (faktisch)
  Kontrolle Regierungsabwahl (faktisch)
    Parlamentarische Kontrolle (faktisch)
    Regierungsbefragung
Ressourcen Personal Wissenschaftliche Mitarbeiter / Mitarbeiterinnen
    Parlamentssekretariat
  Finanzen Einkommen Parlamentsmitglieder
    Kosten des Parlaments
  Zeitaufwand Zeitaufwand Plenum
    Zeitaufwand Kommissionen

 


Literatur:

  • Sebaldt, Martin (2009): Die Macht der Parlamente. Funktionen und Leistungsprofile nationaler Volksvertretungen in den alten Demokratien der Welt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Referenz:

Flick Witzig, Martina und Julian Bernauer: Aus der Balance? Das Verhältnis von Parlament und Regierung im internationalen Vergleich, in: Vatter, Adrian (Hg.): Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung. Zürich: NZZ Libro.

 

Bild: Parlament Island / Bundeshaus (Wikimedia Commons)