Die bernische Regierungsmehrheit wird im Berner Jura entschieden

Im Kan­ton Bern hat die fran­zö­sisch­spra­chi­ge Min­der­heit ein Anrecht auf eine Ver­tre­tung in der Regie­rung. Wie eine detail­lier­te Stu­die des Abstim­mungs­ver­hal­tens von 17 Gemein­den im Ber­ner Jura zeigt, ent­schei­den die bern­ju­ras­si­schen Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler, wel­ches poli­ti­sche Lager im Kan­ton die Mehr­heit innehat. 

Ver­si­on française

Am 25. März 2018 fan­den im Kan­ton Bern die Erneue­rungs­wah­len der Regie­rung statt. Die bür­ger­li­che Regie­rungs­mehr­heit, bestehend aus zwei Ver­tre­tern der SVP, einem FDP-Regie­rungs­rat sowie einer BDP-Regie­rungs­rä­tin, wur­de bestä­tigt. Das rot­grü­ne Lager befin­det sich mit einem Ver­ter­ter der SP sowie je einer Ver­tre­te­rin der SP sowie der Grü­nen in der Minderheit.

Von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist dabei die Tat­sa­che, dass die ber­ni­sche Regie­rungs­mehr­heit seit län­ge­rer Zeit im Ber­ner Jura ent­schie­den wird. Es stellt sich folg­lich die Fra­ge, nach wel­chen Kri­te­ri­en die Bern­ju­ras­sie­rin­nen und Bern­ju­ras­sier wäh­len. Ver­su­chen sie ange­sichts ihres stark über­pro­por­tio­na­len Gewichts die regio­na­le Stimm­kraft des Ber­ner Juras zu maxi­mie­ren oder wäh­len sie unbe­rührt davon pri­mär auf­grund ihrer par­tei­po­li­ti­schen Gesinnung? 

Berech­nung Jura-Sitz in Ber­ner Regierung
Der gemäss Ber­ner Kan­tons­ver­fas­sung garan­tier­te Jura-Sitz wird spe­zi­ell berech­net, näm­lich nach dem soge­nann­ten geo­me­tri­schen Mit­tel. Dabei wer­den die Wäh­ler­stim­men aus dem Ber­ner Jura mit den­je­ni­gen aus dem gan­zen Kan­ton Bern (inkl. Ber­ner Jura) mul­ti­pli­ziert und aus dem Ergeb­nis wird die Wur­zel gezo­gen, damit sich eine über­schau­ba­re Zahl ergibt. Die Kan­di­da­tur mit dem höchs­ten Wert erhält den durch die Ver­fas­sung garan­tier­te Jura-Sitz. Mit dem geo­me­tri­schen Mit­tel erhält der Wahl­kreis Ber­ner Jura das­sel­be Gewicht wie der gesam­te Kan­ton Bern, was dazu führt, dass eine im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ber­ner Jura abge­ge­be­ne Stim­me in der End­ab­rech­nung bis zum Acht­zehn­fa­chen einer Stim­me im deutsch­spra­chi­gen Kan­tons­teil aus­ma­chen kann. Nebst der­je­ni­gen Per­son, die den garan­tier­ten Jura-Sitz erhält, kön­nen auch noch wei­te­re Kan­di­da­tu­ren aus dem Ber­ner Jura die Wahl schaf­fen. Lan­det näm­lich einer der Kan­di­die­ren­den aus dem Ber­ner Jura im ers­ten Wahl­gang auf einem vor­de­ren Platz, ohne dass er das höchs­te geo­me­tri­sche Mit­tel erzielt, ist die­se Per­son gewählt – aber nicht als offi­zi­el­ler Jura-Ver­tre­ter. Die­se Posi­ti­on sichert sich in jedem Fall die Kan­di­da­tur mit dem höchs­ten geo­me­tri­schen Mittel.
Berechnungsmethode hat grosse Auswirkungen auf Regierungszusammensetzung im Kanton Bern

Die gros­se Hebel­wir­kung der Berech­nungs­me­tho­de für den bern­ju­ras­si­schen Regie­rungs­itz zeig­te sich exem­pla­risch bei der vor­letz­ten Wahl im Jahr 2014. Damals wur­de der bis­he­ri­ge Gesund­heits- und Für­sor­ge­di­rek­tor Phil­ip­pe Per­re­noud (SP) wie­der­ge­wählt, obwohl er fast 8‘500 Stim­men weni­ger erziel­te als der SVP-Kan­di­dat Man­fred Büh­ler. Doch der dama­li­ge Regie­rungs­rat und Jurasitz-«Inhaber» Per­re­noud lag im Ber­ner Jura mit knapp 1‘000 Stim­men vor Büh­ler, was bequem reich­te, den garan­tier­ten Jura-Sitz in der Ber­ner Regie­rung zu behal­ten. Dank die­ser Son­der­re­gel hielt die dama­li­ge rot­grü­ne Regie­rungs­mehr­heit bis zum Rück­tritt von Gesund­heits­mi­nis­ter Per­re­noud Bestand. 2016 wech­sel­te im zwei­ten Wahl­gang der nöti­gen Ersatz­wahl der garan­tier­te Jura-Sitz von der SP zu Pierre Alain Schnegg von der SVP. Er lag im zwei­ten Wahl­gang sowohl im Ber­ner Jura als auch im gan­zen Kan­ton vor­ne. Bei den Gesamt­erneue­rungs­wah­len im März 2018 kan­di­dier­ten neben Regie­rungs­rat Schnegg auch noch Mau­ra­ne Rie­sen vom sepa­ra­tis­ti­schen PSA (Par­ti Socia­lis­te Auto­no­me) sowie Chris­to­phe Gagne­bin von der pro­ber­ni­schen SP für den garan­tier­ten Jura-Sitz. Der bis­he­ri­ge Regie­rungs­rat der SVP wur­de dabei mit einem weit höhe­ren geo­me­tri­schen Mit­tel wie­der­ge­wählt als das­je­ni­ge der ande­ren zwei Kan­di­die­ren­den aus dem lin­ken poli­ti­schen Lager. 

Die Vergleichsstudie in den 17 Gemeinden

Eine vom Autor durch­ge­führ­te Ana­ly­se der Wahl­re­sul­ta­te der Gemein­den im Ber­ner Jura hat den Ein­fluss des soge­nann­ten regio­na­len Tickets auf das Schluss­re­sul­tat der Wahl für den Ber­ner Jura quan­ti­fi­ziert. Ein regio­na­les Ticket ver­sucht dabei die bern­ju­ras­si­sche Stimm­kraft zu maxi­mie­ren, indem auf den­sel­ben Wahl­zet­tel zwei oder drei Kan­di­die­ren­de des Ber­ner Juras geschrie­ben wer­den. Aus­ge­wer­tet wur­den sämt­li­che Wahl­zet­tel in 17 meist grös­se­ren Gemein­den des Ber­ner Juras. Die gesam­ten 8’311 Stimm­zet­tel die­ser 17 Gemein­den ent­spre­chen knapp 80 Pro­zent der 10’414 Stimm­zet­tel im Ber­ner Jura. Die effek­ti­ven Resul­ta­te der drei fran­zö­sisch­spra­chi­gen Kan­di­die­ren­den in die­sen 17 Gemein­den wei­chen dabei um weni­ger als fünf Pro­mil­le vom offi­zi­el­len Gesamt­re­sul­tat ab. Ins­ge­samt wur­den 1’798 regio­na­le Tickets bzw. 21.6 Pro­zent der mass­ge­ben­den Wahl­zet­tel gezählt. Die­ser auf den ers­ten Blick hohe Anteil bedeu­tet, dass fast jeder vier­te Wahl­zet­tel im Ber­ner Jura ein regio­na­les Ticket war, mit dem Ziel, die bern­ju­ras­si­sche Stimm­kraft zu maxi­mie­ren. Bemer­kens­wert ist zudem, dass in der Stadt Mou­tier, wel­che letz­tes Jahr für den Wech­sel von Bern zum Kan­ton Jura gestimmt hat, der Anteil der regio­na­len Tickets deut­lich tie­fer lag als in den geo­gra­phisch ent­fern­ten Gemein­den wie bei­spiels­wei­se Saint-Imier und La Neu­ve­vil­le. Mit ande­ren Wor­ten: Die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler von Mou­tier waren nach dem Ple­bis­zit für den Kan­ton Jura nicht mehr im sel­ben Mas­se wie die ande­ren Bern­ju­ras­sier an einer mög­lichst star­ken regio­na­len Ver­tre­tung in der Ber­ner Regie­rung inter­es­siert, son­dern wähl­ten stär­ker nach ihren par­tei­po­li­ti­schen Präferenzen.

Abbildung 1: Die Varianten des regionalen Tickets im Berner Jura

Die Abbil­dung zeigt deut­lich auf, dass das lin­ke Ticket SP-PSA mit elf Pro­zent am häu­figs­ten ein­ge­legt wur­de. Weni­ger, aber doch immer­hin in sie­ben Pro­zent der Fäl­le wur­de für das anti­se­pa­ra­tis­ti­sche Ticket PS-SVP votiert. Die zwei übri­gen Kom­bi­na­tio­nen PSA-SVP und PS-PSA-SVP blie­ben dage­gen die Aus­nah­me. Auf der Basis die­ser Aus­wer­tun­gen kann auch das Schluss­re­sul­tat der drei Kan­di­die­ren­den als Sum­me der Stim­men inner­halb der regio­na­len Tickets und den Stim­men aus den par­tei­po­li­ti­schen Wahl­zet­teln mit einem ein­zi­gen Kan­di­da­ten des Ber­ner Juras rekon­stru­iert werden.

Abbildung 2: Das regionale und parteipolitische Ticket im Vergleich

Zwei Schlüs­se kön­nen aus dem Ver­gleich des regio­na­len und des par­tei­po­li­ti­schen Wahl­ver­hal­tens gezo­gen wer­den. Ers­tens, das regio­na­le Ticket wird von den Wahl­be­rech­tig­ten aus dem Ber­ner Jura zwar immer­hin jedes fünf­te Mal ein­ge­legt, es beein­flusst aber das Schluss­re­sul­tat nur in einem beschränk­ten Aus­mass. Zwei­tens punk­te­te bei den Wah­len 2018 der bis­he­ri­ge SVP-Regie­rungs­rat Schnegg mit über 55 Pro­zent der Stim­men deut­lich bes­ser als Ein­zi­ger, also inner­halb des par­tei­po­li­ti­schen Tickets mit einem ein­zi­gen Kan­di­die­ren­den aus dem Ber­ner Jura auf den glei­chen Stimm­zet­tel im Ver­gleich zum regio­na­len Ticket mit zwei oder drei bern­ju­ras­si­schen Namen auf den glei­chen Stimm­zet­tel. In der par­tei­po­li­ti­schen Betrach­tung wider­spielt sich dabei deut­lich, dass der Amts­in­ha­ber vom Bonus des Bis­he­ri­gen pro­fi­tie­ren konn­te. Poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen der Uni­ver­si­tät Bern, die die Regie­rungs­rats­wah­len sämt­li­cher Schwei­zer Kan­to­ne ana­ly­siert haben, bele­gen, dass der Bis­he­ri­gen­bo­nus zwi­schen 15 und 20 Pro­zent gegen­über einer erst­ma­lig antre­ten­den Kan­di­da­tur beträgt.  Die Wahr­schein­lich­keit, als amtie­ren­der Regie­rungs­rat oder amtie­ren­de Regie­rungs­rä­tin bestä­tigt zu wer­den, beträgt im lang­jäh­ri­gen Schnitt sogar hohe 93 Prozent.

Schlussfolgerungen

Was heisst dies für die poli­ti­sche Zukunft des Kan­tons Bern und des Ber­ner Juras? In unse­rer Ana­ly­se wur­de auch eine vir­tu­el­le Wahl simu­liert, indem die Stim­men des regio­na­len Tickets ent­spre­chend der Par­tei­stär­ken in den beob­ach­te­ten 17 Gemein­den auf eine ein­zi­ge Stim­me ver­teilt bzw. redu­ziert wur­den. Dabei erhöh­te sich in die­ser vir­tu­el­len Wahl der Pro­zent­an­teil des bis­he­ri­gen SVP-Regie­rungs­ra­tes um wei­te­re sechs Pro­zent zu Las­ten der bei­den lin­ken Kandidierenden.

Somit kön­nen wir auf­grund der deut­li­chen Befun­de unse­rer Aus­wer­tun­gen fest­hal­ten, dass bei den Ber­ner Regie­rungs­wah­len vom 25. März 2018 zwei Fak­to­ren beim Jura-Sitz eine bedeu­ten­de Rol­le gespielt haben. Ers­tens war bei der regio­na­len Wahl­tak­tik das lin­ke Ticket SP-PSA mit Abstand das am häu­figs­ten ver­brei­te­te. Zwei­tens lag der bis­he­ri­ge SVP-Regie­rungs­rat Schnegg sehr deut­lich bei den Stimm­zet­teln mit einem ein­zi­gen Kan­di­die­ren­den des Ber­ner Juras vor­ne. Es dürf­te somit für die Lin­ken im Kan­ton Bern wei­ter­hin ein sehr schwie­ri­ges Unter­fan­gen blei­ben, den bür­ger­li­chen fran­zö­sisch­spra­chi­gen Regie­rungs­rat aus dem Ber­ner Jura zu ver­drän­gen. Umso mehr, wenn die Lin­ke wie in der Wahl 2018 uneins ist und mit zwei Kan­di­da­tu­ren antritt. Dies aber im Wei­te­ren auch des­halb, weil die Spät­fol­gen der juras­si­schen Fra­ge im gross­mehr­heit­lich pro­ber­ni­schen Ber­ner Jura immer noch eine spür­ba­re Rol­le spie­len. Der amtie­ren­de Regie­rungs­rat Schnegg von der SVP könn­te somit noch eine Wei­le lang sei­ne Rol­le als rechts­bür­ger­li­cher Scharf­ma­cher spie­len, gera­de auch dann, wenn die Stadt Mou­tier den Kan­ton Bern end­gül­tig ver­las­sen hat. Damit müs­sen sich die lin­ken Par­tei­en im Kan­ton Bern wohl oder übel dar­an gewöh­nen, dass Schnegg so schnell nicht weg ist.



Der Autor dankt Adri­an Vat­ter, Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Bern, für die Beglei­tung und Unter­süt­zung bei der Durch­füh­rung der vor­lie­gen­den Studie. 

FotoRegie­rungs­rat Bern, Staats­kanz­lei des Kan­tons Bern

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