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Die bernische Regierungsmehrheit wird im Berner Jura entschieden

Marc-André Röthlisberger
16th August 2018

Im Kanton Bern hat die französischsprachige Minderheit ein Anrecht auf eine Vertretung in der Regierung. Wie eine detaillierte Studie des Abstimmungsverhaltens von 17 Gemeinden im Berner Jura zeigt, entscheiden die bernjurassischen Wählerinnen und Wähler, welches politische Lager im Kanton die Mehrheit innehat.

Version française

Am 25. März 2018 fanden im Kanton Bern die Erneuerungswahlen der Regierung statt. Die bürgerliche Regierungsmehrheit, bestehend aus zwei Vertretern der SVP, einem FDP-Regierungsrat sowie einer BDP-Regierungsrätin, wurde bestätigt. Das rotgrüne Lager befindet sich mit einem Verterter der SP sowie je einer Vertreterin der SP sowie der Grünen in der Minderheit.

Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass die bernische Regierungsmehrheit seit längerer Zeit im Berner Jura entschieden wird. Es stellt sich folglich die Frage, nach welchen Kriterien die Bernjurassierinnen und Bernjurassier wählen. Versuchen sie angesichts ihres stark überproportionalen Gewichts die regionale Stimmkraft des Berner Juras zu maximieren oder wählen sie unberührt davon primär aufgrund ihrer parteipolitischen Gesinnung? 

Berechnung Jura-Sitz in Berner Regierung
Der gemäss Berner Kantonsverfassung garantierte Jura-Sitz wird speziell berechnet, nämlich nach dem sogenannten geometrischen Mittel. Dabei werden die Wählerstimmen aus dem Berner Jura mit denjenigen aus dem ganzen Kanton Bern (inkl. Berner Jura) multipliziert und aus dem Ergebnis wird die Wurzel gezogen, damit sich eine überschaubare Zahl ergibt. Die Kandidatur mit dem höchsten Wert erhält den durch die Verfassung garantierte Jura-Sitz. Mit dem geometrischen Mittel erhält der Wahlkreis Berner Jura dasselbe Gewicht wie der gesamte Kanton Bern, was dazu führt, dass eine im französischsprachigen Berner Jura abgegebene Stimme in der Endabrechnung bis zum Achtzehnfachen einer Stimme im deutschsprachigen Kantonsteil ausmachen kann. Nebst derjenigen Person, die den garantierten Jura-Sitz erhält, können auch noch weitere Kandidaturen aus dem Berner Jura die Wahl schaffen. Landet nämlich einer der Kandidierenden aus dem Berner Jura im ersten Wahlgang auf einem vorderen Platz, ohne dass er das höchste geometrische Mittel erzielt, ist diese Person gewählt – aber nicht als offizieller Jura-Vertreter. Diese Position sichert sich in jedem Fall die Kandidatur mit dem höchsten geometrischen Mittel.

Berechnungsmethode hat grosse Auswirkungen auf Regierungszusammensetzung im Kanton Bern

Die grosse Hebelwirkung der Berechnungsmethode für den bernjurassischen Regierungsitz zeigte sich exemplarisch bei der vorletzten Wahl im Jahr 2014. Damals wurde der bisherige Gesundheits- und Fürsorgedirektor Philippe Perrenoud (SP) wiedergewählt, obwohl er fast 8‘500 Stimmen weniger erzielte als der SVP-Kandidat Manfred Bühler. Doch der damalige Regierungsrat und Jurasitz-«Inhaber» Perrenoud lag im Berner Jura mit knapp 1‘000 Stimmen vor Bühler, was bequem reichte, den garantierten Jura-Sitz in der Berner Regierung zu behalten. Dank dieser Sonderregel hielt die damalige rotgrüne Regierungsmehrheit bis zum Rücktritt von Gesundheitsminister Perrenoud Bestand. 2016 wechselte im zweiten Wahlgang der nötigen Ersatzwahl der garantierte Jura-Sitz von der SP zu Pierre Alain Schnegg von der SVP. Er lag im zweiten Wahlgang sowohl im Berner Jura als auch im ganzen Kanton vorne. Bei den Gesamterneuerungswahlen im März 2018 kandidierten neben Regierungsrat Schnegg auch noch Maurane Riesen vom separatistischen PSA (Parti Socialiste Autonome) sowie Christophe Gagnebin von der probernischen SP für den garantierten Jura-Sitz. Der bisherige Regierungsrat der SVP wurde dabei mit einem weit höheren geometrischen Mittel wiedergewählt als dasjenige der anderen zwei Kandidierenden aus dem linken politischen Lager.  

Die Vergleichsstudie in den 17 Gemeinden

Eine vom Autor durchgeführte Analyse der Wahlresultate der Gemeinden im Berner Jura hat den Einfluss des sogenannten regionalen Tickets auf das Schlussresultat der Wahl für den Berner Jura quantifiziert. Ein regionales Ticket versucht dabei die bernjurassische Stimmkraft zu maximieren, indem auf denselben Wahlzettel zwei oder drei Kandidierende des Berner Juras geschrieben werden. Ausgewertet wurden sämtliche Wahlzettel in 17 meist grösseren Gemeinden des Berner Juras. Die gesamten 8'311 Stimmzettel dieser 17 Gemeinden entsprechen knapp 80 Prozent der 10’414 Stimmzettel im Berner Jura. Die effektiven Resultate der drei französischsprachigen Kandidierenden in diesen 17 Gemeinden weichen dabei um weniger als fünf Promille vom offiziellen Gesamtresultat ab. Insgesamt wurden 1'798 regionale Tickets bzw. 21.6 Prozent der massgebenden Wahlzettel gezählt. Dieser auf den ersten Blick hohe Anteil bedeutet, dass fast jeder vierte Wahlzettel im Berner Jura ein regionales Ticket war, mit dem Ziel, die bernjurassische Stimmkraft zu maximieren. Bemerkenswert ist zudem, dass in der Stadt Moutier, welche letztes Jahr für den Wechsel von Bern zum Kanton Jura gestimmt hat, der Anteil der regionalen Tickets deutlich tiefer lag als in den geographisch entfernten Gemeinden wie beispielsweise Saint-Imier und La Neuveville. Mit anderen Worten: Die Wählerinnen und Wähler von Moutier waren nach dem Plebiszit für den Kanton Jura nicht mehr im selben Masse wie die anderen Bernjurassier an einer möglichst starken regionalen Vertretung in der Berner Regierung interessiert, sondern wählten stärker nach ihren parteipolitischen Präferenzen.

Abbildung 1: Die Varianten des regionalen Tickets im Berner Jura

Die Abbildung zeigt deutlich auf, dass das linke Ticket SP-PSA mit elf Prozent am häufigsten eingelegt wurde. Weniger, aber doch immerhin in sieben Prozent der Fälle wurde für das antiseparatistische Ticket PS-SVP votiert. Die zwei übrigen Kombinationen PSA-SVP und PS-PSA-SVP blieben dagegen die Ausnahme. Auf der Basis dieser Auswertungen kann auch das Schlussresultat der drei Kandidierenden als Summe der Stimmen innerhalb der regionalen Tickets und den Stimmen aus den parteipolitischen Wahlzetteln mit einem einzigen Kandidaten des Berner Juras rekonstruiert werden.

Abbildung 2: Das regionale und parteipolitische Ticket im Vergleich

Zwei Schlüsse können aus dem Vergleich des regionalen und des parteipolitischen Wahlverhaltens gezogen werden. Erstens, das regionale Ticket wird von den Wahlberechtigten aus dem Berner Jura zwar immerhin jedes fünfte Mal eingelegt, es beeinflusst aber das Schlussresultat nur in einem beschränkten Ausmass. Zweitens punktete bei den Wahlen 2018 der bisherige SVP-Regierungsrat Schnegg mit über 55 Prozent der Stimmen deutlich besser als Einziger, also innerhalb des parteipolitischen Tickets mit einem einzigen Kandidierenden aus dem Berner Jura auf den gleichen Stimmzettel im Vergleich zum regionalen Ticket mit zwei oder drei bernjurassischen Namen auf den gleichen Stimmzettel. In der parteipolitischen Betrachtung widerspielt sich dabei deutlich, dass der Amtsinhaber vom Bonus des Bisherigen profitieren konnte. Politikwissenschaftliche Untersuchungen der Universität Bern, die die Regierungsratswahlen sämtlicher Schweizer Kantone analysiert haben, belegen, dass der Bisherigenbonus zwischen 15 und 20 Prozent gegenüber einer erstmalig antretenden Kandidatur beträgt.  Die Wahrscheinlichkeit, als amtierender Regierungsrat oder amtierende Regierungsrätin bestätigt zu werden, beträgt im langjährigen Schnitt sogar hohe 93 Prozent.

Schlussfolgerungen

Was heisst dies für die politische Zukunft des Kantons Bern und des Berner Juras? In unserer Analyse wurde auch eine virtuelle Wahl simuliert, indem die Stimmen des regionalen Tickets entsprechend der Parteistärken in den beobachteten 17 Gemeinden auf eine einzige Stimme verteilt bzw. reduziert wurden. Dabei erhöhte sich in dieser virtuellen Wahl der Prozentanteil des bisherigen SVP-Regierungsrates um weitere sechs Prozent zu Lasten der beiden linken Kandidierenden.

Somit können wir aufgrund der deutlichen Befunde unserer Auswertungen festhalten, dass bei den Berner Regierungswahlen vom 25. März 2018 zwei Faktoren beim Jura-Sitz eine bedeutende Rolle gespielt haben. Erstens war bei der regionalen Wahltaktik das linke Ticket SP-PSA mit Abstand das am häufigsten verbreitete. Zweitens lag der bisherige SVP-Regierungsrat Schnegg sehr deutlich bei den Stimmzetteln mit einem einzigen Kandidierenden des Berner Juras vorne. Es dürfte somit für die Linken im Kanton Bern weiterhin ein sehr schwieriges Unterfangen bleiben, den bürgerlichen französischsprachigen Regierungsrat aus dem Berner Jura zu verdrängen. Umso mehr, wenn die Linke wie in der Wahl 2018 uneins ist und mit zwei Kandidaturen antritt. Dies aber im Weiteren auch deshalb, weil die Spätfolgen der jurassischen Frage im grossmehrheitlich probernischen Berner Jura immer noch eine spürbare Rolle spielen. Der amtierende Regierungsrat Schnegg von der SVP könnte somit noch eine Weile lang seine Rolle als rechtsbürgerlicher Scharfmacher spielen, gerade auch dann, wenn die Stadt Moutier den Kanton Bern endgültig verlassen hat. Damit müssen sich die linken Parteien im Kanton Bern wohl oder übel daran gewöhnen, dass Schnegg so schnell nicht weg ist.



Der Autor dankt Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, für die Begleitung und Untersützung bei der Durchführung der vorliegenden Studie. 

FotoRegierungsrat Bern, Staatskanzlei des Kantons Bern