Wahlempfehlungshilfen: Verlässliche Wegweiser durch das Parteiensystem

Wahl­emp­feh­lungs­hil­fen oder Voting Advice App­li­ca­ti­ons (kurz VAAs) wie das schwei­ze­ri­sche smart­vo­te oder der deut­sche Wahl-O-Mat wer­den mitt­ler­wei­le in vie­len Demo­kra­tien vor Wah­len ein­ge­setzt und von Mil­lio­nen von Nut­ze­rin­nen und Nut­zern ver­wen­det. Als Instru­ment der poli­ti­schen Bil­dung sol­len sie die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger für Poli­tik inter­es­sie­ren und infor­mie­ren, vor allem jun­ge Wahl­be­rech­tig­te sol­len so an die Urne geholt wer­den. Die Grund­idee hin­ter die­sen VAAs: Sie zei­gen den Stimm­be­rech­tig­ten auf, inwie­weit sich deren poli­ti­sche Posi­tio­nen mit den­je­ni­gen der Par­tei­en decken. Damit prä­sen­tie­ren sie impli­zit auch immer ein bestimm­tes Bild davon, wie nah oder fern sich die Par­tei­en ein­an­der in ideo­lo­gi­scher Hin­sicht sind. Die Fra­ge, wie genau VAAs die Posi­tio­nen von Par­tei­en und die Bezie­hun­gen zwi­schen die­sen wie­der­ge­ben, ist damit nicht nur von aka­de­mi­schem Inter­es­se, son­dern hat auch eine prak­ti­sche Relevanz. 

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Im Kern bestehen VAAs aus einer Lis­te von Sach­fra­gen, zu denen die Posi­tio­nen von Par­tei­en vor­lie­gen – ent­we­der durch Anga­ben der Par­tei­en selbst, durch Exper­tin­nen und Exper­ten bestimmt oder durch ein Zusam­men­spiel von bei­dem. Die Nut­zer und Nut­ze­rin­nen geben in der VAA ihre Prä­fe­ren­zen zu den­sel­ben Sach­fra­gen an. Ihre Ein­ga­ben wer­den mit den Posi­tio­nen der Par­tei­en abge­gli­chen, so dass Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen ihnen und den Par­tei­en berech­net wer­den kön­nen. Da alle VAAs die Ant­wor­ten der Par­tei­en auf den Fra­gen­ka­ta­log ver­öf­fent­li­chen, ist es mög­lich, aus die­sen Daten her­aus die ideo­lo­gi­sche Struk­tur des Par­tei­en­sys­tems zu extra­hie­ren (vgl. Infobox).

Metho­dik
Tech­nisch funk­tio­niert die Bestim­mung der Par­tei­en­räu­me anhand der VAA-Daten über das Ver­fah­ren der mul­ti­di­men­sio­na­len Ska­lie­rung, wel­ches aus den Ähn­lich­keits­ma­tri­zen der Par­tei­ant­wor­ten eine räum­li­che Reprä­sen­ta­ti­on erstellt. Dabei ent­ste­hen die Dimen­sio­nen, auf denen die Par­tei­po­si­tio­nen ver­or­tet wer­den (in der Regel zwei) aus­schließ­lich aus den Daten selbst her­aus und kön­nen ent­spre­chend auch nur im Nach­hin­ein inter­pre­tiert wer­den – eine ein­fa­che inhalt­li­che Gleich­set­zung bei­spiels­wei­se mit einer links-rechts- oder libe­ral-auto­ri­tär-Ach­se ist bei die­sem Ver­fah­ren nicht mög­lich. Ent­spre­chend geben die so kon­stru­ier­ten Par­tei­en­räu­me auch die rela­ti­ven Unter­schie­de zwi­schen Par­tei­en wie­der, nicht aber eine abso­lu­te Position.

Die vor­ge­zo­ge­ne Land­tags­wahl im Okto­ber 2017 in Nie­der­sach­sen bie­tet sich als Test­mög­lich­keit an, da für die­se Wah­len drei unter­schied­li­che Wahl­emp­feh­lungs­hil­fen vor­han­den sind. Anhand der Daten aus die­sen drei unter­schied­li­chen VAAs soll gezeigt wer­den, inwie­fern der Par­tei­en­raum auf die genann­te Wei­se ver­läss­lich über VAAs erfasst und abge­bil­det wer­den kann. Ver­wen­det man sämt­li­che 99 der in den drei VAAs ent­hal­te­nen Sach­fra­gen, so ergibt sich der in Abbil­dung 1 dar­ge­stell­te Parteienraum.

Ein mög­li­ches Pro­blem von VAAs als Daten­grund­la­ge ist, dass die Aus­wahl der Sach­fra­gen die Bezie­hun­gen unter den Par­tei­en und deren Posi­tio­nen zuein­an­der bestimmt. Eine anders­ar­ti­ge Zusam­men­stel­lung der Sach­fra­gen könn­te somit zu unter­schied­li­chen Par­tei­en­räu­men füh­ren. Dadurch käme letzt­lich auch den berech­ne­ten Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen Nut­ze­rin­nen und Nut­zern und Par­tei­en bei einer VAA ein Ele­ment der Belie­big­keit zu. Zudem bie­ten eini­ge Wahl­emp­feh­lungs­hil­fen selbst eine räum­li­che Dar­stel­lung von Par­tei­po­si­tio­nen, um Nut­zern und Nut­ze­rin­nen das Par­tei­en­sys­tem zum Wahl­zeit­punkt zu ver­an­schau­li­chen. Die­se Dar­stel­lun­gen kön­nen eben­falls bereits durch die Aus­wahl von Sach­fra­gen einer VAA beein­flusst sein.

Abbildung 1: Parteienraum auf Basis von 99 Sachfragen zur Landtagswahl in Niedersachsen im Jahr 2017

Anmerkungen: Die 99 Sachfragen stammen aus den drei VAAs (Niedersachs-O-Mat, Landeswahlkompass und Wahlswiper). Die Darstellung beruht auf einer multidimensionalen Skalierung auf Intervallskalenniveau. Die Dimensionen haben keine feste inhaltliche Bedeutung, sondern sind das statistische Ergebnis der Zusammenfassung der zugrunde liegenden Informationen der Parteiunterschiede über alle Sachfragen.

 

Kon­kret kann der Aus­sa­ge­ge­halt von VAAs in Bezug auf Par­tei­räu­me durch die fol­gen­den vier Ele­men­te beein­flusst werden:

  1. die Anzahl der Sachfragen,
  2. das Mess­ni­veau der Sach­fra­gen (z.B. dicho­to­me Zustim­mung vs. Ableh­nung oder Abstu­fun­gen auf einer Ska­la von 1 bis 5),
  3. die kon­kre­te Aus­wahl der Sach­fra­gen und damit verbunden
  4. das rela­ti­ve Gewicht der The­men, denen sich die Sach­fra­gen zuord­nen las­sen (z.B. Immi­gra­ti­on, Umwelt oder Bildung).

Je nach Aus­ge­stal­tung einer VAA bezo­gen auf die­se vier Aspek­te erge­ben sich Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten, die abwei­chen­de Par­tei­en­räu­me sogar für die­sel­be Wahl erzeu­gen könn­ten. Ins­be­son­de­re liegt dies nahe, wenn sich VAAs deut­lich bezüg­lich des Anteils an Sach­fra­gen zu bestimm­ten poli­ti­schen The­men unter­schei­den. Tabel­le 1 illus­triert, dass es hier bei ein und der­sel­ben Wahl durch­aus erheb­li­che Unter­schie­de zwi­schen VAAs geben kann.

Tabelle 1: Themengewichte für drei VAAs zur Landtagswahl in Niedersachsen
The­maLan­des­wahl­kom­passNie­der­sachs-O-MatWahls­wi­per
Bil­dung23%11%13%
Gesell­schaft und Kultur10%8%0%
Immi­gra­ti­on und Integration7%8%13%
Infra­struk­tur und Verkehr3%5%10%
Inne­re Sicherheit13%13%19%
Land­wirt­schaft und Umwelt23%13%23%
Poli­ti­sches System10%11%13%
Wirt­schaft, Finan­zen, Arbeit10%26%6%
Wohl­fahrts­staat und Sozialpolitik0%5%3%
Anzahl der Sach­fra­gen insgesamt303831

Die genann­ten vier Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten beim VAA-Design schei­nen jedoch in der Regel für die Par­tei­po­si­ti­ons­mes­sung unpro­ble­ma­tisch zu sein. Dies gilt zumin­dest, wenn der Par­tei­en­raum mehr oder min­der klar durch pro­gram­ma­ti­sche Dimen­sio­nen struk­tu­riert ist. Dann liegt zumeist ein Mus­ter vor, bei dem sich Par­tei­en, die sich in Bezug auf eine Sach­fra­ge gegen­über­ste­hen, poten­ti­ell auch bei ande­ren Sach­fra­gen gegen­über­ste­hen. In die­ser für poli­ti­schen Wett­be­werb übli­chen Kon­stel­la­ti­on lie­fern VAAs ein gutes Bild des Parteienraums. 

So zeigt sich, dass der Par­tei­en­raum in Abbil­dung 1 (wel­cher über alle 99 Sach­fra­gen kon­stru­iert war) in sei­ner gro­ben Struk­tur bereits mit 20 zufäl­lig aus­ge­wähl­ten Sach­fra­gen repro­du­ziert wer­den kann. Mit 30 bis 40 erhält man bereits ein fast iden­ti­sches Bild wie mit allen 99 Sach­fra­gen. Das Ent­fer­nen einer begren­zen Anzahl von Fra­gen führt nur dann zu merk­li­chen Ände­run­gen des Par­tei­en­raums, wenn gan­ze The­men­blö­cke (z.B. inne­re Sicher­heit), also gan­ze Bün­del von Sach­fra­gen sys­te­ma­tisch aus­ge­schlos­sen wer­den – und dies auch nur bei bestimm­ten The­men. Eben­falls führt eine Ver­schie­bung der The­men­ge­wich­te bei einer gleich­blei­ben­den Gesamt­zahl an Sach­fra­gen zu kei­nen deut­lich abwei­chen­den Par­tei­en­räu­men. Dies zeigt Abbil­dung 2, in der die Par­tei­en­räu­me auf Basis der jewei­li­gen in den drei VAAs ent­hal­te­nen Sach­fra­gen bestimmt wur­den. Trotz der Unter­schie­de zwi­schen den drei VAAs in Tabel­le 1 ist das Gefü­ge der Par­tei­po­si­tio­nen sehr ähn­lich – bis auf eine ver­än­der­te ver­ti­ka­le Anord­nung von CDU, AfD und FDP in einem Fall. 

Abbildung 2: Parteienräume auf Basis von drei VAAs zu einer Wahl

Die robus­ten Ergeb­nis­se bedeu­ten jedoch nicht, dass sich eine objek­ti­ve Struk­tur von Par­tei­po­si­tio­nen durch VAAs auf­de­cken lies­se. Viel­mehr ist jeder Par­tei­en­raum an einen bestimm­ten Blick­win­kel gebun­den. Die­ser hängt davon ab, für wie rele­vant bestimm­te The­men ange­se­hen wer­den, d.h. mit wel­chem Gewicht sie in die Ana­ly­se ein­flies­sen. poli­ti­schen The­men bei­gemes­sen wird. Die VAAs sind ent­spre­chend unse­rer Ana­ly­se dahin­ge­hend gelun­gen, dass sie die poli­ti­schen The­men im Wahl­kampf gemäss ihrer Wich­tig­keit in der öffent­li­chen Mei­nung berück­sich­ti­gen. Den Kon­struk­teu­ren von VAAs scheint es offen­sicht­lich zu gelin­gen, die rela­ti­ve öffent­li­che Auf­merk­sam­keit für poli­ti­sche The­men wäh­rend des Wahl­kampfs – und damit eine Art Gesamt­per­spek­ti­ve – zu berück­sich­ti­gen. Die­se The­men­ge­wich­te müs­sen aber nicht den indi­vi­du­el­len Per­spek­ti­ven der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler, für die gege­be­nen­falls nur weni­ge The­men von Inter­es­se sind, entsprechen.

Des­halb sind Wahl­emp­feh­lungs­hil­fen als inter­ak­ti­ve Tools ide­al, um mit die­ser Per­spek­ti­ven­ab­hän­gig­keit umzu­ge­hen. Wenn Nut­ze­rin­nen und Nut­zer Sach­fra­gen oder gar The­men aus­rei­chend frei gewich­ten kön­nen, resul­tie­ren dar­aus per­so­nen­spe­zi­fi­sche Par­tei­räu­me. Wür­de jemand etwa nur Immi­gra­ti­on oder nur Wirt­schaft als wich­tig anse­hen, dann wür­de der Par­tei­en­raum jeweils anders aus­se­hen (sie­he Abbil­dung 3). Mit der Opti­on, inter­ak­tiv den Par­tei­en­raum durch unter­schied­li­che The­men­ge­wich­tun­gen zu ver­än­dern, wären räum­li­che Dar­stel­lun­gen nicht nur eine anschau­li­che und hilf­rei­che Visua­li­sie­rung, sie könn­ten viel­mehr die invol­vier­te Per­spek­ti­vi­tät selbst plas­tisch machen und somit als indi­vi­du­el­le Weg­wei­ser durch kom­ple­xe Par­tei­en­räu­me die­nen. Alter­na­tiv soll­ten VAAs zumin­dest offen kom­mu­ni­zie­ren, wel­che The­men­ge­wich­tung ihnen zugrun­de liegt.

Abbildung 3: Zwei spezielle Perspektiven auf den Parteienraum


Refe­renz:
 

 

Bild: Autoren

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