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Wahlempfehlungshilfen: Verlässliche Wegweiser durch das Parteiensystem

Sebastian Jäckle, Pascal D. König
10th Juli 2018

Wahlempfehlungshilfen oder Voting Advice Applications (kurz VAAs) wie das schweizerische smartvote oder der deutsche Wahl-O-Mat werden mittlerweile in vielen Demokratien vor Wahlen eingesetzt und von Millionen von Nutzerinnen und Nutzern verwendet. Als Instrument der politischen Bildung sollen sie die Bürgerinnen und Bürger für Politik interessieren und informieren, vor allem junge Wahlberechtigte sollen so an die Urne geholt werden. Die Grundidee hinter diesen VAAs: Sie zeigen den Stimmberechtigten auf, inwieweit sich deren politische Positionen mit denjenigen der Parteien decken. Damit präsentieren sie implizit auch immer ein bestimmtes Bild davon, wie nah oder fern sich die Parteien einander in ideologischer Hinsicht sind. Die Frage, wie genau VAAs die Positionen von Parteien und die Beziehungen zwischen diesen wiedergeben, ist damit nicht nur von akademischem Interesse, sondern hat auch eine praktische Relevanz.

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Im Kern bestehen VAAs aus einer Liste von Sachfragen, zu denen die Positionen von Parteien vorliegen – entweder durch Angaben der Parteien selbst, durch Expertinnen und Experten bestimmt oder durch ein Zusammenspiel von beidem. Die Nutzer und Nutzerinnen geben in der VAA ihre Präferenzen zu denselben Sachfragen an. Ihre Eingaben werden mit den Positionen der Parteien abgeglichen, so dass Übereinstimmungen zwischen ihnen und den Parteien berechnet werden können. Da alle VAAs die Antworten der Parteien auf den Fragenkatalog veröffentlichen, ist es möglich, aus diesen Daten heraus die ideologische Struktur des Parteiensystems zu extrahieren (vgl. Infobox).

Methodik
Technisch funktioniert die Bestimmung der Parteienräume anhand der VAA-Daten über das Verfahren der multidimensionalen Skalierung, welches aus den Ähnlichkeitsmatrizen der Parteiantworten eine räumliche Repräsentation erstellt. Dabei entstehen die Dimensionen, auf denen die Parteipositionen verortet werden (in der Regel zwei) ausschließlich aus den Daten selbst heraus und können entsprechend auch nur im Nachhinein interpretiert werden – eine einfache inhaltliche Gleichsetzung beispielsweise mit einer links-rechts- oder liberal-autoritär-Achse ist bei diesem Verfahren nicht möglich. Entsprechend geben die so konstruierten Parteienräume auch die relativen Unterschiede zwischen Parteien wieder, nicht aber eine absolute Position.

Die vorgezogene Landtagswahl im Oktober 2017 in Niedersachsen bietet sich als Testmöglichkeit an, da für diese Wahlen drei unterschiedliche Wahlempfehlungshilfen vorhanden sind. Anhand der Daten aus diesen drei unterschiedlichen VAAs soll gezeigt werden, inwiefern der Parteienraum auf die genannte Weise verlässlich über VAAs erfasst und abgebildet werden kann. Verwendet man sämtliche 99 der in den drei VAAs enthaltenen Sachfragen, so ergibt sich der in Abbildung 1 dargestellte Parteienraum.

Ein mögliches Problem von VAAs als Datengrundlage ist, dass die Auswahl der Sachfragen die Beziehungen unter den Parteien und deren Positionen zueinander bestimmt. Eine andersartige Zusammenstellung der Sachfragen könnte somit zu unterschiedlichen Parteienräumen führen. Dadurch käme letztlich auch den berechneten Übereinstimmungen zwischen Nutzerinnen und Nutzern und Parteien bei einer VAA ein Element der Beliebigkeit zu. Zudem bieten einige Wahlempfehlungshilfen selbst eine räumliche Darstellung von Parteipositionen, um Nutzern und Nutzerinnen das Parteiensystem zum Wahlzeitpunkt zu veranschaulichen. Diese Darstellungen können ebenfalls bereits durch die Auswahl von Sachfragen einer VAA beeinflusst sein.

Abbildung 1: Parteienraum auf Basis von 99 Sachfragen zur Landtagswahl in Niedersachsen im Jahr 2017

Anmerkungen: Die 99 Sachfragen stammen aus den drei VAAs (Niedersachs-O-Mat, Landeswahlkompass und Wahlswiper). Die Darstellung beruht auf einer multidimensionalen Skalierung auf Intervallskalenniveau. Die Dimensionen haben keine feste inhaltliche Bedeutung, sondern sind das statistische Ergebnis der Zusammenfassung der zugrunde liegenden Informationen der Parteiunterschiede über alle Sachfragen.

 

Konkret kann der Aussagegehalt von VAAs in Bezug auf Parteiräume durch die folgenden vier Elemente beeinflusst werden:

  1. die Anzahl der Sachfragen,
  2. das Messniveau der Sachfragen (z.B. dichotome Zustimmung vs. Ablehnung oder Abstufungen auf einer Skala von 1 bis 5),
  3. die konkrete Auswahl der Sachfragen und damit verbunden
  4. das relative Gewicht der Themen, denen sich die Sachfragen zuordnen lassen (z.B. Immigration, Umwelt oder Bildung).

Je nach Ausgestaltung einer VAA bezogen auf diese vier Aspekte ergeben sich Gestaltungsmöglichkeiten, die abweichende Parteienräume sogar für dieselbe Wahl erzeugen könnten. Insbesondere liegt dies nahe, wenn sich VAAs deutlich bezüglich des Anteils an Sachfragen zu bestimmten politischen Themen unterscheiden. Tabelle 1 illustriert, dass es hier bei ein und derselben Wahl durchaus erhebliche Unterschiede zwischen VAAs geben kann.

Tabelle 1: Themengewichte für drei VAAs zur Landtagswahl in Niedersachsen
Thema Landeswahlkompass Niedersachs-O-Mat Wahlswiper
Bildung 23% 11% 13%
Gesellschaft und Kultur 10% 8% 0%
Immigration und Integration 7% 8% 13%
Infrastruktur und Verkehr 3% 5% 10%
Innere Sicherheit 13% 13% 19%
Landwirtschaft und Umwelt 23% 13% 23%
Politisches System 10% 11% 13%
Wirtschaft, Finanzen, Arbeit 10% 26% 6%
Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik 0% 5% 3%
Anzahl der Sachfragen insgesamt 30 38 31

Die genannten vier Gestaltungsmöglichkeiten beim VAA-Design scheinen jedoch in der Regel für die Parteipositionsmessung unproblematisch zu sein. Dies gilt zumindest, wenn der Parteienraum mehr oder minder klar durch programmatische Dimensionen strukturiert ist. Dann liegt zumeist ein Muster vor, bei dem sich Parteien, die sich in Bezug auf eine Sachfrage gegenüberstehen, potentiell auch bei anderen Sachfragen gegenüberstehen. In dieser für politischen Wettbewerb üblichen Konstellation liefern VAAs ein gutes Bild des Parteienraums. 

So zeigt sich, dass der Parteienraum in Abbildung 1 (welcher über alle 99 Sachfragen konstruiert war) in seiner groben Struktur bereits mit 20 zufällig ausgewählten Sachfragen reproduziert werden kann. Mit 30 bis 40 erhält man bereits ein fast identisches Bild wie mit allen 99 Sachfragen. Das Entfernen einer begrenzen Anzahl von Fragen führt nur dann zu merklichen Änderungen des Parteienraums, wenn ganze Themenblöcke (z.B. innere Sicherheit), also ganze Bündel von Sachfragen systematisch ausgeschlossen werden – und dies auch nur bei bestimmten Themen. Ebenfalls führt eine Verschiebung der Themengewichte bei einer gleichbleibenden Gesamtzahl an Sachfragen zu keinen deutlich abweichenden Parteienräumen. Dies zeigt Abbildung 2, in der die Parteienräume auf Basis der jeweiligen in den drei VAAs enthaltenen Sachfragen bestimmt wurden. Trotz der Unterschiede zwischen den drei VAAs in Tabelle 1 ist das Gefüge der Parteipositionen sehr ähnlich – bis auf eine veränderte vertikale Anordnung von CDU, AfD und FDP in einem Fall. 

Abbildung 2: Parteienräume auf Basis von drei VAAs zu einer Wahl

Die robusten Ergebnisse bedeuten jedoch nicht, dass sich eine objektive Struktur von Parteipositionen durch VAAs aufdecken liesse. Vielmehr ist jeder Parteienraum an einen bestimmten Blickwinkel gebunden. Dieser hängt davon ab, für wie relevant bestimmte Themen angesehen werden, d.h. mit welchem Gewicht sie in die Analyse einfliessen. politischen Themen beigemessen wird. Die VAAs sind entsprechend unserer Analyse dahingehend gelungen, dass sie die politischen Themen im Wahlkampf gemäss ihrer Wichtigkeit in der öffentlichen Meinung berücksichtigen. Den Konstrukteuren von VAAs scheint es offensichtlich zu gelingen, die relative öffentliche Aufmerksamkeit für politische Themen während des Wahlkampfs – und damit eine Art Gesamtperspektive – zu berücksichtigen. Diese Themengewichte müssen aber nicht den individuellen Perspektiven der Wählerinnen und Wähler, für die gegebenenfalls nur wenige Themen von Interesse sind, entsprechen.

Deshalb sind Wahlempfehlungshilfen als interaktive Tools ideal, um mit dieser Perspektivenabhängigkeit umzugehen. Wenn Nutzerinnen und Nutzer Sachfragen oder gar Themen ausreichend frei gewichten können, resultieren daraus personenspezifische Parteiräume. Würde jemand etwa nur Immigration oder nur Wirtschaft als wichtig ansehen, dann würde der Parteienraum jeweils anders aussehen (siehe Abbildung 3). Mit der Option, interaktiv den Parteienraum durch unterschiedliche Themengewichtungen zu verändern, wären räumliche Darstellungen nicht nur eine anschauliche und hilfreiche Visualisierung, sie könnten vielmehr die involvierte Perspektivität selbst plastisch machen und somit als individuelle Wegweiser durch komplexe Parteienräume dienen. Alternativ sollten VAAs zumindest offen kommunizieren, welche Themengewichtung ihnen zugrunde liegt.

Abbildung 3: Zwei spezielle Perspektiven auf den Parteienraum


Referenz:
 

 

Bild: Autoren