Die Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde ist tiefer als vermutet

Eine Aus­wer­tung von Fotos weist dar­auf hin, dass jeweils nur etwa 10 Pro­zent der Glar­ner Stimm­be­rech­tig­ten an der Lands­ge­mein­de teil­neh­men. Ist das ein Pro­blem für ihre demo­kra­ti­sche Legitimität?

Jeden ers­ten Mai­sonn­tag ver­sam­meln sich die Glar­ner Stimm­be­rech­tig­ten auf dem Zaun­platz, um «zu raten, zu min­dern und zu meh­ren». Vie­len Glar­ne­rin­nen und Glar­nern und auch Aus­sen­ste­hen­den gilt die Lands­ge­mein­de als «Juwel der Demo­kra­tie», wie es die «Welt­wo­che» kürz­lich aus­drück­te. Tat­säch­lich bie­tet die Lands­ge­mein­de sehr weit­ge­hen­de Mit­be­stim­mungs­rech­te. Aller­dings weiss nie­mand, wie vie­le Stimm­be­rech­tig­te von die­sen Rech­ten tat­säch­lich Gebrauch machen. Bis­he­ri­ge Schät­zun­gen gin­gen für eine nor­mal besuch­te Lands­ge­mein­de von 5000 bis 8000 Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mern – rund 20 bis 30 Pro­zent der 26‘000 Stimm­be­rech­tig­ten – aus. Bis zu 14’000 schätz­te man für gut besuch­te Ver­samm­lun­gen wie die aus­ser­or­dent­li­che Lands­ge­mein­de 2007. Weil in Gla­rus anders als in Appen­zell kei­ne Mög­lich­keit zur Aus­zäh­lung besteht, gibt es aber kei­ne gesi­cher­ten Zahlen.

 

Rückgang über die Zeit

In einer kürz­lich publi­zier­ten wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chung haben wir die Betei­li­gung an der Glar­ner Lands­ge­mein­de nun erst­mals sys­te­ma­tisch aus­ge­wer­tet. Wir haben dazu Gesamt­auf­nah­men des Rings elek­tro­nisch und manu­ell ausgezählt.

Das Ergeb­nis über­rascht: Gemäss der Ana­ly­se neh­men deut­lich weni­ger Leu­te teil als bis­her ver­mu­tet. Seit der Jahr­tau­send­wen­de lag die durch­schnitt­li­che Betei­li­gung dem­nach bei nur gera­de 2600 Per­so­nen oder 10 Pro­zent der Stimm­be­rech­tig­ten. Kein ein­zi­ges der 17 Fotos seit 2001 zeigt mehr als 3700 Per­so­nen (14 Pro­zent der Stimm­be­rech­tig­ten). Dabei zeigt sich ein signi­fi­kan­ter Rück­gang über die Zeit: Betrug die durch­schnitt­li­che Betei­li­gung 1954–1971 26 Pro­zent, waren es 1972–1985 noch 12 Pro­zent und 2001–2017 10 Pro­zent. Beson­ders deut­lich ist der Knick nach der Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts 1971. Das ist ein Hin­weis dar­auf, dass die Betei­li­gung unter den Frau­en in den ers­ten Jah­ren wesent­lich tie­fer lag als jene der Männer.

Bei ande­ren Fak­to­ren zeigt sich hin­ge­gen kein sta­tis­tisch signi­fi­kan­ter Ein­fluss auf die Stimm­be­tei­li­gung. Bemer­kens­wert ist, dass für das Wet­ter kei­ne ein­deu­ti­gen Aus­wir­kun­gen auf die Teil­neh­mer­zahl fest­ge­stellt wer­den kön­nen, eben­so wenig für die Anzahl der Trak­tan­den oder der knap­pen Abstimmungen.

 

Weniger Leute als an der Urne

Im Ver­gleich mit Urnen­ab­stim­mun­gen sind die­se Betei­li­gungs­zah­len tief. So nah­men im Durch­schnitt der letz­ten Jah­re immer­hin 39 Pro­zent der Glar­ner Stimm­be­rech­tig­ten an den eid­ge­nös­si­schen Urnen­gän­gen teil. Und in den vier Nach­bar­kan­to­nen von Gla­rus gehen bei Abstim­mun­gen, bei denen (wie an der Lands­ge­mein­de) aus­schliess­lich über kan­to­na­le Vor­la­gen abge­stimmt wird, durch­schnitt­lich 30 Pro­zent an die Urne.

Wie gezählt wurde
Für die Unter­su­chung wur­den ins­ge­samt 40 Gesamt­auf­nah­men des Rings aus 28 Jah­ren aus­ge­wer­tet. Zum einen ver­wen­de­ten wir die von der Uni­ver­si­ty of Cen­tral Flo­ri­da ent­wi­ckel­te Soft­ware Human detec­tor, die dar­auf spe­zia­li­siert ist, Per­so­nen in gros­sen Men­schen­men­gen zu zäh­len. Zur Über­prü­fung zähl­ten wir einen Teil der Bil­der zusätz­lich auch von Hand aus. Weil man­che Leu­te von ande­ren Per­so­nen, Stan­gen oder ähn­li­chem ver­deckt wer­den und weil die Bild­qua­li­tät meist nicht per­fekt ist, pass­ten wir die Zah­len nach oben an.

Zwei­fel­los sind die ermit­tel­ten Zah­len mit gewis­sen Unschär­fen behaf­tet, auch weil die Betei­li­gung wäh­rend einer Lands­ge­mein­de schwankt. Die Grös­sen­ord­nung der Ergeb­nis­se ist jedoch sta­bil, gleich ob man Fotos vom Beginn, der Mit­te oder dem Ende einer Lands­ge­mein­de betrach­tet und ob man sie elek­tro­nisch oder von Hand auszählt.

Das ist nicht unbe­dingt über­ra­schend, ist die Teil­nah­me an einer Ver­samm­lung doch deut­lich auf­wän­di­ger als das Abstim­men an der Urne, bezie­hungs­wei­se per Post. Meh­re­re Stun­den lang an einem vor­ge­ge­be­nen Tag im Ring zu ste­hen, womög­lich in strö­men­dem Regen, ist nun mal nicht das glei­che wie einen Zet­tel in ein Cou­vert zu ste­cken und in den nächs­ten Brief­kas­ten zu wer­fen. Aber auch im Ver­gleich zur Appen­zel­ler Lands­ge­mein­de schnei­det Gla­rus nicht gut ab: Dort ist eine Betei­li­gung um die 30 Pro­zent üblich. Immer­hin ist die Betei­li­gung an der Glar­ner Lands­ge­mein­de höher als an Gemein­de­ver­samm­lun­gen: In Gla­rus Nord gehen im Durch­schnitt nur 3,8 Pro­zent der Stimm­be­rech­tig­ten an die Gemein­de­ver­samm­lun­gen, in Gla­rus 4,8 Pro­zent und in Gla­rus Süd 5,9 Pro­zent. In Gemein­den ähn­li­cher Grös­se in ande­ren Kan­to­nen ist der Anteil noch niedriger.

 

Ein Problem für die Demokratie? Jein

Ist die rela­tiv schwa­che Betei­li­gung an der Glar­ner Lands­ge­mein­de für die Demo­kra­tie ein Pro­blem? Ein Stück weit ja, denn in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung ver­leiht eine höhe­re Betei­li­gung einem Abstim­mungs­er­geb­nis eine stär­ke­re Legi­ti­mi­tät. Von vie­len wird das Betei­li­gungs­ni­veau auch als Zei­chen für den gesell­schaft­li­chen Rück­halt der Demo­kra­tie über­haupt gesehen.

Pro­ble­ma­ti­scher als eine tie­fe Betei­li­gung ist aber eine ver­zerr­te Betei­li­gung, wenn also ein­zel­ne Bevöl­ke­rungs­grup­pen viel schwä­cher ver­tre­ten sind als ande­re. Dann ist näm­lich die Gefahr gross, dass Abstim­mun­gen anders aus­fal­len, als wenn sich alle dar­an betei­ligt hät­ten. Frü­he­re Unter­su­chun­gen wei­sen indes dar­auf hin, dass Bür­ger­ver­samm­lun­gen zwar von weni­gen Per­so­nen besucht wer­den, die­se aber die Bevöl­ke­rung recht gut abbil­den: Die bekann­te Über­ver­tre­tung von älte­ren, ein­kom­mens­star­ken und gut­aus­ge­bil­de­ten Bür­gern scheint an der Lands­ge­mein­de schwä­cher als an der Urne. Hin­ge­gen sind Frau­en an Ver­samm­lun­gen deut­lich stär­ker unter­ver­tre­ten als an Urnenabstimmungen.

Im Übri­gen heisst eine durch­schnitt­li­che Stimm­be­tei­li­gung von 10 Pro­zent nicht, dass neun Zehn­tel sich über­haupt nie betei­li­gen. An der Urne neh­men inner­halb von fünf Jah­ren gut 90 Pro­zent der Stimm­be­rech­tig­ten an min­des­tens einer Abstim­mung teil, auch wenn es bei den ein­zel­nen Abstim­mun­gen jeweils unter 50 Pro­zent sind. Auch in Gla­rus gehen vie­le Stimm­be­rech­tig­te zwar nicht jedes Jahr und für die gan­ze Zeit in den Ring, son­dern ab und zu und je nach trak­tan­dier­ten Geschäften.

 

Mögliche Massnahmen

Auch wenn man die nied­ri­ge Betei­li­gung an der Lands­ge­mein­de also nicht zu dra­ma­ti­sie­ren braucht, darf man sich fra­gen, ob man sie mit bestimm­ten Mass­nah­men erhö­hen könn­te. Dass eine Lands­ge­mein­de­teil­nah­me auf­wän­di­ger und an einen fixen Tag und Ort gebun­den ist, lässt sich zwar nicht ändern. Die Teil­nah­me lies­se sich aber immer­hin erleich­tern, indem der Kom­fort im Ring etwas erhöht wür­de – zum Bei­spiel mit Rücken­leh­nen an den Sitz­bän­ken oder mit der Über­da­chung eines Teils des Rings gegen Regen und Son­ne. Auch eine Stär­kung der poli­ti­schen Bil­dung – nicht nur in der Schu­le, son­dern auch in Fami­lie und Zivil­ge­sell­schaft – dürf­te sich posi­tiv aus­wir­ken. Geld­bus­sen für Nicht-Teil­neh­men­de wären gemäss den Erfah­run­gen etwa in Schaff­hau­sen sehr wirk­sam, aber in Gla­rus wohl kaum mehr­heits­fä­hig. Freund­li­cher, aber in den Aus­wir­kun­gen weni­ger klar wäre die Abga­be mate­ri­el­ler Beloh­nun­gen an Teilnehmende.

Sicher ist auf jeden Fall, dass der demo­kra­ti­sche Wert der Lands­ge­mein­de sich nicht an der Stimm­be­tei­li­gung allein bemisst. Nebst wei­te­ren Nach­tei­len, etwa dem feh­len­den Stimm­ge­heim­nis oder einer sehr star­ken Stel­lung der Regie­rung, bie­tet sie auch gewich­ti­ge Vor­tei­le wie das glei­che Rede­recht für alle oder die weit­ge­hen­den und dif­fe­ren­zier­ten Antrags­rech­te. Wer die Lands­ge­mein­de – und die Urne – als Gesamt­pa­ket beur­teilt, soll­te stets sowohl Stär­ken als auch Schwä­chen im Blick haben.

 


 

Bei­trag: Hans-Peter Schaub und Lukas Leu­zin­ger: Die Stimm­be­tei­li­gung an der Glar­ner Lands­ge­mein­de. LeGes 29 (2018) 1.

Bild: ZvG

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