Am kommenden Sonntag, dem 6. Mai 2018, findet in Glarus wieder die alljährliche Landsgemeinde statt. In keinem anderen Schweizer Kanton haben die Stimmberechtigten so ausgeprägte politische Rechte wie dort. Doch wie häufig nützen Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte tatsächlich? Und wer nutzt sie und mit welchem Resultat? Wir gingen diesen Fragen nach und präsentieren vier zentrale Erkenntnisse.
An der jährlich stattfindenden Landsgemeinde des Kantons Glarus kann ein einziger Stimmberechtigter nicht nur die Ablehnung oder Rückweisung eines Gesetzes oder einer Verfassungsänderung beantragen, sondern auch ganz konkrete Änderungen am vorgelegten Text vorschlagen. Die Bedingung ist, dass alle Anträge persönlich vor versammelter Bürgerschaft gestellt und begründet werden müssen.
Die Bürgerinnen und Bürger haben also nicht nur eine Fülle an politischen Rechten; die formellen Hürden zu deren Nutzung sind auch noch extrem tief. Doch machen einfache Bürgerinnen und Bürger tatsächlich Gebrauch von ihren politischen Mitwirkungsrechten? Und wenn ja, wie erfolgreich sind sie damit? Oder dient die Landsgemeinde womöglich vor allem der Profilierung der «classe politique»?
Auswertung der Landsgemeinde-Voten
In einem vor kurzem in der Zeitschrift Policy & Politics erschienenen Artikel gingen wir diesen Fragen nach. Zum einen haben wir Häufigkeit und Erfolg von Landsgemeinde-Anträgen, die von Glarner Bürgerinnen und Bürger ohne politisches Amt gestellt wurden, betrachtet. Zum anderen haben wir analysiert, wie gut sie im Vergleich mit Politikerinnen und Politikern ihre Anliegen begründen. Für alle vierzehn Landsgemeinden der Jahre 2000 bis 2012 (im Jahr 2007 fanden zwei statt) haben wir dazu die argumentative Qualität jeder einzelnen Rede (insgesamt 492) beurteilt. Diese haben wir dann in Zusammenhang mit Antragsart, Urheberschaft und Abstimmungsausgang gestellt. Aus unserer Untersuchung konnten wir vier zentrale Erkenntnisse gewinnen:
- Beiträge von Bürgerinnen und Bürger sind überwiegend behördenkritisch
Wir haben alle Rednerinnen und Redner in die Kategorie «Politiker/in» bzw. «Bürger/in» eingeteilt. Alle Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Rede ein gewähltes Amt auf lokaler, kantonaler oder Bundesebene innehatten, betrachteten wir als Politikerin bzw. Politiker. Dazu gehören Regierungs- und Landrätinnen, Gemeinderäte und -präsidenten (sowie, in Glarus Nord zwischen 2010 und 2016, Gemeindeparlamentarier) sowie National- und Ständeräte. Sofern die antragsstellende Person kein solches Amt innehatte, wurde sie als einfacher Bürger, resp. einfache Bürgerin eingestuft.
Wenn wir nun Gesamtanzahl und -richtung aller Anträge dieser beiden Kategorien anschauen, stellen wir fest, dass einfache Bürgerinnen bzw. Bürger überwiegend behördenkritische Anliegen einbringen (vgl. Abbildung 1; alles oberhalb der roten Linie ist überproportional). Dazu gehören Anträge auf Ablehnung, Abänderung, Rückweisung und Verschieben; ebenso Anträge auf Annahme eines Memorialsantrags (MA).[1] Wir stellen aber auch fest, dass Personen mit einem politischen Amt die Mehrheit aller Landsgemeindereden halten. Bürgerinnen und Bürger halten lediglich 41 Prozent aller Reden (N=492).
Abbildung 1: Häufigkeit der Antragtypen nach Akteurskategorie in Prozent (absolute Zahlen in den Balken)
Das behördenkritische Verhalten der Bürger ist zu relativieren, wenn betrachtet wird, zu wie vielen Geschäften überhaupt ein Antrag gestellt wurde. Hier zeigt sich, dass bei 57 Prozent aller Traktanden (ohne Wahlen) ein Antrag ausblieb und das Glarner Stimmvolk somit seine implizite Zustimmung zu den Landratsvorlagen geäussert hat. Gleichwohl ist eine Antragsrate über vierzig Prozent beachtlich, wenn man bedenkt, dass auf nationaler Ebene nur gegen knapp acht Prozent aller Gesetze das fakultative Referendum ergriffen wird (Linder und Mueller 2017, 305).
- PolitikerInnen argumentieren besser als einfache BürgerInnen
„Wer sich zu einer Sachvorlage äussern will, hat zuerst seinen Antrag zu formulieren und ihn danach kurz zu begründen.“ So lautet Art. 65 Abs. 5 der Glarner Kantonsverfassung, der die Anforderungen an eine an der Landsgemeinde vorgetragene Rede spezifiziert. Damit nimmt die Kantonsverfassung ein überaus zentrales Element des Habermas’schen Verständnis von Deliberation auf: Begründungsrationalität. Gemeint ist damit das Beisteuern von Argumenten zur Untermauerung der eigenen Position, damit diese intersubjektiv nachvollzogen werden kann.
Mit Hilfe des bestehenden Diskursqualitätsindexes (vgl. Infobox) haben wir die Qualität der Begründungsrationalität jedes Beitrags anhand einer Fünf-Punkte-Skala (Code 0–4) bewertet. Hier zeigt sich, dass auch der „einfache“ Bürger überwiegend Reden guter (Code 2), sehr guter (Code 3) oder in einzelnen Fällen gar exzellenter Qualität (Code 4) beigesteuert hat (vgl. Abbildung 2).
Während jedoch unter Bürgerinnen und Bürgern der Modus bei Reden guter Qualität liegt (Code 2), findet sich dieser bei Politikerinnen und Politikern eine Kategorie höher (Code 3). Im multivariaten Vergleich bestätigt sich, dass Mitglieder der politischen Elite auch unter Kontrolle anderer Einflussfaktoren – wie etwa Thema oder Art des Antrags oder ob die Rede im Namen einer Partei erfolgt – tatsächlich besser argumentieren als „normale“ Bürger. Erstere sind es sich dank ihrer Erfahrung in Parlament, vorberatenden Kommissionen oder auf Diskussionspodien scheinbar gewohnt, komplexe Materien auf den Punkt zu bringen, vorteilhafte Argumente zu selektieren, diese in ihren Reden sinnvoll zu strukturieren und gegebenenfalls gar Gegenargumente zu antizipieren.
Abbildung 2: Reden und ihre Begründungsrationalität
- Exzellente Reden, auch von BürgerInnen, sind häufiger erfolgreich…
Der Legende nach kann eine einzige gute Landsgemeinderede matchentscheidend sein. Doch stimmt dies tatsächlich? Unsere Erkenntnisse – basierend auf hierarchischen Regressionsmodellen – bieten Hinweise darauf, dass dem tatsächlich so sein könnte. Ein gut begründeter Antrag hat bessere Erfolgschancen als ein weniger gut begründeter. Und zwar unabhängig davon, ob eine Bürgerin oder ein Bürger mit oder ohne politisches Amt ihn stellt und egal, wie viele Leute den gleichen Antrag vertreten. Dazu kommt, dass bereits ein einzelner Bürgerantrag auf dem höchsten argumentativen Niveau ausreicht, um einer Vorlage signifikant höhere Erfolgschancen zu bescheren. Dies jedoch nur…
- …sofern kein/e PolitikerIn mit einem Beitrag gleicher Qualität dagegenhält
Schliesslich zeigt sich trotz all der obigen Erkenntnisse, dass die Legende schnell ins Reich des Mystischen zurückgedrängt werden kann: Gemäss unseren Interaktionsmodellen reicht eine einzige exzellente Gegenrede eines Politikers – die häufiger vorkommen als exzellente Bürgerreden – aus, um den Effekt einer exzellenten Bürgerrede abzuschwächen. Gleichwohl beweist sich die Landsgemeinde in Bezug auf die Begründungsrationalität als deliberative Arena, in der nicht bloss leere Voten präsentiert, sondern grossmehrheitlich sachlich und kompetent für die eigene Position geworben wird und die politische Elite dazu angehalten ist, die Motive für ihre Entscheide transparent und rationell darzulegen. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger können sich bei ihrer Entscheidung somit auf die Auswertung eines grossen Pools an Pro- und Kontra-Argumenten stützen. Der Kontrast zu den vielbesungenen «Echokammern» auf Facebook, Twitter etc. könnte somit stärker nicht sein.
Codierung der Begründungsrationalität, in Anlehnung an den Diskursqualitätsindex (DQI; Steiner et al. 2004)
0 = keine Begründung. Es wird lediglich ein Antrag gestellt; ein Argument zu dessen Begründung fehlt.
1 = ungenügende Begründung. Hier existieren zwar Ausführungen zur Begründung des Antrags. Es besteht jedoch lediglich eine unvollständige oder lose Verbindung zwischen dem Antrag und seiner Rechtfertigung, resp. die Begründung ist nicht abschliessend intersubjektiv nachvollziehbar.
2 = qualifizierte Begründung. Es gibt eine einzige, dafür intersubjektiv nachvollziehbare Verbindung zwischen einem Antrag und dem Argument dafür.
3 = anspruchsvolle Begründung. Mindestens zwei voneinander unabhängige Argumente für denselben Antrag werden geliefert. Diese sind intersubjektiv nachvollziehbar.
4 = anspruchsvolle, tiefe und differenzierte Begründung. Mindestens zwei voneinander unabhängige Argumente für denselben Antrag sind vorhanden. Diese Argumente wurden ausgearbeitet und differenziert vorgetragen (z.B. durch Aufzeigen möglicher Konsequenzen). Das Problem wird so quasi-wissenschaftlich und unter Einbezug verschiedener Standpunkte untersucht.
[1] Ein Memorialsantrag ist eine Art Verfassungs- oder Gesetzesinitiative, der von einer einzigen Person jederzeit (aber ausserhalb einer Landsgemeinde) eingereicht werden kann. Die Initiative wird der Landsgemeinde mit einer Empfehlung vorgelegt, sofern sie rechtlich zulässig ist und mindestens 10 Stimmen aus dem 60-köpfigen kantonalen Parlament (Landrat) auf sich vereint. Ist Letzteres nicht der Fall, hat die Landsgemeinde zu entscheiden, ob der Landrat nicht doch darauf eintreten soll.
Literatur
- Gerber, Marlène und Sean Mueller (2017). When the People Speak – and Decide: Deliberation and Direct Democracy in the Citizen Assembly of Glarus, Switzerland. Policy & Politics, early view.
- Linder, Wolf, und Sean Mueller (2017). Schweizerische Demokratie: Institutionen, Prozesse, Perspektive. Bern: Haupt.
- Steiner, Jürg, André Bächtiger, Markus Spörndli und Marco Steenbergen (2004). Deliberative Politics in Action. Cambridge: Cambridge University Press.
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