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Die Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde ist tiefer als vermutet

Hans-Peter Schaub, Lukas Leuzinger
24th Mai 2018

Eine Auswertung von Fotos weist darauf hin, dass jeweils nur etwa 10 Prozent der Glarner Stimmberechtigten an der Landsgemeinde teilnehmen. Ist das ein Problem für ihre demokratische Legitimität?

Jeden ersten Maisonntag versammeln sich die Glarner Stimmberechtigten auf dem Zaunplatz, um «zu raten, zu mindern und zu mehren». Vielen Glarnerinnen und Glarnern und auch Aussenstehenden gilt die Landsgemeinde als «Juwel der Demokratie», wie es die «Weltwoche» kürzlich ausdrückte. Tatsächlich bietet die Landsgemeinde sehr weitgehende Mitbestimmungsrechte. Allerdings weiss niemand, wie viele Stimmberechtigte von diesen Rechten tatsächlich Gebrauch machen. Bisherige Schätzungen gingen für eine normal besuchte Landsgemeinde von 5000 bis 8000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern – rund 20 bis 30 Prozent der 26‘000 Stimmberechtigten – aus. Bis zu 14'000 schätzte man für gut besuchte Versammlungen wie die ausserordentliche Landsgemeinde 2007. Weil in Glarus anders als in Appenzell keine Möglichkeit zur Auszählung besteht, gibt es aber keine gesicherten Zahlen.

 

Rückgang über die Zeit

In einer kürzlich publizierten wissenschaftlichen Untersuchung haben wir die Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde nun erstmals systematisch ausgewertet. Wir haben dazu Gesamtaufnahmen des Rings elektronisch und manuell ausgezählt.

Das Ergebnis überrascht: Gemäss der Analyse nehmen deutlich weniger Leute teil als bisher vermutet. Seit der Jahrtausendwende lag die durchschnittliche Beteiligung demnach bei nur gerade 2600 Personen oder 10 Prozent der Stimmberechtigten. Kein einziges der 17 Fotos seit 2001 zeigt mehr als 3700 Personen (14 Prozent der Stimmberechtigten). Dabei zeigt sich ein signifikanter Rückgang über die Zeit: Betrug die durchschnittliche Beteiligung 1954-1971 26 Prozent, waren es 1972-1985 noch 12 Prozent und 2001-2017 10 Prozent. Besonders deutlich ist der Knick nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Beteiligung unter den Frauen in den ersten Jahren wesentlich tiefer lag als jene der Männer.

Bei anderen Faktoren zeigt sich hingegen kein statistisch signifikanter Einfluss auf die Stimmbeteiligung. Bemerkenswert ist, dass für das Wetter keine eindeutigen Auswirkungen auf die Teilnehmerzahl festgestellt werden können, ebenso wenig für die Anzahl der Traktanden oder der knappen Abstimmungen.

 

Weniger Leute als an der Urne

Im Vergleich mit Urnenabstimmungen sind diese Beteiligungszahlen tief. So nahmen im Durchschnitt der letzten Jahre immerhin 39 Prozent der Glarner Stimmberechtigten an den eidgenössischen Urnengängen teil. Und in den vier Nachbarkantonen von Glarus gehen bei Abstimmungen, bei denen (wie an der Landsgemeinde) ausschliesslich über kantonale Vorlagen abgestimmt wird, durchschnittlich 30 Prozent an die Urne.

Wie gezählt wurde
Für die Untersuchung wurden insgesamt 40 Gesamtaufnahmen des Rings aus 28 Jahren ausgewertet. Zum einen verwendeten wir die von der University of Central Florida entwickelte Software Human detector, die darauf spezialisiert ist, Personen in grossen Menschenmengen zu zählen. Zur Überprüfung zählten wir einen Teil der Bilder zusätzlich auch von Hand aus. Weil manche Leute von anderen Personen, Stangen oder ähnlichem verdeckt werden und weil die Bildqualität meist nicht perfekt ist, passten wir die Zahlen nach oben an.

Zweifellos sind die ermittelten Zahlen mit gewissen Unschärfen behaftet, auch weil die Beteiligung während einer Landsgemeinde schwankt. Die Grössenordnung der Ergebnisse ist jedoch stabil, gleich ob man Fotos vom Beginn, der Mitte oder dem Ende einer Landsgemeinde betrachtet und ob man sie elektronisch oder von Hand auszählt.

Das ist nicht unbedingt überraschend, ist die Teilnahme an einer Versammlung doch deutlich aufwändiger als das Abstimmen an der Urne, beziehungsweise per Post. Mehrere Stunden lang an einem vorgegebenen Tag im Ring zu stehen, womöglich in strömendem Regen, ist nun mal nicht das gleiche wie einen Zettel in ein Couvert zu stecken und in den nächsten Briefkasten zu werfen. Aber auch im Vergleich zur Appenzeller Landsgemeinde schneidet Glarus nicht gut ab: Dort ist eine Beteiligung um die 30 Prozent üblich. Immerhin ist die Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde höher als an Gemeindeversammlungen: In Glarus Nord gehen im Durchschnitt nur 3,8 Prozent der Stimmberechtigten an die Gemeindeversammlungen, in Glarus 4,8 Prozent und in Glarus Süd 5,9 Prozent. In Gemeinden ähnlicher Grösse in anderen Kantonen ist der Anteil noch niedriger.

 

Ein Problem für die Demokratie? Jein

Ist die relativ schwache Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde für die Demokratie ein Problem? Ein Stück weit ja, denn in der öffentlichen Wahrnehmung verleiht eine höhere Beteiligung einem Abstimmungsergebnis eine stärkere Legitimität. Von vielen wird das Beteiligungsniveau auch als Zeichen für den gesellschaftlichen Rückhalt der Demokratie überhaupt gesehen.

Problematischer als eine tiefe Beteiligung ist aber eine verzerrte Beteiligung, wenn also einzelne Bevölkerungsgruppen viel schwächer vertreten sind als andere. Dann ist nämlich die Gefahr gross, dass Abstimmungen anders ausfallen, als wenn sich alle daran beteiligt hätten. Frühere Untersuchungen weisen indes darauf hin, dass Bürgerversammlungen zwar von wenigen Personen besucht werden, diese aber die Bevölkerung recht gut abbilden: Die bekannte Übervertretung von älteren, einkommensstarken und gutausgebildeten Bürgern scheint an der Landsgemeinde schwächer als an der Urne. Hingegen sind Frauen an Versammlungen deutlich stärker untervertreten als an Urnenabstimmungen.

Im Übrigen heisst eine durchschnittliche Stimmbeteiligung von 10 Prozent nicht, dass neun Zehntel sich überhaupt nie beteiligen. An der Urne nehmen innerhalb von fünf Jahren gut 90 Prozent der Stimmberechtigten an mindestens einer Abstimmung teil, auch wenn es bei den einzelnen Abstimmungen jeweils unter 50 Prozent sind. Auch in Glarus gehen viele Stimmberechtigte zwar nicht jedes Jahr und für die ganze Zeit in den Ring, sondern ab und zu und je nach traktandierten Geschäften.

 

Mögliche Massnahmen

Auch wenn man die niedrige Beteiligung an der Landsgemeinde also nicht zu dramatisieren braucht, darf man sich fragen, ob man sie mit bestimmten Massnahmen erhöhen könnte. Dass eine Landsgemeindeteilnahme aufwändiger und an einen fixen Tag und Ort gebunden ist, lässt sich zwar nicht ändern. Die Teilnahme liesse sich aber immerhin erleichtern, indem der Komfort im Ring etwas erhöht würde – zum Beispiel mit Rückenlehnen an den Sitzbänken oder mit der Überdachung eines Teils des Rings gegen Regen und Sonne. Auch eine Stärkung der politischen Bildung – nicht nur in der Schule, sondern auch in Familie und Zivilgesellschaft – dürfte sich positiv auswirken. Geldbussen für Nicht-Teilnehmende wären gemäss den Erfahrungen etwa in Schaffhausen sehr wirksam, aber in Glarus wohl kaum mehrheitsfähig. Freundlicher, aber in den Auswirkungen weniger klar wäre die Abgabe materieller Belohnungen an Teilnehmende.

Sicher ist auf jeden Fall, dass der demokratische Wert der Landsgemeinde sich nicht an der Stimmbeteiligung allein bemisst. Nebst weiteren Nachteilen, etwa dem fehlenden Stimmgeheimnis oder einer sehr starken Stellung der Regierung, bietet sie auch gewichtige Vorteile wie das gleiche Rederecht für alle oder die weitgehenden und differenzierten Antragsrechte. Wer die Landsgemeinde – und die Urne – als Gesamtpaket beurteilt, sollte stets sowohl Stärken als auch Schwächen im Blick haben.

 


 

Beitrag: Hans-Peter Schaub und Lukas Leuzinger: Die Stimmbeteiligung an der Glarner Landsgemeinde. LeGes 29 (2018) 1.

Bild: ZvG