Gewissensentscheidungen im Parlament: Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik in der Schweiz

Par­la­men­ta­ri­sche Debat­ten zu Gewis­sens­fra­gen und ohne Frak­ti­ons­dis­zi­plin sind in der Schweiz – wie in den meis­ten euro­päi­schen Par­la­men­ten – eine Aus­nah­me. Wenn sie den­noch geführt wer­den, dann meist zu ethisch-mora­li­schen The­men. Vor die­sem Hin­ter­grund beleuch­tet der Arti­kel anhand der aktu­el­len Debat­te zur Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik, wie Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er über solch sen­si­ble Fra­gen entscheiden. 

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Moralpolitik und parlamentarische Entscheidungen

Moral­po­li­ti­sche Fra­gen haben in den letz­ten Jah­ren stark an Bedeu­tung gewon­nen und zie­hen zuneh­mend das Inter­es­se der Öffent­lich­keit auf sich – sowohl sei­tens gesell­schaft­li­cher Grup­pen (wie z.B. reli­giö­ser Ver­ei­ni­gun­gen) als auch sei­tens der Medi­en. Die­ses Inter­es­se ist wenig über­ra­schend, bedenkt man, dass es bei moral­po­li­ti­schen Debat­ten häu­fig um Fra­gen „über Leben und Tod“ geht.

Neben ihrer gesell­schaft­li­chen Bedeu­tung neh­men moral­po­li­ti­sche Debat­ten aller­dings auch im par­la­men­ta­ri­schen Pro­zess eine Son­der­stel­lung ein. Wäh­rend der Groß­teil par­la­men­ta­ri­scher Vor­la­gen unter — nicht offi­zi­el­ler — Frak­ti­ons­dis­zi­plin debat­tiert und beschlos­sen wird, sind Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er in ihren Ent­schei­dun­gen zu moral­po­li­ti­schen Debat­ten in der Regel nicht an Wei­sun­gen ihrer Par­tei gebun­den und kön­nen indi­vi­du­ell nach ihrem Gewis­sen entscheiden.

Auch wenn die­se zeit­wei­sen Auf­he­bun­gen der Frak­ti­ons­dis­zi­plin von poli­ti­schen Beob­ach­tern oft als posi­tiv ange­se­hen wer­den, wirft das doch die Fra­ge auf, wor­an Par­la­ments­an­ge­hö­ri­ge sich in sol­chen Situa­tio­nen ori­en­tie­ren. Wel­che Fak­to­ren beein­flus­sen Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er – und damit auch das Ergeb­nis der par­la­men­ta­ri­schen Debat­te – beson­ders stark? Reprä­sen­tie­ren sie in sol­chen Fra­gen ihre Hei­mat­kan­to­ne, ori­en­tie­ren sie sich an ande­ren Mit­glie­dern ihrer Frak­ti­on oder ent­schei­den sie letzt­lich anhand ihrer per­sön­li­chen Eigenschaften?

Debatte über die Präimplantationsdiagnostik in der Schweiz

Um die­ser Fra­ge nach­zu­ge­hen, habe ich das par­la­men­ta­ri­sche Ver­fah­ren zur Zulas­sung und Regu­lie­rung der Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik (PID) in der Schweiz ana­ly­siert. Wie bei ande­ren moral­po­li­ti­schen Fra­gen stand die Debat­te im Zei­chen einer ethisch-mora­li­schen Abwä­gung zwi­schen dem Inter­es­se der Eltern an einer erfolg­rei­chen, kom­pli­ka­ti­ons­frei­en künst­li­chen Befruch­tung und dem Schutz des unge­bo­re­nen Lebens.

Dabei posi­tio­nier­ten sich u.a. kirch­li­che Grup­pen deut­lich gegen die Zulas­sung des Ver­fah­rens, wäh­rend libe­ra­le Krei­se eine Zulas­sung befür­wor­te­ten. Inter­es­sant ist auch der Ver­lauf des par­la­men­ta­ri­schen Ver­fah­rens: Wäh­rend der ursprüng­li­che Vor­schlag des Bun­des­ra­tes restrik­tiv aus­fiel, kam es durch die Bera­tun­gen des Par­la­ments zu einer deut­li­chen Libe­ra­li­sie­rung der Vorlage.

Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik (PID)
Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik (abge­kürzt PID) ist ein Ver­fah­ren zur Unter­su­chung von Embryo­nen bei künst­li­chen Befruch­tun­gen und erlaubt es, Embryo­nen mit einem Gen­de­fekt vor einer Ein­pflan­zung in den müt­ter­li­chen Kör­per aus­zu­schlie­ßen. Die Debat­te stand daher im Zei­chen einer ethisch-mora­li­schen Abwä­gung zwi­schen dem Inter­es­se der Eltern an einer erfolg­rei­chen, kom­pli­ka­ti­ons­frei­en künst­li­chen Befruch­tung und dem Schutz des unge­bo­re­nen Lebens. 
Wählerpositionen, Fraktionslinie oder persönliche Erfahrungen?

Um zu beant­wor­ten, ob sich Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er bei der Ent­schei­dung an ihren Hei­mat­kan­to­nen, ihren Frak­tio­nen oder ihren per­sön­li­chen Eigen­schaf­ten ori­en­tiert haben, ver­wen­de ich ein sta­tis­ti­sches Modell (sie­he Info­box zur Metho­dik). Mei­ne Ana­ly­sen zei­gen, dass das Abstim­mungs­ver­hal­ten der Par­la­ments­mit­glie­der in den Abstim­mun­gen zur PID am deut­lichs­ten von der Hal­tung der Wäh­ler­schaft im eige­nen Wahl­kreis beein­flusst wur­de. Die­ser Zusam­men­hang wird in Abbil­dung 1 verdeutlicht.

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen der Religiosität eines Kantons und dem Abstimmungsverhalten der Parlamentarier

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Lesehilfe: Die Kurve in der Mitte zeigt, wie stark die Wahrscheinlichkeit, dass ein/e Parlamentarier/in gegen die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik stimmt, ansteigt, wenn er oder sie in einem religiöseren Kanton gewählt wurde. Die farblich markierte Fläche gibt eine untere und obere Fehlergrenze der Schätzung an.

Stammt ein Par­la­men­ta­ri­er z.B. aus dem rela­tiv wenig reli­giö­sen Neu­châ­tel (mit 17 Pro­zent reli­giö­sen Wäh­lern) wird er mit einer Wahr­schein­lich­keit von nur ca. zwan­zig Pro­zent gegen die Zulas­sung der Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik stim­men. Ein (hypo­the­ti­scher) in allen Eigen­schaf­ten iden­ti­scher Par­la­men­ta­ri­er aus dem Wal­lis wür­de hin­ge­gen zu mehr als 65 Pro­zent gegen die Zulas­sung stim­men. Es spricht also tat­säch­lich eini­ges dafür, dass sich Par­la­ments­mit­glie­der in sol­chen Fra­gen an ihrer Wäh­ler­schaft orientieren.

Konservativer Ständerat vs. liberaler Nationalrat?

Die Zusam­men­set­zung des Stän­de­rats unter­schei­det sich rela­tiv stark von der­je­ni­gen des Natio­nal­rats. Dem Stän­de­rat gehö­ren bei­spiels­wei­se mehr Män­ner an, zudem liegt das Durch­schnitts­al­ter höher als im Natio­nal­rat. Lässt sich dar­aus ablei­ten, dass die bei­den Kam­mern in einer sol­chen Fra­ge unter­schied­lich entscheiden?

Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, wur­den die in den bei­den Kam­mern gehal­te­nen Reden wäh­rend der Debat­te zur PID ana­ly­siert und ver­gli­chen. Hier­zu wur­den com­pu­ter­ge­stütz­te Inhalts­ana­ly­sen (sie­he Info­box zur Metho­dik) durch­ge­führt, deren Ergeb­nis­se ange­ben, wie sich ein Par­la­ment­mit­glied in sei­ner Rede zur PID geäu­ßert hat. Abbil­dung 2 stellt die Ergeb­nis­se die­ser Ana­ly­se gra­fisch dar. Die Ergeb­nis­se zei­gen, dass sich die Debat­ten zwi­schen den Kam­mern unter­schie­den und im Stän­de­rat ins­ge­samt eine kon­ser­va­ti­ve­re Hal­tung ver­tre­ten wurde.

Abbildung 2: Positionen der Rednerinnen und Redner in Nationalrat und Ständerat

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Lesehilfe: Die Positionen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden als numerische Werte auf der Horizontalen dargestellt. Geringe Werte zeigen eine PID-bejahende Position an, während hohe Werte eine PID-ablehnende Haltung anzeigen. Ständeratsmitglieder sind durch Kreuze, Nationalratsmitglieder durch Punkte gekennzeichnet.
Meinungsumschwung durch junge, weibliche Abgeordnete und Parlamentarier mit naturwissenschaftlichem Hintergrund?

Als letz­te Über­le­gung ver­bleibt die Fra­ge, ob der ein­gangs erwähn­te Umschwung in der Aus­rich­tung des Geset­zes von einem eher restrik­ti­ven zu einem eher libe­ra­len Gesetz im Zusam­men­hang mit den gehal­te­nen Reden und den per­sön­li­chen Eigen­schaf­ten der Par­la­ments­mit­glie­der steht. Hier­zu lässt sich betrach­ten, wer von den Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­ern über­haupt eine Rede zur Debat­te bei­gesteu­ert hat. Gehen die Unter­schie­de zwi­schen den Kam­mern, die im vori­gen Abschnitt gezeigt wur­den, also dar­auf zurück, dass ande­re Per­so­nen gere­det haben? Anders for­mu­liert, haben jün­ge­re Par­la­ments­mit­glie­der oder Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er mit einem natur­wis­sen­schaft­li­chen Hin­ter­grund die Mei­nun­gen durch ihre Reden „gedreht“?

In die­ser Fra­ge bie­tet die demo­gra­phi­sche Zusam­men­set­zung der Red­ne­rin­nen und Red­ner einen Hin­weis. Tat­säch­lich haben sich an der Debat­te mehr weib­li­che Par­la­ments­mit­glie­der und Par­la­men­ta­ri­er mit einem Bil­dungs­hin­ter­grund in den Natur­wis­sen­schaf­ten betei­ligt. Aller­dings ist die­ser Unter­schied auch damit zu erklä­ren, dass die Reden haupt­säch­lich von Mit­glie­dern der Kom­mis­sio­nen für Wis­sen­schaft und Bil­dung, die den Vor­schlag bera­ten hat­ten, gehal­ten wur­den. Die­se fach­lich spe­zia­li­sier­ten Kom­mis­sio­nen, die Geset­zes­in­tia­ti­ven vor den Ple­nar­de­bat­ten behan­deln, wei­sen sowohl einen über­durch­schnitt­lich hohen Frau­en­an­teil wie auch Anteil an natur­wis­sen­schaft­lich aus­ge­bil­de­ten Par­la­men­ta­ri­ern auf. Das deu­tet dar­auf hin, dass auch hier die indi­vi­du­el­len Eigen­schaf­ten der Par­la­men­ta­ri­er eine Rol­le spielen.

Ins­ge­samt lässt sich also fest­stel­len, dass die Mit­glie­der der Bun­des­ver­samm­lung in Gewis­sens­fra­gen durch­aus Rück­sicht auf die Hal­tung ihrer Wäh­ler­schaft neh­men. Zudem spie­len per­sön­li­che Eigen­schaf­ten der Par­la­men­ta­ri­er eine gro­ße Rol­le, wodurch auch Unter­schie­de in der per­so­nel­len Beset­zung von Natio­nal­rat und Stän­de­rat an Bedeu­tung gewinnen.

Daten und Methoden
Für die Unter­su­chung des Gesetz­ge­bungs­pro­zes­ses wur­den meh­re­re Daten­quel­len genutzt. Die nament­li­chen Abstim­mungs­er­geb­nis­se und Rede­bei­trä­ge wur­den den par­la­men­ta­ri­schen Wort­pro­to­kol­len ent­nom­men. Um dar­aus Posi­tio­nen für oder gegen die PID abzu­lei­ten, wur­de das com­pu­ter­ba­sier­te, quan­ti­ta­ti­ve Text­ana­ly­se­mo­dell Wor­d­fi­sh genutzt. Wor­d­fi­sh weist den ein­zel­nen Tex­ten (hier: Reden) inner­halb einer Samm­lung von Tex­ten (hier: die par­la­men­ta­ri­sche Debat­te) Posi­tio­nen zu, indem es Wort­häu­fig­kei­ten analysiert.

Die Eigen­schaf­ten der Abge­ord­ne­ten wur­den auf Grund­la­ge ihrer offi­zi­el­len Par­la­ments­bio­gra­phien erstellt und ggf. durch wei­te­re Recher­che auf ihren eige­nen Web­prä­sen­zen und ähn­li­chen Quel­len ergänzt.

Die Anga­ben zur Reli­gio­si­tät von Wahl­krei­sen, bzw. Kan­to­nen wur­den auf Grund­la­ge der Erhe­bung zur Spra­che, Reli­gi­on und Kul­tur des Bun­des­am­tes für Sta­tis­tik erho­ben. Hier­aus wur­de für die Kan­to­ne der Anteil der Ein­woh­ner ermit­telt, die min­des­tens sechs Got­tes­diens­te im Jahr besuchen.

Die Effek­te die­ser Varia­blen auf das Abstim­mungs­ver­hal­ten wur­den unter Ver­wen­dung einer logis­ti­schen Regres­si­ons­ana­ly­se ermit­telt. Die­se ermög­licht es den Zusam­men­hang zwi­schen dem Abstim­mungs­ver­hal­ten eines Abge­ord­ne­ten und den genann­ten Varia­blen unter Berück­sich­ti­gung zahl­rei­cher Kon­troll­va­ria­blen zu schät­zen. Dadurch wird es mög­lich, den Zusam­men­hang zwi­schen einem Ein­fluss (bei­spiels­wei­se des Alters) und der Ent­schei­dung auf­zu­zei­gen, wäh­rend die Ein­flüs­se ande­rer Fak­to­ren kon­trol­liert wer­den. Die in Abbil­dung 1 gezeig­ten Feh­ler­gren­zen bil­den ein 90% Signi­fi­kanz­ni­veau ab.


Refe­renz: Bau­mann, Mar­kus (2017). Tur­ning Libe­ral: Legis­la­tors’ Indi­vi­du­al Pre­fe­ren­ces and the Regu­la­ti­on of Pre-Implan­ta­ti­on Gene­tic Dia­gno­sis in Switz­er­land. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review.

Bild: Pixabay.

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