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Gewissensentscheidungen im Parlament: Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik in der Schweiz

Markus Baumann
12th Januar 2018

Parlamentarische Debatten zu Gewissensfragen und ohne Fraktionsdisziplin sind in der Schweiz – wie in den meisten europäischen Parlamenten – eine Ausnahme. Wenn sie dennoch geführt werden, dann meist zu ethisch-moralischen Themen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Artikel anhand der aktuellen Debatte zur Präimplantationsdiagnostik, wie Parlamentarierinnen und Parlamentarier über solch sensible Fragen entscheiden. 

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Moralpolitik und parlamentarische Entscheidungen

Moralpolitische Fragen haben in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen und ziehen zunehmend das Interesse der Öffentlichkeit auf sich – sowohl seitens gesellschaftlicher Gruppen (wie z.B. religiöser Vereinigungen) als auch seitens der Medien. Dieses Interesse ist wenig überraschend, bedenkt man, dass es bei moralpolitischen Debatten häufig um Fragen „über Leben und Tod“ geht.

Neben ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nehmen moralpolitische Debatten allerdings auch im parlamentarischen Prozess eine Sonderstellung ein. Während der Großteil parlamentarischer Vorlagen unter - nicht offizieller - Fraktionsdisziplin debattiert und beschlossen wird, sind Parlamentarierinnen und Parlamentarier in ihren Entscheidungen zu moralpolitischen Debatten in der Regel nicht an Weisungen ihrer Partei gebunden und können individuell nach ihrem Gewissen entscheiden.

Auch wenn diese zeitweisen Aufhebungen der Fraktionsdisziplin von politischen Beobachtern oft als positiv angesehen werden, wirft das doch die Frage auf, woran Parlamentsangehörige sich in solchen Situationen orientieren. Welche Faktoren beeinflussen Parlamentarierinnen und Parlamentarier – und damit auch das Ergebnis der parlamentarischen Debatte – besonders stark? Repräsentieren sie in solchen Fragen ihre Heimatkantone, orientieren sie sich an anderen Mitgliedern ihrer Fraktion oder entscheiden sie letztlich anhand ihrer persönlichen Eigenschaften?

Debatte über die Präimplantationsdiagnostik in der Schweiz

Um dieser Frage nachzugehen, habe ich das parlamentarische Verfahren zur Zulassung und Regulierung der Präimplantationsdiagnostik (PID) in der Schweiz analysiert. Wie bei anderen moralpolitischen Fragen stand die Debatte im Zeichen einer ethisch-moralischen Abwägung zwischen dem Interesse der Eltern an einer erfolgreichen, komplikationsfreien künstlichen Befruchtung und dem Schutz des ungeborenen Lebens.

Dabei positionierten sich u.a. kirchliche Gruppen deutlich gegen die Zulassung des Verfahrens, während liberale Kreise eine Zulassung befürworteten. Interessant ist auch der Verlauf des parlamentarischen Verfahrens: Während der ursprüngliche Vorschlag des Bundesrates restriktiv ausfiel, kam es durch die Beratungen des Parlaments zu einer deutlichen Liberalisierung der Vorlage.

Präimplantationsdiagnostik (PID)
Präimplantationsdiagnostik (abgekürzt PID) ist ein Verfahren zur Untersuchung von Embryonen bei künstlichen Befruchtungen und erlaubt es, Embryonen mit einem Gendefekt vor einer Einpflanzung in den mütterlichen Körper auszuschließen. Die Debatte stand daher im Zeichen einer ethisch-moralischen Abwägung zwischen dem Interesse der Eltern an einer erfolgreichen, komplikationsfreien künstlichen Befruchtung und dem Schutz des ungeborenen Lebens.

Wählerpositionen, Fraktionslinie oder persönliche Erfahrungen?

Um zu beantworten, ob sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier bei der Entscheidung an ihren Heimatkantonen, ihren Fraktionen oder ihren persönlichen Eigenschaften orientiert haben, verwende ich ein statistisches Modell (siehe Infobox zur Methodik). Meine Analysen zeigen, dass das Abstimmungsverhalten der Parlamentsmitglieder in den Abstimmungen zur PID am deutlichsten von der Haltung der Wählerschaft im eigenen Wahlkreis beeinflusst wurde. Dieser Zusammenhang wird in Abbildung 1 verdeutlicht.

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen der Religiosität eines Kantons und dem Abstimmungsverhalten der Parlamentarier

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Lesehilfe: Die Kurve in der Mitte zeigt, wie stark die Wahrscheinlichkeit, dass ein/e Parlamentarier/in gegen die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik stimmt, ansteigt, wenn er oder sie in einem religiöseren Kanton gewählt wurde. Die farblich markierte Fläche gibt eine untere und obere Fehlergrenze der Schätzung an.

Stammt ein Parlamentarier z.B. aus dem relativ wenig religiösen Neuchâtel (mit 17 Prozent religiösen Wählern) wird er mit einer Wahrscheinlichkeit von nur ca. zwanzig Prozent gegen die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik stimmen. Ein (hypothetischer) in allen Eigenschaften identischer Parlamentarier aus dem Wallis würde hingegen zu mehr als 65 Prozent gegen die Zulassung stimmen. Es spricht also tatsächlich einiges dafür, dass sich Parlamentsmitglieder in solchen Fragen an ihrer Wählerschaft orientieren.

Konservativer Ständerat vs. liberaler Nationalrat?

Die Zusammensetzung des Ständerats unterscheidet sich relativ stark von derjenigen des Nationalrats. Dem Ständerat gehören beispielsweise mehr Männer an, zudem liegt das Durchschnittsalter höher als im Nationalrat. Lässt sich daraus ableiten, dass die beiden Kammern in einer solchen Frage unterschiedlich entscheiden?

Um diese Frage zu beantworten, wurden die in den beiden Kammern gehaltenen Reden während der Debatte zur PID analysiert und verglichen. Hierzu wurden computergestützte Inhaltsanalysen (siehe Infobox zur Methodik) durchgeführt, deren Ergebnisse angeben, wie sich ein Parlamentmitglied in seiner Rede zur PID geäußert hat. Abbildung 2 stellt die Ergebnisse dieser Analyse grafisch dar. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Debatten zwischen den Kammern unterschieden und im Ständerat insgesamt eine konservativere Haltung vertreten wurde.

Abbildung 2: Positionen der Rednerinnen und Redner in Nationalrat und Ständerat

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Lesehilfe: Die Positionen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden als numerische Werte auf der Horizontalen dargestellt. Geringe Werte zeigen eine PID-bejahende Position an, während hohe Werte eine PID-ablehnende Haltung anzeigen. Ständeratsmitglieder sind durch Kreuze, Nationalratsmitglieder durch Punkte gekennzeichnet.
Meinungsumschwung durch junge, weibliche Abgeordnete und Parlamentarier mit naturwissenschaftlichem Hintergrund?

Als letzte Überlegung verbleibt die Frage, ob der eingangs erwähnte Umschwung in der Ausrichtung des Gesetzes von einem eher restriktiven zu einem eher liberalen Gesetz im Zusammenhang mit den gehaltenen Reden und den persönlichen Eigenschaften der Parlamentsmitglieder steht. Hierzu lässt sich betrachten, wer von den Parlamentarierinnen und Parlamentariern überhaupt eine Rede zur Debatte beigesteuert hat. Gehen die Unterschiede zwischen den Kammern, die im vorigen Abschnitt gezeigt wurden, also darauf zurück, dass andere Personen geredet haben? Anders formuliert, haben jüngere Parlamentsmitglieder oder Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit einem naturwissenschaftlichen Hintergrund die Meinungen durch ihre Reden „gedreht“?

In dieser Frage bietet die demographische Zusammensetzung der Rednerinnen und Redner einen Hinweis. Tatsächlich haben sich an der Debatte mehr weibliche Parlamentsmitglieder und Parlamentarier mit einem Bildungshintergrund in den Naturwissenschaften beteiligt. Allerdings ist dieser Unterschied auch damit zu erklären, dass die Reden hauptsächlich von Mitgliedern der Kommissionen für Wissenschaft und Bildung, die den Vorschlag beraten hatten, gehalten wurden. Diese fachlich spezialisierten Kommissionen, die Gesetzesintiativen vor den Plenardebatten behandeln, weisen sowohl einen überdurchschnittlich hohen Frauenanteil wie auch Anteil an naturwissenschaftlich ausgebildeten Parlamentariern auf. Das deutet darauf hin, dass auch hier die individuellen Eigenschaften der Parlamentarier eine Rolle spielen.

Insgesamt lässt sich also feststellen, dass die Mitglieder der Bundesversammlung in Gewissensfragen durchaus Rücksicht auf die Haltung ihrer Wählerschaft nehmen. Zudem spielen persönliche Eigenschaften der Parlamentarier eine große Rolle, wodurch auch Unterschiede in der personellen Besetzung von Nationalrat und Ständerat an Bedeutung gewinnen.

Daten und Methoden
Für die Untersuchung des Gesetzgebungsprozesses wurden mehrere Datenquellen genutzt. Die namentlichen Abstimmungsergebnisse und Redebeiträge wurden den parlamentarischen Wortprotokollen entnommen. Um daraus Positionen für oder gegen die PID abzuleiten, wurde das computerbasierte, quantitative Textanalysemodell Wordfish genutzt. Wordfish weist den einzelnen Texten (hier: Reden) innerhalb einer Sammlung von Texten (hier: die parlamentarische Debatte) Positionen zu, indem es Worthäufigkeiten analysiert.

Die Eigenschaften der Abgeordneten wurden auf Grundlage ihrer offiziellen Parlamentsbiographien erstellt und ggf. durch weitere Recherche auf ihren eigenen Webpräsenzen und ähnlichen Quellen ergänzt.

Die Angaben zur Religiosität von Wahlkreisen, bzw. Kantonen wurden auf Grundlage der Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur des Bundesamtes für Statistik erhoben. Hieraus wurde für die Kantone der Anteil der Einwohner ermittelt, die mindestens sechs Gottesdienste im Jahr besuchen.

Die Effekte dieser Variablen auf das Abstimmungsverhalten wurden unter Verwendung einer logistischen Regressionsanalyse ermittelt. Diese ermöglicht es den Zusammenhang zwischen dem Abstimmungsverhalten eines Abgeordneten und den genannten Variablen unter Berücksichtigung zahlreicher Kontrollvariablen zu schätzen. Dadurch wird es möglich, den Zusammenhang zwischen einem Einfluss (beispielsweise des Alters) und der Entscheidung aufzuzeigen, während die Einflüsse anderer Faktoren kontrolliert werden. Die in Abbildung 1 gezeigten Fehlergrenzen bilden ein 90% Signifikanzniveau ab.


Referenz: Baumann, Markus (2017). Turning Liberal: Legislators' Individual Preferences and the Regulation of Pre-Implantation Genetic Diagnosis in Switzerland. Swiss Political Science Review.

Bild: Pixabay.