Migranten, welche die Schweizer Staatsbürgerschaft vor mehr als 15 Jahren an einer Urnenabstimmung in ihrer Gemeinde knapp erhielten, sind heute sozial viel besser integriert als Migranten, deren Gesuche an der Urne knapp abgelehnt wurden. Zu diesem Schluss kommt die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Studie citizenship.ch der Universitäten Zürich, Stanford und der London School of Economics.
Voilà la version française de l’article.
Der kurze Film erklärt die Studie im Detail (vorwiegend in Englisch). © UZH
Eine Einbürgerung wirkt wie ein Katalysator auf die Integration. Vor allem Migrantinnen und Migranten aus der Türkei oder aus Ex-Jugoslawien werden durch eine schnellere Einbürgerung besser in die Gesellschaft integriert.
Wenn der Zufall über den roten Pass entscheidet
Wann Ausländerinnen und Ausländer den Schweizer Pass erhalten sollen, wird kontrovers diskutiert. Die Einen wollen Migranten nach möglichst kurzer Zeit einbürgern, um deren Integration zu fördern. Die Anderen sehen in der Einbürgerung den Abschluss einer erfolgreichen Integration.
Einbürgerungsgesuche werden in der Schweiz unterschiedlich gehandhabt. Wir haben untersucht, wie sich knappe Entscheide zu Einbürgerungsgesuchen auf die betroffenen Migranten auswirken. Für unsere Untersuchung konnten wir uns eine umstrittene Einbürgerungspraxis zu Nutzen machen, die es heute in dieser Form nicht mehr gibt: Die anonyme Urnen-Abstimmung über Einbürgerungsgesuche.
Einbürgerungen an der Urne oder Gemeindeversammlungen wurden von einigen Gemeinden vorwiegend in der Deutschschweiz praktiziert. 2003 entschied das Bundesgericht, ablehnende Entscheide von Einbürgerungsgesuche müssten begründet werden. 2007 verabschiedete die Bundesversammlung das neue Bürgerrechtsgesetz, welches anonyme Abstimmungen über Einbürgerungsgesuche an der Urne ausschliesst. Vom Volk gefällte Entscheide zu Einbürgerungsgesuchen sind nur noch an Gemeindeversammlungen zulässig.
Zwischen 1970 und 2003 wurden in 46 Deutschschweizer Gemeinden in anonymen Abstimmungen an der Urne zum Teil sehr knappe Entscheidungen über Einbürgerungsgesuche gefällt.
«Für Einbürgerungswillige, die nur ein paar Ja-Stimmen auseinander lagen, zum Beispiel 49 Prozent für eine Einbürgerung im Gegensatz zu 51 Prozent gegen eine Einbürgerung, war es letztlich reine Glückssache, ob sie die Schweizer Staatsbürgerschaft erhielten oder nicht.»
Jens Hainmueller, Universität Stanford
Über 700 Personen gaben Auskunft über ihr Leben nach dem Gesuch
Von den Migranten, deren Einbürgerungsgesuche in einer Abstimmung in einer Schweizer Gemeinde vor über 15 Jahren entweder knapp angenommen oder knapp abgelehnt worden waren, haben wir 768 Personen ausfindig machen können.
Diese Personen haben wir telefonisch befragt. Wir wollten unter anderem von ihnen wissen, ob sie sich politisch engagieren, ob sie Schweizer Zeitungen lesen, in einem Verein Mitglied sind, ob sie sich diskriminiert fühlen oder planen, ihren Lebensabend in der Schweiz zu verbringen.
Einbürgerung hat positive Auswirkungen auf die Integration
Die farbigen Punkte in der Abbildung zeigen die Effekte der Einbürgerung (d.h. der Unterschied zwischen den eingebürgerten und der nicht eingebürgerten Gesuchstellern) in Bezug auf verschiedene individuelle Verhaltensweisen sowie Charakteristiken für drei unterschiedliche Schätzmethoden (ausführlichere Beschreibung in der Infobox am Ende des Artikels).
Unsere Resultate zeigen, dass sich eine Einbürgerung für die Migrantengruppen am positivsten auswirkt, die mit den stärksten Vorurteilen zu kämpfen haben. Personen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei sowie nicht in der Schweiz Geborene profitieren am meisten von der Einbürgerung.
Ebenso deutlich ist der positive Effekt der Einbürgerung bei der politischen Integration: Das politische Wissen steigt bei den knapp eingebürgerten Personen auf ein Niveau an, das mit gebürtigen Schweizerinnen und Schweizern vergleichbar ist. Knapp Abgelehnte sind hingegen auch heute noch politisch marginalisiert.
«Unsere Studie zeigt, dass die Einbürgerung die soziale und politische Integration langfristig fördert. Zudem sind die positiven Effekte der Einbürgerung umso grösser, je früher sich eine Person einbürgern lässt.»
Dominik Hangartner, Universität Zürich und London School of Economics
Sollen Einbürgerungen schneller erfolgen?
Mit zwölf Jahren Aufenthaltsdauer geht es in der Schweiz im europäischen Vergleich sehr lange, bis sich jemand einbürgern lassen kann. In Frankreich oder England reichen beispielsweise fünf Jahre Wohnsitz. Unsere Studie zeigt, dass sich eine Verkürzung der Wohnsitzpflicht positiv auf die Integration von Migranten in die Gesellschaft und damit für die gesamte Bevölkerung auswirken könnte. Für die Schweiz ist das eine wichtige Erkenntnis.
Eine Einbürgerung verbessert die politische Integration von Immigranten.
Die Abbildung zeigt die Punktschätzer und heteroskedastizitätsrobusten 95% (dünne Linie) und 90% (breite Linie) Konfidenzintervalle einer Instrumental-Variablen und “Fuzzy Regression Discontinuity Design”-Schätzung.
Die abhängigen Integrationsvariablen sind: politische Integration (Mittelwert 0; Standard Abweichung 0.5); Wahlbeteiligung in den letzten nationalen Wahlen (0/1); Gefühl, politisch Einfluss nehmen zu können (0-1); politisches Wissen (0, 0.5, 1), und informelle politische Partizipation (0/1).
Als Kovariaten wurden für die Merkmale der Antragsteller sowie “fixed effects” für jede Gemeinde und Zeitperiode kontrolliert. Die Stichprobe berücksichtigt alle Antragsteller in einem Fenster von +/- 15% um die 50% Ja-Stimmengrenze.
Referenzen
Hainmüller, Jens, Hangartner, Dominik und Pietrantuono, Giuseppe (2015). Naturalization fosters the long-term political integration of immigrants, in Proceedings of the National Academy of Sciences 112 (41).
Hainmüller, Jens, Hangartner, Dominik und Pietrantuono, Giuseppe (2015). Catalyst or Crown: Does Naturalization Promote the Long-Term Social Integration of Immigrants?, in Social Science Reserach Network.
Foto: UZH
Hinweis: Dieser Beitrag wurde zum ersten Mal am 1. Oktober 2015 auf DeFacto veröffentlicht!