Toleranz nicht gleich Akzeptanz: Die Schweiz und die Migration

Die Schweiz ist ein Ein­wan­de­rungs­land. Das ver­langt nach Tole­ranz der ansäs­si­gen Bevöl­ke­rung. Doch pro­fi­tiert eine Gesell­schaft durch star­ke Zuwan­de­rung oder wird die gesell­schaft­li­che Tole­ranz nicht viel eher gefähr­det? Dar­auf gibt es kei­ne ein­deu­ti­ge Ant­wort, wie mei­ne Unter­su­chun­gen zei­gen: Je nach Her­kunft und kul­tu­rel­lem Hin­ter­grund der Migran­ten steigt oder sinkt unse­re Toleranz. 

In den letz­ten zwan­zig Jah­ren wan­der­ten immer mehr Men­schen aus ganz unter­schied­li­chen Län­dern und Kul­tu­ren in die Schweiz ein. Wo man sich in den 60er-Jah­ren noch Gedan­ken über die Flut der ita­lie­ni­schen Ein­wan­de­rer mach­te, sind es heu­te vor allem Migran­ten aus Län­dern aus­ser­halb des west­eu­ro­päi­schen Kul­tur­krei­ses, die Unbe­ha­gen in der Schwei­zer Bevöl­ke­rung auslösen.

Die Vor­stel­lung, dass die eige­nen, lang eta­blier­ten kul­tu­rel­len Wer­te zer­stört wer­den, kann die Tole­ranz einer Gesell­schaft grund­le­gend erschüt­tern. Gleich­zei­tig wächst die Angst vor einem Wett­kampf um vor­han­de­ne Res­sour­cen wie Arbeits­plät­ze, Wohn­raum oder sozi­al­staat­li­che Zuwen­dun­gen. Ob man sich jedoch durch Diver­si­tät bedroht fühlt oder ob man die­se als Chan­ce für die Gesell­schaft sieht, hängt davon ab, wel­che und wie vie­le Immi­gran­ten in die Schweiz kom­men. Dabei ist die zuneh­mend höhe­re Diver­si­tät der Ein­wan­de­rungs­grup­pen die gröss­te Gefahr für die Tole­ranz gegen­über den Ein­wan­de­rern in der Schweiz. Doch was genau ist Toleranz?

Toleranz zur Brückenbildung

Ent­ge­gen vie­ler Annah­men geht es bei Tole­ranz nicht um das Abschaf­fen eines Vor­ur­teils oder einer nega­ti­ven Ein­stel­lung, son­dern um den Umgang mit die­ser. Kurz gesagt darf Tole­ranz nicht mit Akzep­tanz ver­wech­selt wer­den. Tole­ranz liegt in der bewuss­ten Dul­dung des Abge­lehn­ten. Tole­rant gegen­über Immi­gran­ten sind folg­lich die­je­ni­gen, die eine Abnei­gung gegen­über gewis­sen Immi­gra­ti­ons­grup­pen emp­fin­den, jedoch trotz­dem bereit sind, ihnen grund­le­gen­de gesell­schaft­li­che Rech­te und Akti­vi­tä­ten zu gewähren.

Aus die­sem Grund ist Tole­ranz in der heu­ti­gen Gesell­schaft unab­ding­bar. Sie ist der Kitt, der eine zeit­ge­nös­si­sche Gesell­schaft zusam­men­hält. Sie ermög­licht ein funk­tio­nie­ren­des Mit­ein­an­der, ohne dabei voll­kom­me­ne Akzep­tanz zu for­dern. Viel­mehr erfor­dert Tole­ranz, bewusst mit nega­ti­ven Ein­stel­lun­gen umzu­ge­hen, ohne damit den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt zu gefährden

Wer spürt den Dichtestress?

Das Schlag­wort „Dich­testress“ ist in der Schweiz in aller Mun­de. Damit ist die Gefähr­dung einer Gesell­schaft durch zu hohe Immi­gra­ti­on sowie das gefühl­te „Knapp­wer­den“ von Platz und Res­sour­cen gemeint. Ganz unab­hän­gig davon, ob der Platz tat­säch­lich knapp wird oder ob man nur die­ses Gefühl hat – die Tole­ranz lei­det, wie prä­gnan­te Bei­spie­le zeigen:

Hor­ren­bach-Buchen – so heisst das Dorf im Ber­ner Ober­land, das drei Aus­län­der beher­bergt und den Dich­testress zu spü­ren scheint: sowohl die Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve als auch die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve haben hier eine der höchs­ten Zustim­mun­gen erreicht. Auf der ande­ren Sei­te haben fast alle Schwei­zer Städ­te gegen bei­de Vor­la­gen gestimmt, obwohl sie mit hoher Immi­gra­ti­on kon­fron­tiert sind.

Wahrgenommene Bedrohungen als Gefahr für Toleranz

Der zen­tra­le Mecha­nis­mus, der bei zuneh­men­der gesell­schaft­li­cher Diver­si­tät zu einer erhöh­ten Ableh­nung und Into­le­ranz gegen­über Immi­gran­ten führt, basiert auf fol­gen­der Über­le­gung: Ein wahr­ge­nom­me­nes Zunah­me – egal ob die­ses real ist oder nicht – löst bei der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung Ängs­te um den eige­nen sozia­len, öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Sta­tus aus. Man befürch­tet Pri­vi­le­gi­en und Res­sour­cen zu ver­lie­ren, je mehr Immi­gran­ten ins Land kommen.

Die­se Angst wird noch wei­ter ver­stärkt, sobald man grund­le­gen­de kul­tu­rel­le Wer­te bedroht sieht. Je „frem­der“ eine Grup­pe ist, des­to stär­ker wird sie als Bedro­hung der eige­nen Kul­tur emp­fun­den. Als fremd erschei­nen uns dabei Grup­pen, über die wir wenig wis­sen, deren kul­tu­rel­le Wer­te wei­ter ent­fernt schei­nen und die sich durch Sym­bo­le und Äus­ser­lich­kei­ten von der Schwei­zer Bevöl­ke­rung unter­schei­den. Bei einem Anstieg die­ser frem­den Grup­pen müss­te eine Gesell­schaft zuneh­mend into­le­ran­ter wer­den – dem ist aber nicht unbe­dingt so, ganz im Gegenteil.

Diversität als Chance

Kon­takt mit frem­den Grup­pen kann auch zu gegen­sei­ti­gem Ver­ständ­nis füh­ren. Hier­durch kann ein Lern­pro­zess star­ten, der dazu führt, dass man Dif­fe­ren­zen zwi­schen Grup­pen weni­ger wahr­nimmt oder die­se abge­baut wer­den. Kurz­um: Immi­gran­ten die einem kul­tu­rell ähn­lich sind, bei­spiels­wei­se aus West­eu­ro­pa, soll­ten gemäss der Unter­su­chung kei­ne Bedro­hung, son­dern Kon­takt­po­ten­ti­al und posi­ti­ve Ein­stel­lun­gen her­vor­ru­fen. Wohin­ge­gen Kul­tur-frem­de Migra­ti­ons­grup­pen nega­ti­ve Ten­den­zen ver­stär­ken soll­ten. Getes­tet wur­den die­sen Annah­men anhand einer Umfra­ge in 60 Schwei­zer Gemeinden.

Je fremder desto intoleranter

Die Dar­stel­lung der Ergeb­nis­se in der Abbil­dung lässt zwei grund­le­gen­de Schlüs­se zu: Eine erhöh­te Diver­si­tät führt nicht per se zu mehr Ableh­nung und Into­le­ranz. Das gilt jedoch nicht für den Zuwachs der als fremd wahr­ge­nom­me­ner Immi­gran­ten­grup­pen: Steigt bei­spiels­wei­se der Anteil der Immi­gran­ten aus den Bal­kan­staa­ten in einer Gemein­de von einem Mini­mal- auf einen Maxi­mal­wert an, dann sinkt die Tole­ranz gegen­über die­ser Grup­pe um 12.8 Pro­zent­punk­te. Die gene­rel­le Ableh­nung gegen­über die­ser Grup­pe wird sogar um 34.8 Pro­zent­punk­te erhöht. Auf die Tole­ranz in der gesam­ten Schweiz über­tra­gen, kommt es also beson­ders dar­auf an, aus wel­chem Kul­tur­kreis Per­so­nen ein­wan­dern. Je frem­der – im Sin­ne der wahr­ge­nom­me­nen sozia­len und kul­tu­rel­len Distanz – eine Grup­pe erscheint, des­to eher wird die­se abge­lehnt und des­to eher ist mit einer erhöh­ten Into­le­ranz zu rech­nen. Auf der ande­ren Sei­te kann eine stei­gen­de Diver­si­tät auch Ableh­nung ver­min­dern und Tole­ranz stei­gern, wie die Resul­ta­te zum Zuwachs von Immi­gran­ten im All­ge­mei­nen belegen.

Abbildung:

Graph

Lese­bei­spiel zur Abbil­dung: Wenn der Anteil der Immi­gran­ten in einer Gemein­de vom Mini­mal­wert (2.4%) auf den Maxi­mal­wert (50.3%) der unter­such­ten Fäl­le ansteigt, dann sinkt die Wahr­schein­lich­keit Immi­gran­ten abzu­leh­nen um 18 Pro­zent­punk­te; die Wahr­schein­lich­keit voll­kom­men tole­rant zu sein steigt in die­sem Fall um 12.5 Pro­zent­punk­te an.

INFOBOX: Daten und Methoden

Die Ana­ly­se geht zwei grund­le­gen­den kon­kur­rie­ren­den Hypo­the­sen nach: Ers­tens der Annah­me, dass erhöh­te Diver­si­tät zu weni­ger Tole­ranz führt und zwei­tens, dass Diver­si­tät zu mehr Kon­takt­punk­ten und folg­lich zu mehr Tole­ranz führt. (Kon­flikt- und Kon­takt­hy­po­the­se). Die Tole­ranz wird dabei als zwei­stu­fi­ges Kon­zept erfasst, das aus einer Ableh­nungs- und einer Zustim­mungs­kom­po­nen­te besteht. Die Unter­su­chung misst Tole­ranz auf zwei Stu­fen: Ableh­nung und Zustim­mung. Im Detail bedeu­tet dies, dass nur Per­so­nen tole­rant sein kön­nen, die eine ableh­nen­de Hal­tung gegen­über Immi­gran­ten haben.

Als Daten­grund­la­ge dient eine Befra­gung von 5540 zufäl­lig aus­ge­wähl­ten Per­so­nen aus 60 Schwei­zer Gemein­den („Frei­wil­li­gen-Moni­tor Schwei­zer Gemein­den 2010“). Die Fra­gen ori­en­tie­ren sich an den zwei Stu­fen von Tole­ranz – Ableh­nung und Zustim­mung: So wur­de gefragt, ob es nach per­sön­li­cher Mei­nung eine Bevöl­ke­rungs­grup­pe in der Schweiz gibt, wel­che beson­ders vie­le Pro­ble­me macht. Ande­rer­seits – und das betrifft die Zustim­mung und somit eine all­fäl­li­ge Tole­ranz – wur­de gefragt, ob man möch­te, dass jemand aus der genann­ten Grup­pe als Leh­re­rin oder Leh­rer in der loka­len Schu­le ein­ge­setzt wird. Oder auch, ob tole­riert wür­de, wenn eine sol­che Per­son Nach­bar wäre oder ein öffent­li­ches Amt aus­füh­ren wür­de. Je mehr Rech­ten man trotz einer Ableh­nung zustimmt, des­to tole­ran­ter ist man. Ins­ge­samt nann­ten 60 Pro­zent der Befrag­ten eine Grup­pe, die sie als stö­rend emp­fin­den; davon waren aus­län­di­sche Grup­pen mit 30 Pro­zent die meist­ge­nann­ten. Bedro­hungs- und Kon­takt­po­ten­ti­al wur­den anhand des Anteils der jewei­li­gen Grup­pe an der Gemein­de­be­völ­ke­rung gemessen.

Hin­weis: Der Bei­trag ist eine Kurz­zu­sam­men­fas­sung des Vor­trags von Caro­lin Rapp im Rah­men des Col­le­gi­um Gene­ra­le der Uni­ver­si­tät Bern zum The­ma „Flucht, Migra­ti­on, Inte­gra­ti­on“ am 12. April 2016, wel­cher zu wei­ten Tei­len auf der Publi­ka­ti­on „More diver­si­ty, less tole­ran­ce?“ in Eth­nic and Racial Stu­dies 38(10): 1779–1797 von Caro­lin Rapp (2015) basiert. Hier geh­t’s zum Video-Pod­cast des Vor­tra­ges.  


Lek­to­rat: Sarah Bütikofer

Gra­fik: Pas­cal Burkhard

Titel­bild: Wiki­me­dia Commons

image_pdfimage_print