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Toleranz nicht gleich Akzeptanz: Die Schweiz und die Migration

Carolin Rapp
9th May 2016

Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Das verlangt nach Toleranz der ansässigen Bevölkerung. Doch profitiert eine Gesellschaft durch starke Zuwanderung oder wird die gesellschaftliche Toleranz nicht viel eher gefährdet? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, wie meine Untersuchungen zeigen: Je nach Herkunft und kulturellem Hintergrund der Migranten steigt oder sinkt unsere Toleranz.

In den letzten zwanzig Jahren wanderten immer mehr Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern und Kulturen in die Schweiz ein. Wo man sich in den 60er-Jahren noch Gedanken über die Flut der italienischen Einwanderer machte, sind es heute vor allem Migranten aus Ländern ausserhalb des westeuropäischen Kulturkreises, die Unbehagen in der Schweizer Bevölkerung auslösen.

Die Vorstellung, dass die eigenen, lang etablierten kulturellen Werte zerstört werden, kann die Toleranz einer Gesellschaft grundlegend erschüttern. Gleichzeitig wächst die Angst vor einem Wettkampf um vorhandene Ressourcen wie Arbeitsplätze, Wohnraum oder sozialstaatliche Zuwendungen. Ob man sich jedoch durch Diversität bedroht fühlt oder ob man diese als Chance für die Gesellschaft sieht, hängt davon ab, welche und wie viele Immigranten in die Schweiz kommen. Dabei ist die zunehmend höhere Diversität der Einwanderungsgruppen die grösste Gefahr für die Toleranz gegenüber den Einwanderern in der Schweiz. Doch was genau ist Toleranz?

Toleranz zur Brückenbildung

Entgegen vieler Annahmen geht es bei Toleranz nicht um das Abschaffen eines Vorurteils oder einer negativen Einstellung, sondern um den Umgang mit dieser. Kurz gesagt darf Toleranz nicht mit Akzeptanz verwechselt werden. Toleranz liegt in der bewussten Duldung des Abgelehnten. Tolerant gegenüber Immigranten sind folglich diejenigen, die eine Abneigung gegenüber gewissen Immigrationsgruppen empfinden, jedoch trotzdem bereit sind, ihnen grundlegende gesellschaftliche Rechte und Aktivitäten zu gewähren.

Aus diesem Grund ist Toleranz in der heutigen Gesellschaft unabdingbar. Sie ist der Kitt, der eine zeitgenössische Gesellschaft zusammenhält. Sie ermöglicht ein funktionierendes Miteinander, ohne dabei vollkommene Akzeptanz zu fordern. Vielmehr erfordert Toleranz, bewusst mit negativen Einstellungen umzugehen, ohne damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden

Wer spürt den Dichtestress?

Das Schlagwort „Dichtestress“ ist in der Schweiz in aller Munde. Damit ist die Gefährdung einer Gesellschaft durch zu hohe Immigration sowie das gefühlte „Knappwerden“ von Platz und Ressourcen gemeint. Ganz unabhängig davon, ob der Platz tatsächlich knapp wird oder ob man nur dieses Gefühl hat – die Toleranz leidet, wie prägnante Beispiele zeigen:

Horrenbach-Buchen – so heisst das Dorf im Berner Oberland, das drei Ausländer beherbergt und den Dichtestress zu spüren scheint: sowohl die Masseneinwanderungsinitiative als auch die Durchsetzungsinitiative haben hier eine der höchsten Zustimmungen erreicht. Auf der anderen Seite haben fast alle Schweizer Städte gegen beide Vorlagen gestimmt, obwohl sie mit hoher Immigration konfrontiert sind.

Wahrgenommene Bedrohungen als Gefahr für Toleranz

Der zentrale Mechanismus, der bei zunehmender gesellschaftlicher Diversität zu einer erhöhten Ablehnung und Intoleranz gegenüber Immigranten führt, basiert auf folgender Überlegung: Ein wahrgenommenes Zunahme – egal ob dieses real ist oder nicht – löst bei der Mehrheit der Bevölkerung Ängste um den eigenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Status aus. Man befürchtet Privilegien und Ressourcen zu verlieren, je mehr Immigranten ins Land kommen.

Diese Angst wird noch weiter verstärkt, sobald man grundlegende kulturelle Werte bedroht sieht. Je „fremder“ eine Gruppe ist, desto stärker wird sie als Bedrohung der eigenen Kultur empfunden. Als fremd erscheinen uns dabei Gruppen, über die wir wenig wissen, deren kulturelle Werte weiter entfernt scheinen und die sich durch Symbole und Äusserlichkeiten von der Schweizer Bevölkerung unterscheiden. Bei einem Anstieg dieser fremden Gruppen müsste eine Gesellschaft zunehmend intoleranter werden – dem ist aber nicht unbedingt so, ganz im Gegenteil.

Diversität als Chance

Kontakt mit fremden Gruppen kann auch zu gegenseitigem Verständnis führen. Hierdurch kann ein Lernprozess starten, der dazu führt, dass man Differenzen zwischen Gruppen weniger wahrnimmt oder diese abgebaut werden. Kurzum: Immigranten die einem kulturell ähnlich sind, beispielsweise aus Westeuropa, sollten gemäss der Untersuchung keine Bedrohung, sondern Kontaktpotential und positive Einstellungen hervorrufen. Wohingegen Kultur-fremde Migrationsgruppen negative Tendenzen verstärken sollten. Getestet wurden diesen Annahmen anhand einer Umfrage in 60 Schweizer Gemeinden.

Je fremder desto intoleranter

Die Darstellung der Ergebnisse in der Abbildung lässt zwei grundlegende Schlüsse zu: Eine erhöhte Diversität führt nicht per se zu mehr Ablehnung und Intoleranz. Das gilt jedoch nicht für den Zuwachs der als fremd wahrgenommener Immigrantengruppen: Steigt beispielsweise der Anteil der Immigranten aus den Balkanstaaten in einer Gemeinde von einem Minimal- auf einen Maximalwert an, dann sinkt die Toleranz gegenüber dieser Gruppe um 12.8 Prozentpunkte. Die generelle Ablehnung gegenüber dieser Gruppe wird sogar um 34.8 Prozentpunkte erhöht. Auf die Toleranz in der gesamten Schweiz übertragen, kommt es also besonders darauf an, aus welchem Kulturkreis Personen einwandern. Je fremder – im Sinne der wahrgenommenen sozialen und kulturellen Distanz – eine Gruppe erscheint, desto eher wird diese abgelehnt und desto eher ist mit einer erhöhten Intoleranz zu rechnen. Auf der anderen Seite kann eine steigende Diversität auch Ablehnung vermindern und Toleranz steigern, wie die Resultate zum Zuwachs von Immigranten im Allgemeinen belegen.

Abbildung:

Graph

Lesebeispiel zur Abbildung: Wenn der Anteil der Immigranten in einer Gemeinde vom Minimalwert (2.4%) auf den Maximalwert (50.3%) der untersuchten Fälle ansteigt, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit Immigranten abzulehnen um 18 Prozentpunkte; die Wahrscheinlichkeit vollkommen tolerant zu sein steigt in diesem Fall um 12.5 Prozentpunkte an.

INFOBOX: Daten und Methoden

Die Analyse geht zwei grundlegenden konkurrierenden Hypothesen nach: Erstens der Annahme, dass erhöhte Diversität zu weniger Toleranz führt und zweitens, dass Diversität zu mehr Kontaktpunkten und folglich zu mehr Toleranz führt. (Konflikt- und Kontakthypothese). Die Toleranz wird dabei als zweistufiges Konzept erfasst, das aus einer Ablehnungs- und einer Zustimmungskomponente besteht. Die Untersuchung misst Toleranz auf zwei Stufen: Ablehnung und Zustimmung. Im Detail bedeutet dies, dass nur Personen tolerant sein können, die eine ablehnende Haltung gegenüber Immigranten haben.

Als Datengrundlage dient eine Befragung von 5540 zufällig ausgewählten Personen aus 60 Schweizer Gemeinden („Freiwilligen-Monitor Schweizer Gemeinden 2010“). Die Fragen orientieren sich an den zwei Stufen von Toleranz – Ablehnung und Zustimmung: So wurde gefragt, ob es nach persönlicher Meinung eine Bevölkerungsgruppe in der Schweiz gibt, welche besonders viele Probleme macht. Andererseits – und das betrifft die Zustimmung und somit eine allfällige Toleranz – wurde gefragt, ob man möchte, dass jemand aus der genannten Gruppe als Lehrerin oder Lehrer in der lokalen Schule eingesetzt wird. Oder auch, ob toleriert würde, wenn eine solche Person Nachbar wäre oder ein öffentliches Amt ausführen würde. Je mehr Rechten man trotz einer Ablehnung zustimmt, desto toleranter ist man. Insgesamt nannten 60 Prozent der Befragten eine Gruppe, die sie als störend empfinden; davon waren ausländische Gruppen mit 30 Prozent die meistgenannten. Bedrohungs- und Kontaktpotential wurden anhand des Anteils der jeweiligen Gruppe an der Gemeindebevölkerung gemessen.

Hinweis: Der Beitrag ist eine Kurzzusammenfassung des Vortrags von Carolin Rapp im Rahmen des Collegium Generale der Universität Bern zum Thema „Flucht, Migration, Integration“ am 12. April 2016, welcher zu weiten Teilen auf der Publikation „More diversity, less tolerance?“ in Ethnic and Racial Studies 38(10): 1779-1797 von Carolin Rapp (2015) basiert. Hier geht’s zum Video-Podcast des Vortrages.  


Lektorat: Sarah Bütikofer

Grafik: Pascal Burkhard

Titelbild: Wikimedia Commons