Dem Proporz
zuliebe

Wäh­len Bür­ger tat­säch­lich manch­mal frei­wil­lig ent­ge­gen ihrer Prä­fe­renz, um einen Pro­porz zu wah­ren? Unse­re Wahl­ana­ly­se zeigt: Nicht alle poli­ti­schen Lager im sel­ben Mass.

Im Vor­feld der zwei­ten Wahl­gän­ge zu den Stän­de­rats­wah­len im Okto­ber 2015 appel­lier­ten eini­ge der ver­blie­be­nen Kan­di­da­ten an das Pro­porz­prin­zip, das bei den Schwei­zer Wäh­lern angeb­lich tief ver­an­kert sei. Bei Stän­de­rats­wah­len wür­de die­ser „frei­wil­li­ge“ Pro­porz dar­in bestehen, kei­ne ein­sei­ti­ge, son­dern eine par­tei­po­li­tisch aus­ge­gli­che­ne Ver­tre­tung nach Bern zu sen­den. In Zürich wie­sen bei­spiels­wei­se die Unter­stüt­zungs­ko­mi­tees der FDP- und SVP-Kan­di­da­ten dar­auf hin, dass zwei lin­ke Zür­cher Stän­de­rä­te zu viel des Guten wären für einen „bür­ger­li­chen“ Kan­ton wie Zürich.

Die­ses Argu­ment war nicht an die eige­nen Wäh­ler und Wäh­le­rin­nen gerich­tet, son­dern an die­je­ni­gen aus dem lin­ken Lager. Sie soll­ten nicht ihren eigent­li­chen ideo­lo­gi­schen Prä­fe­ren­zen ent­spre­chend wäh­len, son­dern – eben im Sin­ne eines frei­wil­li­gen Pro­por­zes – einen Kan­di­da­ten aus dem bür­ger­li­chen Lager. Aber auch das Lager von Bas­tien Girod nahm in gewis­ser Wei­se auf die­sen Pro­porz­ge­dan­ken Bezug. Sein Slo­gan lau­te­te, dass „rechts rei­che“. Mit ande­ren Wor­ten, die neue Rechts­mehr­heit nach den Wah­len vom 18. Okto­ber ver­tra­ge sich nicht mit dem urschwei­ze­ri­schen Macht­tei­lungs­prin­zip. Um den natio­na­len Pro­porz wie­der­her­zu­stel­len, bräu­che es des­halb einen grü­nen Zür­cher Ständerat.

Der Umstand, dass Zür­cher und auch ande­re kan­to­na­le Stän­de­rats­kan­di­da­ten zum frei­wil­li­gen Pro­porz auf­rie­fen, zeigt, dass sie alle davon aus­gin­gen, dass damit (eini­ge) Wäh­ler­stim­men zu gewin­nen sind. Doch stimmt das? Spielt die Aus­ge­wo­gen­heit der kan­to­na­len Stän­de­rats­ver­tre­tung beim Ent­scheid der Wäh­ler und Wäh­le­rin­nen tat­säch­lich eine Rol­le und wenn ja, wel­che? Ich bin die­ser Fra­ge für den ers­ten Wahl­gang der Stän­de­rats­wah­len mit­hil­fe der Tame­dia-Umfra­ge­da­ten nach­ge­gan­gen (sie­he Info­box “Umfra­ge­da­ten”).

SP-Wähler zeigen grösste Parteitreue

Dabei zeigt sich zunächst, dass rund 75 Pro­zent der Wäh­len­den zwei und nicht nur einen Kan­tons­ver­tre­ter für den Stän­de­rat wäh­len – zumin­dest in jenen Kan­to­nen, in denen zwei Stän­de­rats­sit­ze ver­ge­ben wer­den. Ob die bei­den Stim­men auf unter­schied­li­che poli­ti­sche Lager ver­teilt wer­den – ein mög­li­cher Hin­weis auf einen frei­wil­li­gen Pro­porz – hängt dabei stark von der poli­ti­schen Hei­mat des Wäh­len­den ab: SP-Wäh­ler zei­gen nicht nur bei der Erst­stim­me die gröss­te Par­tei­treue, sie wäh­len auch weni­ger oft als zwei­ten Ver­tre­ter jeman­den aus einem ande­ren poli­ti­schen Lager. Zusam­men­ge­fasst lässt sich fest­stel­len: Wenn Wäh­ler einen frei­wil­li­gen Pro­porz anwen­den, geht dies oft zulas­ten rech­ter Par­tei­en, ins­be­son­de­re der SVP.

INFOBOX: For­schung zum Thema

Der frei­wil­li­ge Pro­porz war schon ver­schie­dent­lich The­ma wis­sen­schaft­li­cher Unter­su­chun­gen – indes, zumeist bezo­gen auf kan­to­na­le Regie­rungs­rats­wah­len und oft ange­bots­sei­tig ori­en­tiert (Bochs­ler und Scia­ri­ni 2006, Bochs­ler und Bous­bah 2011, Lin­der 2005, Vat­ter 2002). Für die kan­to­na­len Regie­rungs­wah­len gilt: In der Tat ver­zich­tet das poli­ti­sche Mehr­heits­la­ger oft schon im Vorn­her­ein auf einen Teil der Regie­rungs­macht. Dabei ist aber zu beden­ken, dass bei Regie­rungs­rats­wah­len fünf bzw. sie­ben Sit­ze zu ver­ge­ben sind, wäh­rend sich der Stän­de­rat aus zwei – in den Halb­kan­to­nen gar nur aus einem – Ver­tre­ter zusam­men­setzt. Einem frei­wil­li­gen Macht­ver­zicht sind bei den Stän­de­rats­wah­len also a prio­ri enge(re) Gren­zen gesetzt. 

Inwie­weit das indi­vi­du­el­le Wahl­ver­hal­ten vom Pro­porzwil­len durch­setzt ist, wur­de hin­ge­gen nur sel­ten unter­sucht: Im Rah­men von Regie­rungs­rats­wah­len erst kürz­lich von Lachat und Krie­si (2015) und im Rah­men von Stän­de­rats­wah­len von Lachat (2006) und Lutz (2012).[1] Dabei lau­te­te die Quint­essenz in bei­den Fäl­len, dass das Phä­no­men des frei­wil­li­gen Pro­porz­wäh­lens auch im Elek­to­rat weit ver­brei­tet ist. Dies, so zei­gen Lachat (2006) und Lutz (2012) auf, scha­det vor allem einer Par­tei: Der SVP. Denn es gibt ver­gleichs­wei­se weni­ge, die bei bei­den Wah­len, Natio­nal- und Stän­de­rats­wah­len, aus­schliess­lich SVP wäh­len. Und aus­ser­dem schafft es ein SVP-Kan­di­dat sel­ten ein­mal auf den Stän­de­rats­wahl­zet­tel eines Wäh­lers einer ande­ren Partei. 

75 Prozent schöpfen ihre Stimmkraft vollständig aus

Zunächst inter­es­siert, wie vie­le Wäh­ler und Wäh­le­rin­nen ihre Stimm­kraft tat­säch­lich aus­schöp­fen. Frei­wil­li­ges Pro­porz­wäh­len bedeu­tet im ers­ten Wahl­gang ja zumeist, dass man nicht bloss einen – aller Vor­aus­sicht nach den par­tei­ei­ge­nen Kan­di­da­ten – son­dern auch noch einen zwei­ten Kan­di­da­ten wählt. Kurz, nur wer zwei Namen auf den Wahl­zet­tel schreibt, kann auch eine aus­ge­wo­ge­ne Stan­des­ver­tre­tung nach Bern senden.

Die Stimm­kraft­aus­schöp­fung lässt sich natio­nal hoch­rech­nen, denn die (aller­meis­ten) Kan­to­ne wei­sen die Anzahl gül­ti­ger Wahl­zet­tel und mass­ge­ben­der Kan­di­da­ten­stim­men aus. Nach Kan­tons­grös­se gewich­tet schöpf­ten rund 75 Pro­zent der an den Stän­de­rats­wah­len gül­tig Teil­neh­men­den ihre Stimm­kraft voll­stän­dig aus (d.h. zwei Namen in den “Voll­kan­to­nen”), wäh­rend 25 Pro­zent bloss einen von zwei Zei­len aus­füll­ten.[2] 

Frei­wil­li­ges Pro­porz­ver­hal­ten ist nicht ganz so ein­fach zu defi­nie­ren und noch schwe­rer aus dem Wahl­ver­hal­ten her­aus­zu­le­sen. Aber eines ist frei­wil­li­ges Pro­porz­ver­hal­ten gewiss nicht: Die Wahl des par­tei­ei­ge­nen Kan­di­da­ten. Des­halb – im Sin­ne die­ser ers­ten, nega­ti­ven Defi­ni­ti­on von frei­wil­li­gem Pro­porz: Wie stark wur­den die eige­nen Kan­di­da­ten unterstützt?

Untreue glp-Wähler

Die Wäh­ler­schaf­ten der bei­den gros­sen Pol­par­tei­en, SVP und SP, unter­stütz­ten ihre Kan­di­da­tu­ren am dis­zi­pli­nier­tes­ten. Erstaun­lich ist vor allem, dass die SP mit ihren höchst erfolg­rei­chen, aber eben auch etwas abseits der „rei­nen“ lin­ken Leh­re ope­rie­ren­den Kan­di­da­ten Bru­de­rer und Jositsch, kei­ner­lei Mühe hat­te, die Rei­hen bei den Stän­de­rats­wah­len zu schlies­sen. 92 Pro­zent derer, die bei den Natio­nal­rats­wah­len SP wähl­ten, votier­ten auch für den eige­nen Stän­de­rats­kan­di­da­ten – so denn einer/eine im betref­fen­den Kan­ton auch antrat.[3] Bei der CVP- und der FDP-Wäh­ler­schaft waren es „nur“ noch 86 bzw. 83 Pro­zent, die den eige­nen Kan­di­da­ten unter­stütz­ten. Bei den Grü­nen, der BDP und vor allem der glp sind die Antei­le der „Untreu­en“ hin­ge­gen höher.

Bei der glp ver­zich­te­ten bei­spiels­wei­se 36 Pro­zent dar­auf, den eige­nen Kan­di­da­ten zu wäh­len, was mit einer der Grün­de dafür war, wes­halb etwa Mar­tin Bäum­le in Zürich eher ernüch­ternd abschnitt. Die Grün­de dafür, dass sich klei­ne­re Par­tei­en nicht auf die­sel­be Par­tei­dis­zi­plin beim Wahl­ver­hal­ten stüt­zen kön­nen wie die Gros­sen, sind man­nig­fal­tig: Die Kon­kur­renz­si­tua­ti­on, der Bekannt­heits­grad des eige­nen wie auch der ande­ren Kan­di­da­ten, aber gewiss auch stra­te­gi­sche Erwä­gun­gen: Ange­sichts der gerin­gen Erfolgs­chan­cen des eige­nen Kan­di­da­ten stim­men Wäh­ler klei­ne­rer Par­tei­en oft für den ideo­lo­gisch nächst­ge­le­ge­nen chan­cen­rei­chen Kandidaten.

Gesamt­haft gese­hen ist die Par­tei­dis­zi­plin bei den Stän­de­rats­wah­len indes­sen hoch. Das wider­spricht jedoch noch nicht per se dem frei­wil­li­gen Pro­porz. Denn letz­te­res bedeu­tet ja nicht, dass man den par­tei­ei­ge­nen Kan­di­da­ten nicht wählt, son­dern ledig­lich, dass man dane­ben auch noch einen Kan­di­da­ten aus einem ande­ren Lager bzw. einer ande­ren Par­tei auf den Wahl­zet­tel schreibt. Aber immer­hin: Die­je­ni­gen rund 25 Pro­zent, die (frei­wil­lig)[4] bloss einen Kan­di­da­ten – und wie gese­hen han­delt es sich dabei meist um den par­tei­ei­ge­nen Kan­di­da­ten – wäh­len, kom­men als „Pro­porz­wäh­ler“ schon mal nicht in Betracht. Sie ver­zich­ten gewis­ser­mas­sen frei­wil­lig auf den frei­wil­li­gen Proporz.

Abbildung 1:

*Die Antei­le der jewei­li­gen Par­tei­an­hän­ger­schaf­ten bezie­hen sich nur auf sol­che Wah­len, bei denen zumin­dest ein par­tei­ei­ge­ner Kan­di­dat ange­tre­ten ist.

Lagerübergreifendes Wählen

Doch wodurch zeich­net sich eigent­lich eine am frei­wil­li­gen Pro­porz ori­en­tier­te Wahl aus? Wer bei­spiels­wei­se eine SP- und eine Grü­nen-Kan­di­da­tur unter­stützt, muss­te sich wohl weni­ger zum Pro­porz über­win­den als jemand, der eine SP- und eine FDP-Kan­di­da­tur wähl­te. Wir müs­sen also zunächst ein­mal die Gren­zen bestim­men, inner­halb derer kein „ech­tes“ Pro­porz­wäh­len statt­fin­det. Eine sol­che Grenz­zie­hung hat immer etwas arbi­trä­res, aber andern­falls sind kei­ne sinn­vol­len Aus­sa­gen zum Pro­porz­wäh­len möglich.

Ange­sichts der Viel­zahl poli­ti­scher Par­tei­en in der Schweiz gibt es eine fast schon unbe­grenz­te Men­ge an Kom­bi­na­ti­ons­mög­lich­kei­ten. Um das frei­wil­li­ge Pro­porz­wahl­ver­hal­ten iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen, habe ich mich des­halb dazu ent­schie­den, das poli­ti­sche Spek­trum zunächst in drei Lager auf­zu­tei­len (sie­he auch: Lutz 2012, Lachat, Lutz und Sta­del­mann 2014): Links (SP, Grü­ne, klei­ne­re Links­par­tei­en), Mit­te (CVP, glp, BDP, EVP) und Rechts (SVP, klei­ne­re Rechtsparteien).

Die FDP habe ich geson­dert behan­delt, das heisst, ich habe sowohl eine bür­ger­li­che Kom­bi­na­ti­on (alle Mit­te-Par­tei­en inkl. FDP) als auch eine rechts­bür­ger­li­che Koali­ti­on von FDP und SVP vor­ge­se­hen. Mit “Mit­te-Links” wur­de eine Kom­bi­na­ti­on bezeich­net, die einer­seits einen Mit­te-Kan­di­da­ten (inkl. FDP) und ande­rer­seits einen lin­ken Kan­di­da­ten ent­hält. “Links-Rechts” wie­der­um steht für eine Kom­bi­na­ti­on eines lin­ken und eines rech­ten Kan­di­da­ten (exkl. FDP). Ver­ein­zel­te, Par­tei­lo­se und Ver­tre­ter von Kleinst­par­tei­en habe ich für die Klas­si­fi­zie­rung nicht berück­sich­tigt. Kurz, pro­porz­ori­en­tier­tes Wahl­ver­hal­ten wur­de als „Lager“- oder „Block“-übergreifendes Wäh­len definiert.

Abbildung 2:

Beliebt: Links und Mitte

Wer zwei Kan­di­da­ten wähl­te, kom­bi­nier­te am häu­figs­ten einen lin­ken mit einem Mit­te-Kan­di­da­ten (25%): Jositsch (SP) und Noser (FDP) waren bei­spiels­wei­se eine sol­che, in Zürich belieb­te Kom­bi­na­ti­on (rund 14% aller Wahl­zet­tel). Ist dies ein unzwei­fel­haf­ter Beleg für die Bereit­schaft der Wäh­ler zum frei­wil­li­gen Pro­porz? Ganz so sicher ist das nicht. Zwar gehö­ren bei­de genann­ten Zür­cher Kan­di­da­ten unter­schied­li­chen Par­tei­en[5] an und aus­ser­dem gab es sowohl für Links- wie auch Mit­te­wäh­ler die Mög­lich­keit, inner­halb des eige­nen ideo­lo­gi­schen Blo­ckes zwei Kan­di­da­ten zu wäh­len.[6] Aber auf­grund der ver­gleichs­wei­se gerin­gen ideo­lo­gi­schen Distanz zwi­schen Jositsch und Noser ist auch denk­bar, dass die­se Kom­bi­na­ti­on kein Zuge­ständ­nis an den frei­wil­li­gen Pro­porz war, son­dern – ganz ein­fach – das „natür­li­che“ Wahl­ver­hal­ten eines Sozialliberalen.

Aber immer­hin: Wer einen lin­ken und einen Mit­te-Kan­di­da­ten wähl­te, hielt sich wohl in den wenigs­ten Fäl­len an die Emp­feh­lung sei­ner Iden­ti­fi­ka­ti­ons­par­tei und demons­trier­te dem­nach ein par­tei­un­ab­hän­gi­ges Den­ken, was (oft) eine Grund­vor­aus­set­zung für pro­porz­ori­en­tier­tes Ver­hal­ten ist.

Wei­te­re häu­fi­ge Kom­bi­na­tio­nen waren zwei Mit­te-Kan­di­da­ten (inkl. FDP) und zwei lin­ke Kan­di­da­ten mit Antei­len von 21 bzw. 19 Pro­zent. Letz­te­res ist kaum als Bekennt­nis zum Pro­porz zu deu­ten und ers­te­res nur bedingt. Rechts­bür­ger­lich wähl­ten rund neun Pro­zent, wäh­rend wei­te­re sie­ben Pro­zent einen Kan­di­da­ten aus CVP, glp, EVP oder BDP in Kom­bi­na­ti­on mit einem SVP-Kan­di­da­ten wählten.

SP-Kandidaten auf Wahlzetteln der SVP-Wähler

Vom Pro­porz­ge­dan­ken wahr­haft beseelt – so könn­te man zumin­dest auf den ers­ten Blick mei­nen – waren die­je­ni­gen (2%), die einen lin­ken mit einem rech­ten Kan­di­da­ten kom­bi­nier­ten. Doch auf den zwei­ten Blick zeigt sich, dass die­se erstaun­li­che Kom­bi­na­ti­on vor allem in drei Kan­to­nen — Tes­sin, Zürich und Aar­gau — zustan­de kam. Im Tes­sin (fast aus­schliess­lich die Kom­bi­na­ti­on Savoia (Grü­ne) und Ghig­gia (Lega)) spiel­te der Pro­porz­ge­dan­ke wohl weni­ger eine Rol­le als viel­mehr die ideo­lo­gi­sche Nähe (bei Migrationsfragen).

In Aar­gau und in Zürich (Bru­de­rer (SP) und Knecht (SVP), Vogt (SVP) und Jositsch (SP)) lag es an der Strahl­kraft der bei­den SP-Kan­di­da­ten: Sie wur­den selbst von eini­gen (wenn auch nicht vie­len) SVP-Wäh­lern gewählt, wäh­rend die Lin­ke sich umge­kehrt eine Wahl eines SVP-Kan­di­da­ten kaum vor­stel­len konnte.

Ein aus­schliess­lich rech­tes „Ticket“ kam nur für rund fünf Pro­zent der Wäh­ler in Fra­ge, was aber auch damit zusam­men­hängt, dass sel­ten ein­mal zwei rech­te Kan­di­da­ten (zwei SVP-Kan­di­da­ten oder bei­spiels­wei­se eine SVP- und eine MCG-Kan­di­da­tur) zur Wahl antra­ten. Letz­te­res zeigt noch­mals, dass frei­wil­li­ges Pro­porz­ver­hal­ten immer auch vom Ange­bot der Par­tei­en abhän­gig ist. 

Die SVP-Wähler als die wahren Gralshüter des Proporzes?

Abschlies­send lässt sich sagen: Blickt man auf die ein­zel­nen Par­tei­an­hän­ger­schaf­ten, so zeigt sich, dass Grü­ne, SP und CVP ihre bei­den Stim­men am wenigs­ten häu­fig zu tei­len bereit sind. Die bei­den (ansons­ten durch­aus auf Dis­tri­bu­ti­on bedach­ten) lin­ken Par­tei­an­hän­ger­schaf­ten sind dabei – je nach ideo­lo­gi­schem Blick­win­kel – die dis­zi­pli­nier­tes­ten bzw. dog­ma­tischs­ten Wäh­ler­schaf­ten. Ihre mit Abstand belieb­tes­te Kom­bi­na­ti­on lau­tet: zwei lin­ke Kan­di­da­ten (sie­he auch Lutz 2012). SVP und glp hin­ge­gen schrie­ben in min­des­tens 60 Pro­zent der Fäl­le noch einen Kan­di­da­ten aus einem ande­ren Lager auf den Wahl­zet­tel. [7] 

Gewiss hat dies auch mit dem Kan­di­da­ten­an­ge­bot zu tun: Kaum je tra­ten zwei rech­te Kan­di­da­ten in einem Kan­ton an, ein aus­schliess­lich rech­tes Ticket ist dem­nach per se sel­te­ner mög­lich als ein lin­kes Ticket. Hin­zu kommt, dass sol­che Ergeb­nis­se immer auch von der Defi­ni­ti­on der Lager­gren­zen abhän­gig sind.[8] Wäh­rend all dies bei der SVP-Wäh­ler­schaft zu einem mög­li­cher­wei­se zu hohen Anteil an Pro­porz­wäh­lern geführt haben könn­te, ist dies bei glp-Wäh­lern wohl kaum der Fall. Eine Mit­te-Kom­bi­na­ti­on wäre für glp-Wäh­ler in den meis­ten Kan­to­nen mög­lich gewe­sen, gleich­wohl ent­schie­den sich vie­le von ihnen für eine lager­über­grei­fen­de Kom­bi­na­ti­on. Sie sind dem­nach die Hüter des Proporzgedankens.

Abbildung 3:

Stimmkombinationen

INFOBOX: Umfra­ge­da­ten

Die Nach­wahl­be­fra­gung zu den natio­na­len Par­la­ments­wah­len 2015 lief zwi­schen dem 16. und 18. Okto­ber 2015 auf den Web­sei­ten der Medi­en von Tame­dia. Für die vor­lie­gen­de Aus­wer­tung wur­den die Anga­ben der­je­ni­gen Befrag­ten berück­sich­tigt, die sich bis Sonn­tag Abend um 17.00 Uhr betei­ligt hat­ten. Ins­ge­samt betei­lig­ten sich bis zum besag­ten Zeit­punkt 39’828 Per­so­nen an der Umfra­ge. Rund 37’700 gaben dabei an, an den Wah­len teil­ge­nom­men zu haben.

Die Beschrän­kung auf den ers­ten Wahl­gang hat zwei Grün­de: Ers­tens, (lei­der) feh­len Daten zum zwei­ten Wahl­gang. Zwei­tens, wird in zwei­ten Wahl­gän­gen das stra­te­gisch-ver­hin­dern­de Wäh­len zu einem zen­tra­len Beweg­grund. Wer in Zürich bei­spiels­wei­se als SP-Wäh­ler auf Noser setz­te, tat dies mög­li­cher­wei­se nicht um des Pro­por­zes wil­len, son­dern weil er den SVP-Kan­di­da­ten Vogt ver­hin­dern woll­te. Eine sol­che Ver­hin­de­rungs­tak­tik ist natür­lich schon im ers­ten Wahl­gang denk­bar, aber auf­grund der unter­schied­li­chen Wahl­si­tua­ti­on (in Majorz­kan­to­nen ist ein abso­lu­tes Mehr nötig, zudem ist noch kei­ner der Sit­ze ver­ge­ben, etc.) weni­ger unwahrscheinlich.

[1] Den Stän­de­rats­wah­len wur­de gene­rell “sei­tens der For­schung bis­her rela­tiv wenig Auf­merk­sam­keit geschenkt”, schreibt etwa Georg Lutz (2014) im Hand­buch der Schwei­zer Politik.

[2] Die Berech­nung der Stimm­kraft­aus­schöp­fung ist nicht ganz so ein­fach. Man kann näm­lich von unter­schied­li­chen Gesamt­hei­ten aus­ge­hen: (1) Das Total aller Kan­to­ne (ohne Berück­sich­ti­gung der spe­zi­el­len Situa­ti­on in den Halb­kan­to­nen), (2) das Total aller Kan­to­ne mit zwei Stän­de­rats­sit­zen. Wei­ter kann man die Antei­le (a) am Total aller ein­ge­leg­ten Wahl­zet­tel oder (b) aller gül­ti­gen Wahl­zet­tel ermit­teln. Das oben­ge­nann­te Total bezieht sich auf (2) und (b). Hin­zu kommt, dass gül­ti­ge Wahl­zet­tel kan­to­nal unter­schied­lich defi­niert werden. 

[3] Die Antei­le bezie­hen sich stets auf die Gesamt­heit derer Kan­to­ne, bei denen ein Kan­di­dat der jewei­li­gen Par­tei auch tat­säch­lich antrat.

[4] In den Halb­kan­to­nen ist eine aus­ge­wo­ge­ne Wahl aus nahe­lie­gen­den Grün­den nicht möglich.

[5] Aus­ser­dem sind SP und FDP nicht nur „nomi­nell“ unter­schied­li­che Par­tei­en; sie ver­tre­ten für die meis­ten Wäh­ler sicht­bar unter­schied­li­che Positionen.

[6] Ein Links­wäh­ler hät­te Jositsch und Girod, ein mit­ti­ger FDP-Wäh­ler Noser und Bäum­le (o.a.) wäh­len können.

[7] SVP-Wäh­ler schrie­ben ver­gleichs­wei­se häu­fig Ver­ein­zel­te, d.h. nicht offi­zi­ell nomi­nier­te Kan­di­da­ten auf den Stimm­zet­tel. Um wel­che ver­ein­zel­te Kan­di­da­ten es sich hier­bei han­del­te, ist jedoch unbe­kannt. Des­halb ist der Anteil lager­über­grei­fen­des Stimm­ver­hal­ten bei der SVP schwie­ri­ger zu bestim­men als bei ande­ren Parteien. 

[8] Wür­de man die FDP dem rechts­kon­ser­va­ti­ven Lager hin­zu­zäh­len, sähen die Resul­ta­te anders aus – indes, kei­nes­wegs plau­si­bler. Die “unhei­li­ge Alli­anz” Links-Rechts käme dann viel häu­fi­ger vor (z.B. Noser und Jositsch), deut­lich öfter als dies etwa im Par­la­ment der Fall ist.


Bild: Par­la­ments­dienst

image_pdfimage_print