Initiativenflut? — Immer mehr Politiker in Initiativkomitees

Erb­schafts­steu­er­re­form, Ener­gie- statt Mehr­wert­steu­er, Fami­li­en­in­itia­ti­ve, Eco­pop – das ist nur eine Aus­wahl der Initia­ti­ven, über die in der Schweiz in den letz­ten Mona­ten abge­stimmt wur­de. In den letz­ten Jah­ren nah­men die Stim­men zu, die vor einer Initia­ti­ven­flut war­nen oder gar den Miss­brauch der direk­ten Demo­kra­tie bekla­gen. Eine genaue­re Ana­ly­se zeigt erst­mal, dass die Anzahl der ein­ge­reich­ten Initia­ti­ven weder flut­ar­tig noch zufäl­lig ange­stie­gen ist. Es gibt kla­re Grün­de, die zu einer ver­stärk­ten Nut­zung der direk­ten Demo­kra­tie führen.

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In den letz­ten zwölf Mona­ten konn­te das Schwei­zer Stimm­volk an der Urne über sie­ben Initia­ti­ven befin­den. Das ist viel, denn vor 50 Jah­ren kam weni­ger als eine Vor­la­ge pro Jahr zur Abstim­mung, vor fast hun­dert Jah­ren waren es rund zwei Initia­ti­ven pro Jahr.

Drei unterschiedliche Phasen eingereichter Initiativen

Die Initia­ti­ven, die in den letz­ten 95 Jah­ren ein­ge­reicht wur­den, las­sen sich grob in drei unter­schied­li­che Pha­sen ein­tei­len (sie­he Abbil­dung 1).

  • Eine ers­te sehr kur­ze Pha­se von 1920 bis 1925. Wäh­rend die­ser ers­ten Pha­se wur­den etwa zwei bis drei Initia­ti­ven pro Jahr eingereicht.
  • Eine zwei­te Pha­se, die von 1925 bis etwa 1970 reicht. In die­ser Pha­se wur­de im Durch­schnitt weni­ger als eine Initia­ti­ve pro Jahr eingereicht.
  • Die letz­te Pha­se deckt 1970 bis heu­te ab. Nach 1970 schnellt die Anzahl ein­ge­reich­ter Initia­ti­ven auf durch­schnitt­lich über drei pro Jahr an.
Abbildung 1: Zeitachse der eingereichten Initiativen

InitiativenLese­hil­fe: Die ein­zel­nen Punk­te zei­gen die Anzahl ein­ge­reich­ter Initia­ti­ven pro Jahr an. Im Jahr 1920 bspw. wur­den drei Initia­ti­ve ein­ge­reicht. Die blau­en Lini­en zei­gen die ver­schie­de­nen glei­ten­den Mit­tel­wer­te (mit vari­ie­ren­der Peri­oden­grös­se). Die Gra­fik zeigt alle ein­ge­reich­ten Initiativen.

Die Begrün­dung für die­se drei unter­schied­li­chen Pha­sen liegt in den grund­le­gen­den Ver­än­de­run­gen des poli­ti­schen Umfelds. Der erhöh­te Par­tei­en­wett­be­werb und tie­fe­re Samm­lungs­hür­den sind die wich­tigs­ten Fak­to­ren, die den Anstieg der ein­ge­reich­ten Initia­ti­ven über die Zeit erklären.

Politischer Wettbewerb und Unterschriftenzahlen

Die sta­tis­ti­sche Ana­ly­se über die Zeit zeigt es: Je ein­fa­cher es war, die nöti­gen Unter­schrif­ten zu sam­meln, des­to mehr Initia­ti­ven wur­den ein­ge­reicht. 1920 waren 50’000 Unter­schrif­ten not­wen­dig, das ent­sprach fast sechs Pro­zent aller Stimm­be­rech­tig­ten. Heu­te braucht es zwar 100’000 gül­ti­ge Unter­schrif­ten, damit eine Initia­ti­ve zustan­de kommt, doch das ent­spricht nicht ein­mal mehr zwei Pro­zent aller Stimmberechtigten.

Die Ana­ly­se zeigt eben­falls, dass im Jahr vor einer Wahl und im Wahl­jahr sel­ber deut­lich mehr Initia­ti­ven ein­ge­reicht wer­den. Der Par­tei­en­wett­be­werb hat über die Zeit eben­falls stark zuge­nom­men. Die Wäh­ler­an­tei­le der Par­tei­en in den ein­zel­nen Kan­to­nen ver­schie­ben sich heu­te von Wahl zu Wahl viel stär­ker als das vor 95 Jah­ren der Fall war.

Par­al­lel zum ver­stärk­ten Par­tei­en­wett­be­werb nahm die Zahl ein­ge­reich­ter Initia­ti­ven zu. Doch wes­halb soll­te der Par­tei­en­be­wett­be­werb zur erhöh­ten Nut­zung der Volks­in­itia­ti­ve füh­ren? Oder anders gefragt: Wes­halb lie­ben Par­tei­en die Volksinitiative?

Parteipolitiker lieben die Initiative

Poli­ti­ker set­zen dar­um ger­ne auf die Initia­ti­ve, um einer­seits ihre The­men ins Gespräch und ande­rer­seits ihre Par­tei in die Medi­en zu brin­gen. Ein schar­fes Pro­fil kann für Par­tei­en ent­schei­dend sein. Und über ein Kern­the­ma zu ver­fü­gen, hilft einer Par­tei, ihr Pro­fil zu schär­fen. So hat bei­spiels­wei­se die SVP ihren kon­ti­nu­ier­li­chen Auf­stieg über Jah­re mit ver­schie­de­nen aus­län­der­po­li­ti­schen Vor­la­gen vor­be­rei­tet. Die kon­se­quen­te Bewirt­schaf­tung die­ses Poli­tik­be­rei­ches wur­de von Sei­ten der Wäh­ler­schaft von Wahl zu Wahl mit stei­gen­der Unter­stüt­zung belohnt.

Immer mehr Parteipolitiker in Initiativkomitees

Der stär­ke­re Par­tei­en­wett­be­werb führ­te dazu, dass in den Initia­tiv­ko­mi­tees immer mehr Par­tei­po­li­ti­ker sit­zen. Eine detail­lier­te Aus­wer­tung aller ein­ge­reich­ten Initia­ti­ven seit 1920 zeigt, dass der Anstieg der Anzahl Initia­ti­ven gröss­ten­teils von Par­tei­po­li­ti­kern ver­ur­sacht wur­de. Die Zivil­ge­sell­schaft ver­ant­wor­te­te einen eher beschei­de­nen Anteil am Anstieg (Abbil­dung 2).

Abbildung 2:  Zeitachse der eingereichten Initiativen nach Ursprung

002e-01Lese­hil­fe: Die Abbil­dung 2 zeigt für jedes Jahr die Anzahl ein­ge­reich­ter Initia­ti­ven nach Ursprung; die roten Punk­te zei­gen Initia­ti­ven mit akti­ven natio­na­len Poli­ti­ke­rIn­nen im Komi­tee und die blau­en Punk­te reprä­sen­tie­ren die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­ti­ven. Die Lini­en zei­gen die ver­schie­de­nen glei­ten­den Mit­tel­wer­te an (mit vari­ie­ren­der Peri­oden­grös­se). Die Gra­fik zeigt alle Initia­ti­ven, die schluss­end­lich zur Abstim­mung gelangt sind.

Viele der jüngeren eingereichten Initiativen betreffen kulturelle oder gesellschaftliche Themen

Poli­ti­sche Posi­tio­nen kann man wie auf einer Land­kar­te abbil­den. Die West-Ost Ach­se reprä­sen­tiert die öko­no­mi­sche Dimen­si­on und die Nord-Süd Ach­se reprä­sen­tiert die kul­tu­rel­le Dimen­si­on. Die öko­no­mi­sche Ach­se ist die domi­nan­te Dimen­si­on, deren Bedeu­tung sich nicht geän­dert hat – sie teilt die Par­tei­en im Bezug auf ihre Posi­ti­on ent­lang der Umver­tei­lungs­fra­ge ein. Wer links steht (im Wes­ten), befür­wor­tet eher staat­li­che Markt­ein­grif­fe und Umver­tei­lung. Dies im Gegen­satz zu den Akteu­ren, die rechts ste­hen (im Osten).

Die zwei­te Dimen­si­on (Nord-Süd-Ach­se) ist die kul­tu­rel­le sowie gesell­schafts­po­li­ti­sche Ach­se. Sie deckt ver­schie­dens­te The­men wie Umwelt­schutz, Ver­hält­nis zu Euro­pa, aber auch die Aus­län­der­po­li­tik ab. Die­se The­men vari­ie­ren in ihrer Rele­vanz, doch es sind die­se Berei­che, in denen Par­tei­en am ehes­ten neue The­men kre­ieren und beset­zen können.

Abbildung 3: Zeitachse der eingereichten Initiativen nach Dimensionen

InitiativenLese­hil­fe: Die Abbil­dung 3 zeigt für jedes Jahr die Anzahl ein­ge­reich­ter Initia­ti­ven nach Kon­flikt­ach­se; die blau­en Punk­te zei­gen Initia­ti­ven mit Bezug zur öko­no­mi­schen Dimen­si­on und die roten Punk­te reprä­sen­tie­ren die Initia­ti­ven, die sich auf die zwei­te Kon­flikt­ach­se bezie­hen. Die Lini­en zei­gen die ver­schie­de­nen glei­ten­den Mit­tel­wer­te an (mit vari­ie­ren­der Peri­oden­grös­se). Die Gra­fik zeigt alle Initia­ti­ven, die schluss­end­lich zur Abstim­mung gelangt sind.

Wenn man die ein­zel­nen ein­ge­reich­ten Initia­ti­ven dahin­ge­hend unter­sucht, ob sie eher die Umver­tei­lungs­ach­se oder die kul­tu­rel­le Ach­se betref­fen, zeigt sich ein kla­res Bild: Der Anstieg der ein­ge­reich­ten Initia­ti­ven in der Schweiz ist nicht auf wirt­schafts­po­li­ti­sche The­men zurück­zu­füh­ren. In der Schweiz wer­den immer mehr gesell­schafts­po­li­ti­sche Kämp­fe an der Urne ausgefochten.

Die­ser Bei­trag ist eine Kurz­fas­sung von: 

Lee­mann, Lucas (2015). Poli­ti­cal Con­flict and Direct Demo­cra­cy – Exp­lai­ning Initia­ti­ve Use 1920–2012. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 21(4).


Foto: Screen­shot Video Durchsetzungsinitiative

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