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Initiativenflut? — Immer mehr Politiker in Initiativkomitees

Lucas Leemann
27th November 2015

Erbschaftssteuerreform, Energie- statt Mehrwertsteuer, Familieninitiative, Ecopop – das ist nur eine Auswahl der Initiativen, über die in der Schweiz in den letzten Monaten abgestimmt wurde. In den letzten Jahren nahmen die Stimmen zu, die vor einer Initiativenflut warnen oder gar den Missbrauch der direkten Demokratie beklagen. Eine genauere Analyse zeigt erstmal, dass die Anzahl der eingereichten Initiativen weder flutartig noch zufällig angestiegen ist. Es gibt klare Gründe, die zu einer verstärkten Nutzung der direkten Demokratie führen.

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In den letzten zwölf Monaten konnte das Schweizer Stimmvolk an der Urne über sieben Initiativen befinden. Das ist viel, denn vor 50 Jahren kam weniger als eine Vorlage pro Jahr zur Abstimmung, vor fast hundert Jahren waren es rund zwei Initiativen pro Jahr.

Drei unterschiedliche Phasen eingereichter Initiativen

Die Initiativen, die in den letzten 95 Jahren eingereicht wurden, lassen sich grob in drei unterschiedliche Phasen einteilen (siehe Abbildung 1).

  • Eine erste sehr kurze Phase von 1920 bis 1925. Während dieser ersten Phase wurden etwa zwei bis drei Initiativen pro Jahr eingereicht.
  • Eine zweite Phase, die von 1925 bis etwa 1970 reicht. In dieser Phase wurde im Durchschnitt weniger als eine Initiative pro Jahr eingereicht.
  • Die letzte Phase deckt 1970 bis heute ab. Nach 1970 schnellt die Anzahl eingereichter Initiativen auf durchschnittlich über drei pro Jahr an.
Abbildung 1: Zeitachse der eingereichten Initiativen

InitiativenLesehilfe: Die einzelnen Punkte zeigen die Anzahl eingereichter Initiativen pro Jahr an. Im Jahr 1920 bspw. wurden drei Initiative eingereicht. Die blauen Linien zeigen die verschiedenen gleitenden Mittelwerte (mit variierender Periodengrösse). Die Grafik zeigt alle eingereichten Initiativen.

Die Begründung für diese drei unterschiedlichen Phasen liegt in den grundlegenden Veränderungen des politischen Umfelds. Der erhöhte Parteienwettbewerb und tiefere Sammlungshürden sind die wichtigsten Faktoren, die den Anstieg der eingereichten Initiativen über die Zeit erklären.

Politischer Wettbewerb und Unterschriftenzahlen

Die statistische Analyse über die Zeit zeigt es: Je einfacher es war, die nötigen Unterschriften zu sammeln, desto mehr Initiativen wurden eingereicht. 1920 waren 50’000 Unterschriften notwendig, das entsprach fast sechs Prozent aller Stimmberechtigten. Heute braucht es zwar 100’000 gültige Unterschriften, damit eine Initiative zustande kommt, doch das entspricht nicht einmal mehr zwei Prozent aller Stimmberechtigten.

Die Analyse zeigt ebenfalls, dass im Jahr vor einer Wahl und im Wahljahr selber deutlich mehr Initiativen eingereicht werden. Der Parteienwettbewerb hat über die Zeit ebenfalls stark zugenommen. Die Wähleranteile der Parteien in den einzelnen Kantonen verschieben sich heute von Wahl zu Wahl viel stärker als das vor 95 Jahren der Fall war.

Parallel zum verstärkten Parteienwettbewerb nahm die Zahl eingereichter Initiativen zu. Doch weshalb sollte der Parteienbewettbewerb zur erhöhten Nutzung der Volksinitiative führen? Oder anders gefragt: Weshalb lieben Parteien die Volksinitiative?

Parteipolitiker lieben die Initiative

Politiker setzen darum gerne auf die Initiative, um einerseits ihre Themen ins Gespräch und andererseits ihre Partei in die Medien zu bringen. Ein scharfes Profil kann für Parteien entscheidend sein. Und über ein Kernthema zu verfügen, hilft einer Partei, ihr Profil zu schärfen. So hat beispielsweise die SVP ihren kontinuierlichen Aufstieg über Jahre mit verschiedenen ausländerpolitischen Vorlagen vorbereitet. Die konsequente Bewirtschaftung dieses Politikbereiches wurde von Seiten der Wählerschaft von Wahl zu Wahl mit steigender Unterstützung belohnt.

Immer mehr Parteipolitiker in Initiativkomitees

Der stärkere Parteienwettbewerb führte dazu, dass in den Initiativkomitees immer mehr Parteipolitiker sitzen. Eine detaillierte Auswertung aller eingereichten Initiativen seit 1920 zeigt, dass der Anstieg der Anzahl Initiativen grösstenteils von Parteipolitikern verursacht wurde. Die Zivilgesellschaft verantwortete einen eher bescheidenen Anteil am Anstieg (Abbildung 2).

Abbildung 2:  Zeitachse der eingereichten Initiativen nach Ursprung

002e-01Lesehilfe: Die Abbildung 2 zeigt für jedes Jahr die Anzahl eingereichter Initiativen nach Ursprung; die roten Punkte zeigen Initiativen mit aktiven nationalen PolitikerInnen im Komitee und die blauen Punkte repräsentieren die zivilgesellschaftlichen Initiativen. Die Linien zeigen die verschiedenen gleitenden Mittelwerte an (mit variierender Periodengrösse). Die Grafik zeigt alle Initiativen, die schlussendlich zur Abstimmung gelangt sind.

Viele der jüngeren eingereichten Initiativen betreffen kulturelle oder gesellschaftliche Themen

Politische Positionen kann man wie auf einer Landkarte abbilden. Die West-Ost Achse repräsentiert die ökonomische Dimension und die Nord-Süd Achse repräsentiert die kulturelle Dimension. Die ökonomische Achse ist die dominante Dimension, deren Bedeutung sich nicht geändert hat – sie teilt die Parteien im Bezug auf ihre Position entlang der Umverteilungsfrage ein. Wer links steht (im Westen), befürwortet eher staatliche Markteingriffe und Umverteilung. Dies im Gegensatz zu den Akteuren, die rechts stehen (im Osten).

Die zweite Dimension (Nord-Süd-Achse) ist die kulturelle sowie gesellschaftspolitische Achse. Sie deckt verschiedenste Themen wie Umweltschutz, Verhältnis zu Europa, aber auch die Ausländerpolitik ab. Diese Themen variieren in ihrer Relevanz, doch es sind diese Bereiche, in denen Parteien am ehesten neue Themen kreieren und besetzen können.

Abbildung 3: Zeitachse der eingereichten Initiativen nach Dimensionen

InitiativenLesehilfe: Die Abbildung 3 zeigt für jedes Jahr die Anzahl eingereichter Initiativen nach Konfliktachse; die blauen Punkte zeigen Initiativen mit Bezug zur ökonomischen Dimension und die roten Punkte repräsentieren die Initiativen, die sich auf die zweite Konfliktachse beziehen. Die Linien zeigen die verschiedenen gleitenden Mittelwerte an (mit variierender Periodengrösse). Die Grafik zeigt alle Initiativen, die schlussendlich zur Abstimmung gelangt sind.

Wenn man die einzelnen eingereichten Initiativen dahingehend untersucht, ob sie eher die Umverteilungsachse oder die kulturelle Achse betreffen, zeigt sich ein klares Bild: Der Anstieg der eingereichten Initiativen in der Schweiz ist nicht auf wirtschaftspolitische Themen zurückzuführen. In der Schweiz werden immer mehr gesellschaftspolitische Kämpfe an der Urne ausgefochten.

Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von: 

Leemann, Lucas (2015). Political Conflict and Direct Democracy – Explaining Initiative Use 1920-2012. Swiss Political Science Review 21(4).


Foto: Screenshot Video Durchsetzungsinitiative