Social Media wird überschätzt

Social Media ist kos­ten­los und erlaubt Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern, direkt mit ihren Unter­stüt­zern zu kom­mu­ni­zie­ren. Laut Kam­pa­gnen­ex­per­te Lou­is Per­ron sind Face­book, Twit­ter und co. im Schwei­zer Wahl­kampf bis­her aber weit­ge­hend irrelevant.

Die meis­ten Leu­te aus mei­ner Bran­che sind wohl ande­rer Mei­nung, aber trotz­dem fin­de ich: die Bedeu­tung von Social Media für poli­ti­sche Kam­pa­gnen wird über­schätzt. Natür­lich ist Social Media ein Fak­tor und gehört heu­te prak­tisch zu einer Kam­pa­gne dazu. Für Wahl- und Abstim­mungs­kämp­fe ist der Ein­satz von Social Media aber sel­ten match­ent­schei­dend, im Gegen­teil, ihre Bedeu­tung wird überschätzt.

Das entscheidende Medium ist das Fernsehen

Ich arbei­te oft mit qua­li­ta­ti­ver Mei­nungs­for­schung und füh­re im In- und Aus­land Fokus­grup­pen durch. Mei­ne Erfah­run­gen zei­gen immer wie­der Fol­gen­des: das domi­nan­te Medi­um, wel­ches die Mei­nun­gen der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler mehr­heit­lich formt und beein­flusst, ist und bleibt auf abseh­ba­re Zeit das Fernsehen. 

Bei den Natio­nal- und Stän­de­rats­wah­len 2011 haben die drei bür­ger­li­chen Par­tei­en alle je mehr als zwei Pro­zent Wäh­ler­an­teil ver­lo­ren, dafür erziel­ten zwei neue Par­tei­en aus der poli­ti­schen Mit­te prak­tisch aus dem Stand über zehn Pro­zent Wäh­ler­an­teil. Für schwei­ze­ri­sche Ver­hält­nis­se war das ein Erd­be­ben. Der Anteil von Social Media dar­an? Vernachlässigbar.

Sowohl die GLP wie auch die BDP ent­stan­den über­wie­gend im Fern­seh­stu­dio Leut­schen­bach. Die TV-Prä­senz ist von enor­mer Wich­tig­keit. Nicht nur bei Wah­len, auch bei Abstimmungen. 

So blieb bei­spiels­wei­se der Clip mit dem frü­he­ren Nach­rich­ten­spre­cher Charles Clerc wäh­rend der Abstim­mungs­kam­pa­gne über die Erwei­te­rung der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit auf Rumä­ni­en und Bul­ga­ri­en aus dem Jah­re 2009 in Erin­ne­rung. Charles Clerc tritt dar­in als Befür­wor­ter auf und gibt ein insze­nier­tes TV-Comeback. 

Der Clip wur­de von der Agen­tur Fein­heit pro­du­ziert und kurz vor dem Abstim­mungs­sonn­tag über eine hal­be Mil­li­on Mal weitergeleitet. 

Social Media bleibt ein Nebenschauplatz

Doch einen Abstim­mungs­kampf der aus­lau­fen­den Legis­la­tur zu nen­nen, bei dem Social Media rele­vant war, fällt schwer. Selbst bei der knapps­ten und wich­tigs­ten Abstim­mung, der­je­ni­gen über die Mas­sen­ein­wan­de­rungs-Initia­ti­ve, war Social Media ein Neben­schau­platz. Match­ent­schei­dend war die unglaub­li­che argu­men­ta­ti­ve und kon­zep­tio­nel­le Schwä­che von Bun­des­rat und Economiesuisse. 

Die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen

Eini­ge poli­ti­sche Akteu­re set­zen voll auf Social Media. Der Wett­be­werb inner­halb einer Lis­te gibt den Per­so­nen­wahl­kämp­fen eine eige­ne Dyna­mik. Dass Nata­lie Rick­li vor vier Jah­ren sogar Chris­toph Blo­cher über­run­de­te und im Kan­ton Zürich auf Platz eins der SVP-Lis­te vor­rück­te, hat­te sicher­lich mit Social Media zu tun. Bei den Grü­nen zeigt Bal­tha­sar Glätt­li, wie man Social Media effi­zi­ent nutzt. Ein paar hun­dert oder tau­send dazu­ge­won­ne­ne (Panaschier-)Stimmen machen bei sol­chen Wahl­kämp­fen oft den Unter­schied. Ergo muss ein sol­cher Per­so­nen­wahl­kampf in die Tie­fe statt in die Brei­te gehen.

In die Tiefe statt in die Breite

Social Media ist vor­der­grün­dig kos­ten­los und erlaubt es den Kan­di­die­ren­den, kon­stant und unge­fil­tert mit ihren Unter­stüt­zern zu kom­mu­ni­zie­ren. Im Gegen­satz zu den tra­di­tio­nel­len Medi­en ist mit Social Media auch eine Inter­ak­ti­on mög­lich. Zudem kann ein explo­si­ver Tweet oder Face­book-Ein­trag einem noch unbe­kann­ten Poli­ti­ker den Zugang zu eta­blier­ten Medi­en öffnen.

Nutzt ein Kan­di­dat Social Media, um sei­ne Prä­senz in den tra­di­tio­nel­len Medi­en zu erhö­hen, ist dies gewinn­brin­gen­der als fünf- oder gar sechs­stel­li­ge Beträ­ge in inhalts­lo­se Pla­kat­kam­pa­gnen zu investieren. 

Social Media ist kein Selbstläufer

Der Ein­satz von Social Media ist für vie­le Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker dar­um ver­füh­re­risch, weil sie ihn für einen Selbst­läu­fer hal­ten, wel­cher ohne viel Auf­wand einen gros­sen Nut­zen bringt. Tat­säch­lich erlaubt die Nut­zung von Social Media, das Prin­zip der Mund-zu-Mund–Propaganda sys­te­ma­ti­scher und im grös­se­ren Stil zu betrei­ben. Doch hin­ter erfolg­rei­chen Kam­pa­gnen auf sozia­len Medi­en steckt genau so viel Arbeit und Auf­wand wie hin­ter erfolg­rei­chen, tra­di­tio­nel­len Kampagnen.

Der Ein­satz von Social Media ist dann erfolg­reich, wenn er per­sön­lich und mit einer gewis­sen Kon­stanz auf­ge­baut und bewirt­schaf­tet wird. Wer ihn dele­giert, lässt es bes­ser blei­ben. Twee­ten, damit get­wee­tet wird, bringt nichts. Wenn schon, dann muss man einen ech­ten News­wert bieten. 

Beispiel Hillary Clinton: Social Media erfährt’s als erste

Hil­la­ry Clin­ton bei­spiels­wei­se ver­kün­de­te im April 2015 ihre Kan­di­da­tur für die Prä­si­dent­schaft in einem zwei­mi­nü­ti­gen You­Tube-Video. In den USA ist es mitt­ler­wei­le Stan­dard, dass bekann­te Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker wich­ti­ge Ent­schei­de zuerst via Social Media kommunizieren.

Barack Oba­ma gilt als Vor­bild, was den Ein­satz von Social Media in poli­ti­schen Kam­pa­gnen angeht. In der Tat: sei­ne Lis­te mit 13 Mil­lio­nen Email-Adres­sen sowie zwei wei­te­ren Mil­lio­nen frei­wil­li­gen Social Media-Hel­fe­rin­nen und Hel­fern sind unschätz­ba­res poli­ti­sches Kapi­tal. Es wird aber zu häu­fig igno­riert, wie unglaub­lich viel Auf­wand nicht nur hin­ter dem Auf­bau einer sol­chen Lis­te, son­dern vor allem auch hin­ter der Über­tra­gung der Online-Akti­vi­tä­ten in kon­kre­te Stim­men am Wahl­tag steckt. 

Immer noch gilt: It’s the message!

Allem Effort zum Trotz, hät­te es auch Barack Oba­ma nicht nur mit Social Media geschafft. “Yes, we can” war die rich­ti­ge Bot­schaft und er ein unglaub­lich cha­ris­ma­ti­scher Botschafter. 

Das Fun­da­ment einer guten Kam­pa­gne besteht dar­um wei­ter­hin aus der rich­ti­gen Stra­te­gie, der pas­sen­den Bot­schaft, vor­han­de­nem Know-how, Res­sour­cen sowie Disziplin. 


Foto: Flickr

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