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Social Media wird überschätzt

Louis Perron
6th October 2015

Social Media ist kostenlos und erlaubt Politikerinnen und Politikern, direkt mit ihren Unterstützern zu kommunizieren. Laut Kampagnenexperte Louis Perron sind Facebook, Twitter und co. im Schweizer Wahlkampf bisher aber weitgehend irrelevant.

Die meisten Leute aus meiner Branche sind wohl anderer Meinung, aber trotzdem finde ich: die Bedeutung von Social Media für politische Kampagnen wird überschätzt. Natürlich ist Social Media ein Faktor und gehört heute praktisch zu einer Kampagne dazu. Für Wahl- und Abstimmungskämpfe ist der Einsatz von Social Media aber selten matchentscheidend, im Gegenteil, ihre Bedeutung wird überschätzt.

Das entscheidende Medium ist das Fernsehen

Ich arbeite oft mit qualitativer Meinungsforschung und führe im In- und Ausland Fokusgruppen durch. Meine Erfahrungen zeigen immer wieder Folgendes: das dominante Medium, welches die Meinungen der Wählerinnen und Wähler mehrheitlich formt und beeinflusst, ist und bleibt auf absehbare Zeit das Fernsehen.  

Bei den National- und Ständeratswahlen 2011 haben die drei bürgerlichen Parteien alle je mehr als zwei Prozent Wähleranteil verloren, dafür erzielten zwei neue Parteien aus der politischen Mitte praktisch aus dem Stand über zehn Prozent Wähleranteil. Für schweizerische Verhältnisse war das ein Erdbeben. Der Anteil von Social Media daran? Vernachlässigbar.

Sowohl die GLP wie auch die BDP entstanden überwiegend im Fernsehstudio Leutschenbach. Die TV-Präsenz ist von enormer Wichtigkeit. Nicht nur bei Wahlen, auch bei Abstimmungen.  

So blieb beispielsweise der Clip mit dem früheren Nachrichtensprecher Charles Clerc während der Abstimmungskampagne über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien aus dem Jahre 2009 in Erinnerung. Charles Clerc tritt darin als Befürworter auf und gibt ein inszeniertes TV-Comeback. 

Der Clip wurde von der Agentur Feinheit produziert und kurz vor dem Abstimmungssonntag über eine halbe Million Mal weitergeleitet.  

Social Media bleibt ein Nebenschauplatz

Doch einen Abstimmungskampf der auslaufenden Legislatur zu nennen, bei dem Social Media relevant war, fällt schwer. Selbst bei der knappsten und wichtigsten Abstimmung, derjenigen über die Masseneinwanderungs-Initiative, war Social Media ein Nebenschauplatz. Matchentscheidend war die unglaubliche argumentative und konzeptionelle Schwäche von Bundesrat und Economiesuisse.  

Die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen

Einige politische Akteure setzen voll auf Social Media. Der Wettbewerb innerhalb einer Liste gibt den Personenwahlkämpfen eine eigene Dynamik. Dass Natalie Rickli vor vier Jahren sogar Christoph Blocher überrundete und im Kanton Zürich auf Platz eins der SVP-Liste vorrückte, hatte sicherlich mit Social Media zu tun. Bei den Grünen zeigt Balthasar Glättli, wie man Social Media effizient nutzt. Ein paar hundert oder tausend dazugewonnene (Panaschier-)Stimmen machen bei solchen Wahlkämpfen oft den Unterschied. Ergo muss ein solcher Personenwahlkampf in die Tiefe statt in die Breite gehen.

In die Tiefe statt in die Breite

Social Media ist vordergründig kostenlos und erlaubt es den Kandidierenden, konstant und ungefiltert mit ihren Unterstützern zu kommunizieren. Im Gegensatz zu den traditionellen Medien ist mit Social Media auch eine Interaktion möglich. Zudem kann ein explosiver Tweet oder Facebook-Eintrag einem noch unbekannten Politiker den Zugang zu etablierten Medien öffnen.

Nutzt ein Kandidat Social Media, um seine Präsenz in den traditionellen Medien zu erhöhen, ist dies gewinnbringender als fünf- oder gar sechsstellige Beträge in inhaltslose Plakatkampagnen zu investieren.  

Social Media ist kein Selbstläufer

Der Einsatz von Social Media ist für viele Politikerinnen und Politiker darum verführerisch, weil sie ihn für einen Selbstläufer halten, welcher ohne viel Aufwand einen grossen Nutzen bringt. Tatsächlich erlaubt die Nutzung von Social Media, das Prinzip der Mund-zu-Mund–Propaganda systematischer und im grösseren Stil zu betreiben. Doch hinter erfolgreichen Kampagnen auf sozialen Medien steckt genau so viel Arbeit und Aufwand wie hinter erfolgreichen, traditionellen Kampagnen.

Der Einsatz von Social Media ist dann erfolgreich, wenn er persönlich und mit einer gewissen Konstanz aufgebaut und bewirtschaftet wird. Wer ihn delegiert, lässt es besser bleiben. Tweeten, damit getweetet wird, bringt nichts. Wenn schon, dann muss man einen echten Newswert bieten. 

Beispiel Hillary Clinton: Social Media erfährt’s als erste

Hillary Clinton beispielsweise verkündete im April 2015 ihre Kandidatur für die Präsidentschaft in einem zweiminütigen YouTube-Video. In den USA ist es mittlerweile Standard, dass bekannte Politikerinnen und Politiker wichtige Entscheide zuerst via Social Media kommunizieren.

Barack Obama gilt als Vorbild, was den Einsatz von Social Media in politischen Kampagnen angeht. In der Tat: seine Liste mit 13 Millionen Email-Adressen sowie zwei weiteren Millionen freiwilligen Social Media-Helferinnen und Helfern sind unschätzbares politisches Kapital. Es wird aber zu häufig ignoriert, wie unglaublich viel Aufwand nicht nur hinter dem Aufbau einer solchen Liste, sondern vor allem auch hinter der Übertragung der Online-Aktivitäten in konkrete Stimmen am Wahltag steckt.   

Immer noch gilt: It’s the message!

Allem Effort zum Trotz, hätte es auch Barack Obama nicht nur mit Social Media geschafft. “Yes, we can” war die richtige Botschaft und er ein unglaublich charismatischer Botschafter. 

Das Fundament einer guten Kampagne besteht darum weiterhin aus der richtigen Strategie, der passenden Botschaft, vorhandenem Know-how, Ressourcen sowie Disziplin. 


Foto: Flickr