In der Schweiz sind sich Volk und Elite immer häufiger einig

Dank der Volks­ab­stim­mun­gen in der Schweiz kann genau auf­ge­zeigt wer­den, wann und wo die Posi­tio­nen der poli­ti­schen Eli­te und der gesell­schaft­li­chen Basis aus­ein­an­der­ge­hen. Es herrscht dabei viel weni­ger Unei­nig­keit als gemein­hin ange­nom­men. Über die Zeit betrach­tet haben sich Volk und Eli­te sogar angenähert.

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Die direkt­de­mo­kra­ti­sche Mit­be­stim­mung bin­det die schwei­ze­ri­sche Bevöl­ke­rung in die Ver­ant­wor­tung ein. Die Stimm­be­rech­tig­ten kön­nen nicht bloss ihre Reprä­sen­tan­ten und Reprä­sen­tan­tin­nen bestim­men, son­dern haben das Recht, sel­ber Sach­ent­schei­de zu fäl­len. Die poli­tisch akti­ve Bevöl­ke­rung gehört damit gewis­ser­mas­sen zum erwei­ter­ten Kreis der poli­ti­schen Klasse.

Die Mög­lich­keit der direk­ten Mit­wir­kung, ver­wischt die Gren­ze zwi­schen der poli­ti­schen Eli­te und ihrer gesell­schaft­li­chen Basis. Trotz der macht­tei­len­den Wir­kung der Abstim­mungs­de­mo­kra­tie ist das Ver­hält­nis von Eli­te und Basis in der Schweiz nicht span­nungs­frei. Auch dafür sor­gen die Instru­men­te der Direktdemokratie.

Volksabstimmungen machten deutlich, wo sich Elite und Basis nicht einig sind

Volks­ab­stim­mun­gen legen näm­lich in aller Klar­heit offen, wann und wo die Posi­tio­nen der poli­ti­schen Eli­te und der gesell­schaft­li­chen Basis aus­ein­an­der­ge­hen. Damit wird ein Gra­ben sicht- und mess­bar, der in einem rein reprä­sen­ta­ti­ven Sys­tem höchs­tens erahnt wer­den kann. Das glei­che Sys­tem, das die Gren­zen zwi­schen Stimm­be­völ­ke­rung und poli­ti­scher Klas­se ver­wi­schen lässt, schärft die Sen­si­bi­li­tät für die zwi­schen ihnen bestehen­de Gegen­sät­ze. Dabei mag da und dort der Ein­druck ent­ste­hen, dass sich die Poli­tik von der Bevöl­ke­rung entfernt.

Die­se Wahr­neh­mung bleibt nicht ohne Wir­kung. Das Wis­sen um die Sen­si­bi­li­tä­ten und Ein­stel­lun­gen der Stimm­be­völ­ke­rung wirkt auf das Han­deln der Volks­ver­tre­ter und ‑ver­tre­te­rin­nen zurück. Jede Volks­ab­stim­mung gibt neue Ein­bli­cke über das poli­ti­sche Pro­fil der Basis. Die­ses Wis­sen wird von der poli­ti­schen Klas­se bewusst oder unbe­wusst inkor­po­riert. Der «Volks­wil­le» wird zum argu­men­ta­ti­ven Druck­mit­tel in den Debat­ten im Parlament.

Der Graben schliesst sich

Die Wech­sel­wir­kung zwi­schen Stimm­be­völ­ke­rung und Par­la­ment bei Abstim­mungs­vor­la­gen lässt sich mes­sen und dar­stel­len. Grund­la­ge dafür bil­den die Volks­ab­stim­mun­gen und die dazu­ge­hö­ren­den Schluss­ab­stim­mun­gen im Parlament.

Auf Basis der Abstim­mungs­er­geb­nis­se lässt sich für jede Vor­la­ge eine Dif­fe­renz der Zustim­mung zwi­schen Par­la­ment und Stimm­be­völ­ke­rung in Pro­zent­punk­ten berech­nen. Dabei zeigt sich ein kla­rer Trend: In den 1980er-Jah­ren unter­schie­den sich die Abstim­mungs­er­geb­nis­se von Natio­nal­rat und Stimm­be­völ­ke­rung im Durch­schnitt um 18 Pro­zent­punk­te. Seit Beginn der 2010er-Jah­re beträgt die durch­schnitt­li­che Dif­fe­renz noch 12 Pro­zent­punk­te (sie­he Abbil­dung 1).

Offen­sicht­lich ent­fernt sich die Poli­tik nicht von der Stimm­be­völ­ke­rung, son­dern nähert sich viel­mehr an sie an. Ein­drück­lich zeigt sich die Annä­he­rung der bei­den Sphä­ren in der Dar­stel­lung des poli­ti­schen Raums. In Abbil­dung 1 ist die Ent­wick­lung des poli­ti­schen Pro­fils von Natio­nal- und Stän­de­rat im Ver­gleich zur Stimm­be­völ­ke­rung dar­ge­stellt. Noch heu­te wei­chen die bei­den Par­la­ments­kam­mern vor allem auf der Pro­gres­siv-kon­ser­va­tiv-Ach­se von der Stimm­be­völ­ke­rung ab.

Kon­kret heisst dies: Die Eli­te stimmt eher für Reform- und Öff­nungs­vor­la­gen als die Stimm­be­völ­ke­rung. Doch der Gra­ben ist längst nicht mehr so gross wie noch vor zwan­zig oder dreis­sig Jah­ren. Die Annä­he­run­gen der bei­den Par­la­ments­kam­mern an die Basis erfolg­te zeit­ver­zö­gert. Zuerst hat sich das poli­ti­sche Pro­fil des Natio­nal­rats jenem der Stimm­be­völ­ke­rung ange­gli­chen. In den letz­ten Jah­ren zeigt sich eine ähn­li­che Ent­wick­lung beim Stän­de­rat, der nach wie vor ein reform- und öff­nungs­ori­en­tier­te­res Pro­fil als der Natio­nal­rat aufweist.

Abbildung 1: Parlament und Stimmbevölkerung im politischen Raum im Zeitvergleich. Abweichung in Prozentpunkten.

Die Abbil­dung 2 lie­fert einen detail­lier­te­ren Ein­blick in die Unter­schie­de das poli­ti­schen Pro­fils von Natio­nal­rat und Stimm­be­völ­ke­rung im Zeit­ver­gleich. In der Zeit­pe­ri­ode 1995 bis 2005 öff­ne­te sich der gröss­te Gra­ben in der Migra­ti­ons­po­li­tik. Eine restrik­ti­ve migra­ti­ons­po­li­ti­sche Vor­la­ge erhielt im Par­la­ment durch­schnitt­lich 28 Pro­zent­punk­te weni­ger Zustim­mung als in der Stimm­be­völ­ke­rung. Durch­schnitt­lich 22 Pro­zent­punk­te tren­nen Eli­te und Basis bei aus­sen­po­li­ti­schen Vor­la­gen. Der dritt­gröss­te Gegen­satz zeig­te sich mit 20 Pro­zent­punk­ten bei wirt­schafts­li­be­ra­len Reformvorlagen.

Annäherung bei SVP-Themen

Der Ver­gleich mit dem Pro­fil der Jah­re 2006 bis 2016 zeigt, dass ins­be­son­de­re der migra­ti­ons­po­li­ti­sche Gra­ben stark geschrumpft ist, näm­lich von 28 auf 16 Pro­zent­punk­te. Auch die Ein­stel­lungs­un­ter­schie­de in der Aus­sen­po­li­tik sind klei­ner gewor­den. Ein­zig der Gra­ben bei Fra­gen der Wirt­schafts­ord­nung ist weit­ge­hend sta­bil geblie­ben. Mit 19 Pro­zent­punk­ten stellt er heu­te den gröss­ten Gegen­satz dar.

Zwei der drei Kon­flikt­fel­der, die sich durch einen aus­ge­präg­ten Eli­te-Basis-Gegen­satz aus­zeich­nen, sind Kern­the­men der SVP. Es ist kein Zufall, dass genau hier, bei der Migra­ti­ons- und Aus­sen­po­li­tik, der Gegen­satz zwi­schen Natio­nal­rat und Stimm­be­völ­ke­rung klei­ner gewor­den ist.

Mit dem Auf­stieg der SVP ist das natio­nal­kon­ser­va­ti­ve Gedan­ken­gut heu­te im Par­la­ment rein zah­len­mäs­sig stär­ker ver­tre­ten. Unter dem Ein­druck spek­ta­ku­lä­rer Abstim­mungs­ent­schei­de, wie der uner­war­te­ten Zustim­mung der Bevöl­ke­rung zur Mina­rett-Initia­ti­ve und dem anhal­ten­den Auf­stieg der SVP hat sich deren Gedan­ken­gut jedoch ins­ge­samt stär­ker in den Köp­fen der Volks­ver­tre­ter und ‑ver­tre­te­rin­nen fest­ge­setzt. Es ist ein Druck, der sich beim wirt­schafts­po­li­ti­schen Eli­te-Basis-Gegen­satz nicht in glei­chem Mass auf­ge­baut hat.

Abbildung 2: Politisches Profil des Nationalrats im Vergleich zur Stimmbevölkerung im Zeitvergleich. Abweichung in Prozentpunkten.

Tiefenergründung des Volkswillens

Das durch die direk­te Demo­kra­tie geschaf­fe­ne Bewusst­sein für die Gegen­sät­ze zwi­schen poli­ti­scher Klas­se und Stimm­be­völ­ke­rung hat dazu bei­getra­gen, dass die­se Gegen­sät­ze klei­ner gewor­den sind. Beför­dert wur­de die­se Ent­wick­lung durch den Auf­stieg der SVP, die sich seit Beginn der 1990er-Jah­re ganz expli­zit als oppo­si­tio­nel­le Kraft gegen die «Clas­se Poli­tique» positioniert.

Das Zusam­men­flies­sen unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven gehört zu den Stär­ken des poli­ti­schen Sys­tems der Schweiz. Die­se Stär­ke birgt im Fall der Direkt­de­mo­kra­tie jedoch die Gefahr, dass statt des Gestal­tens von Lösun­gen die Tief­e­n­er­grün­dung des Volks­wil­lens zur Dau­er­be­schäf­ti­gung der poli­ti­schen Klas­se wird. Jede see­li­sche Ver­stim­mung in der Gesell­schaft scheint heu­te Anlass für die Lan­cie­rung einer Volks­in­itia­ti­ve zu sein. Vie­le die­ser Initia­ti­ven spre­chen The­men an, die zumin­dest einen Teil der Bevöl­ke­rung tat­säch­lich beschäf­tigt – sei es aus Sor­ge, Bedräng­nis, Miss­gunst oder Angst. Es geht um The­men wie Isla­mi­sie­rung, Bevöl­ke­rungs­wachs­tum, Mana­ger­löh­ne, Schutz von Natur und Hei­mat oder vor Kri­mi­na­li­tät. Ech­te Lösungs­we­ge bie­ten Volks­be­geh­ren selten.

Die Initia­tiv­de­mo­kra­tie hat zur Fol­ge, dass jede Sor­ge der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger jeweils iso­liert sehr ernst genom­men wird. Sie wer­den von allen Sei­ten beleuch­tet und aus­dis­ku­tiert. Die­ser bei­na­he schon psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Demo­kra­tie­an­satz droht jedoch auf Kos­ten der urde­mo­kra­ti­schen Fähig­keit zu gehen, eine Viel­zahl von Anfor­de­run­gen und Bedürf­nis­sen zu prag­ma­ti­schen Kom­pro­mis­sen bün­deln zu können.


Bild: Eige­ne Dar­stel­lung (Salim Brüggemann)

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