Schweizer Parteien: Von kantonalen Vereinen zu professionellen Politakteuren

Die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung in der Schwei­zer Poli­tik macht auch vor Par­tei­en und Frak­tio­nen nicht Halt. Schwei­zer Par­la­men­ta­ri­er ver­hal­ten sich heu­te deut­lich par­tei­treu­er und dis­zi­pli­nier­ter als noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten. Das ist auch die Fol­ge bewuss­ter Ent­schei­de der Frak­ti­ons­füh­run­gen, wie eine Unter­su­chung zeigt.

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Die ver­schie­de­nen Frak­tio­nen des Schwei­zer Par­la­ments sind heu­te pro­fes­sio­na­li­sier­ter als vor einer Genera­ti­on: Sie hal­ten sich stär­ker an Par­tei­pa­ro­len und legen mehr Wert auf ein geein­tes Bild nach Aus­sen. Die Ursa­chen dafür lie­gen nicht nur in der Pola­ri­sie­rung der Schwei­zer Poli­tik oder der zuneh­men­den Ero­die­rung des Miliz­sys­tems. Die Frak­ti­ons­füh­run­gen der Par­tei­en haben auch mit ein­ge­setz­ten Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men dar­auf hingearbeitet.

In allen Frak­tio­nen nahm sowohl die Geschlos­sen­heit über die Zeit zu und auch das Bewusst­sein dafür, dass ein geein­tes Auf­tre­ten nach aus­sen von Vor­teil ist, wie die fol­gen­den Dar­stel­lun­gen zeigen:

  • Abstim­mungs­ver­hal­ten der Fraktionen:

Die gros­sen Frak­tio­nen im Natio­nal­rat stim­men heu­te im Durch­schnitt geein­ter ab als vor zwan­zig Jah­ren. Zuge­nom­men hat die Frak­ti­ons­ge­schlos­sen­heit vor allem in den Rei­hen der FDP, der SP und der SVP. Bei der SVP stieg sie stark an, von 80,5 Pro­zent im Jahr 1995 auf über 89 Pro­zent im Jahr 2015 (sie­he Abbil­dung 1).

Abbildung 1:

Geschlossenheit

  • Loya­li­tät:

Par­la­men­ta­ri­er betrach­ten die Frak­ti­ons­ei­nig­keit heu­te als wich­ti­ger als frü­her. In einer ent­spre­chen­den Unter­su­chung gaben 1975 durch­schnitt­lich nur 58 Pro­zent der Par­la­ments­mit­glie­der an, die Einig­keit der Frak­ti­on sei wich­tig. 2007 waren es 85 Pro­zent. Die Wer­te sind über die Zeit in allen Par­tei­en gestie­gen, aus­ser für die FDP (sie­he Abbil­dung 2).

Abbildung 2:
Einigkeit

Zur Erklä­rung der gestie­ge­nen Einig­keit wur­den vier Fak­to­ren unter­sucht. Neben dem Grad der Pola­ri­sie­rung ent­lang der Links-Rechts-Ach­se betrach­te­ten wir die Anzahl der fest ange­stell­ten Mit­ar­bei­ten­den, die Par­tei­fi­nan­zie­rung sowie die Anwen­dung von Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men sei­tens der Frak­ti­ons­füh­rung gegen­über Parlamentariern.

  • Pro­fes­sio­nel­le Par­tei- und Fraktionsführung:

Erst in den 1950er und 1960er Jah­ren haben Schwei­zer Par­tei­en über­haupt ange­fan­gen, ein eige­nes Par­tei­se­kre­ta­ria­te auf­zu­bau­en. Die Sekre­ta­ria­te sind seit­her in allen Par­tei­en gewach­sen, eben­so ihre Auf­ga­ben und ihr Zustän­dig­keits­be­reich. Mitt­ler­wei­le beschäf­ti­gen die gröss­ten fünf Schwei­zer Par­tei­en sowohl wis­sen­schaft­li­che wie admi­nis­tra­ti­ve Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter im Bereich von zwi­schen 14 und 22 Voll­zeit­stel­len (sie­he Abbil­dung 3).

Abbildung 3:

Vollzeitstellen

  • Par­tei­en­fi­nan­zie­rung:

Da die Finan­zie­rung der Par­tei­en in der Schweiz nicht öffent­lich­keits­pflich­tig ist – was regel­mäs­sig von ver­schie­de­nen Gre­mi­en kri­ti­siert wird, z.B. vom Euro­pa­rat – gibt es nur Schät­zun­gen, was die Bud­gets der Par­tei­en angeht. Zwei der fünf befrag­ten Par­tei­ge­ne­ral­se­kre­tä­ren erklär­ten, dass ihre Par­tei­en in den letz­ten Jah­ren über mehr finan­zi­el­le Res­sour­cen ver­füg­ten als in den Vor­jah­ren. Die ande­ren nah­men kei­ne Stellung.

Offi­zi­ell zugäng­lich sind jedoch Infor­ma­tio­nen über die Ent­schä­di­gun­gen, die die Par­la­ments­frak­tio­nen mitt­ler­wei­le vom Staat erhal­ten: Sie sind bei einer ange­nom­men Frak­ti­ons­grös­se von zwan­zig Per­so­nen von 25‘000 Fran­ken im Jahr 1990 auf 680‘000 Fran­ken im Jahr 2012 gestie­gen (vgl. Art. 12 PRG).

  • Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men:

Den Frak­ti­ons­chefs ste­hen ver­schie­de­ne Mass­nah­men zur Ver­fü­gung, um von der Par­tei­li­nie abwei­chend stim­men­de Par­la­men­ta­ri­er zu bestrafen.

«Ich sage zu den Abweich­lern, dass sie bes­ser aus den Saal gehen sol­len, um Kaf­fee zu trin­ken, wenn sie wirk­lich nicht mit der Frak­ti­ons­mehr­heit abstim­men können.»

Ein inter­view­ter Fraktionschef

Bei­spiels­wei­se kön­nen sie Par­la­men­ta­ri­er nicht in der gewünsch­ten Kom­mis­si­on Ein­sitz neh­men las­sen oder sie in unge­lieb­te Kom­mis­sio­nen abdelegieren.

«Ja, das spielt eine Rol­le. Wenn jemand stän­dig abweicht, wenn jemand immer zu einer klei­nen Min­der­heit gehört, dann müs­sen wir sagen, dass dies nicht die rich­ti­ge Per­son ist.»

Ein ande­rer Frak­ti­ons­chef auf die Fra­ge, ob Kom­mis­si­ons­sit­ze in Abhän­gig­keit vom frak­ti­ons­kon­for­men Abstim­mungs­ver­hal­ten ver­ge­ben werden.

Mit Aus­nah­me der Frak­ti­ons­füh­rung der SVP und einem von drei CVP-Ver­tre­tern gaben denn auch sämt­li­che befrag­te Frak­ti­ons­chefs an, die Anwen­dung von Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men habe in den letz­ten zehn Jah­ren zuge­nom­men. Jour­na­lis­ten, die eben­falls befragt wur­den, sind der Ansicht, dass die SVP die­je­ni­ge Par­tei ist, in der am meis­ten Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men zur Anwen­dung kom­men, gefolgt von der SP. Am wenigs­ten Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men spre­chen sie der FDP zu.

Ein auf Basis der durch­ge­führ­ten Inter­views mit den Frak­ti­ons­chefs gebil­de­ter Dis­zi­pli­nie­rungs­in­dex (Bai­ler 2015) ergab hin­ge­gen ein ande­res Bild. Die am stärks­ten dis­zi­pli­nier­te Frak­ti­on ist die der CVP (8.3 auf einer Ska­la von 0 bis 10), gefolgt von der SP mit einem Wert von 6. Die SVP und die FDP bil­den das Mit­tel­feld (4.6 resp. 4.5), wäh­rend in der Frak­ti­on der Grü­nen am wenigs­ten dis­zi­pli­niert wird (Wert 2).

Fazit: Ein “europäisiertes” Parlament

Mit der zuneh­men­den Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Mit­glie­der und der straf­fe­ren Füh­rung durch die Frak­ti­ons­füh­run­gen ist das Schwei­zer Par­la­ment über die Zeit den ande­ren euro­päi­schen Par­la­men­ten immer ähn­li­cher gewor­den. In einer breit ange­leg­ten Ver­gleichs­stu­die in ver­schie­de­nen euro­päi­schen Staa­ten, zu der auch Daten aus die­ser Ana­ly­se bei­gesteu­ert wur­den, zeig­ten sich etwa in Deutsch­land oder der Nie­der­lan­de ähn­li­che Wer­te wie in der Schweiz (Bai­ler 2015). Noch wei­chen Schwei­zer Par­la­men­ta­ri­er stär­ker von ihren Frak­ti­ons­po­si­tio­nen ab als etwa Abge­ord­ne­te des Deut­schen Bun­des­ta­ges. Doch der Abstand ist geschrumpft und bezüg­lich Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men durch die Frak­ti­ons­füh­rung lie­gen die Frak­tio­nen in der Schweiz und Deutsch­land gleichauf.

Info­box: Daten und Analyse
Als Grad­mes­ser für die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung Frak­tio­nen der Bun­des­ver­samm­lung haben wir zunächst das Stimm­ver­hal­ten der Frak­ti­ons­mit­glie­der im Natio­nal­rat sowie ihre Hal­tung gegen­über einem ein­heit­li­chen Auf­tre­ten gegen aus­sen unter­sucht und mit ent­spre­chen­den Daten aus frü­he­ren Unter­su­chun­gen ver­gli­chen. Die Unter­su­chung basiert auf stan­dar­di­sier­ten Par­la­men­ta­rier­be­fra­gun­gen (Kerr 1981, Hug et al. 2008).

Als mög­li­che Erklä­rungs­fak­to­ren haben wir den Grad der Pola­ri­sie­rung ent­lang der Links-Rechts-Ach­se ana­ly­siert, die Anzahl der fest ange­stell­ten Mit­ar­bei­ten­den, die Par­tei­fi­nan­zie­rung sowie die Anwen­dung von Dis­zi­pli­nie­rungs­mass­nah­men der Frak­ti­ons­füh­rung gegen­über Par­la­men­ta­ri­ern. Die­se Ana­ly­sen basie­ren einer­seits auf pro­zess­ge­ne­rier­ten Daten (Abstim­mungs­ver­hal­ten des Natio­nal­rats) und zum ande­ren auf Exper­ten­in­ter­views mit den Frak­ti­ons­chefs sowie Gene­ral­se­kre­tä­ren der gros­sen Par­tei­en (Büti­ko­fer und Bai­ler 2014, Bai­ler 2015).

Die­ser Bei­trag ist eine Kurz­fas­sung von: Bai­ler, Ste­fa­nie und Sarah Büti­ko­fer (2015). From Loo­se Alli­an­ces to Pro­fes­sio­nal Poli­ti­cal Play­ers: How Swiss Par­ty Groups Chan­ged. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 21(4).


Refe­ren­zen: 

  • Bai­ler, Ste­fa­nie (2015). “To get whip­ped or not”: whe­ther and when par­ty group lea­ders use disci­pli­na­ry mea­su­res to achie­ve voting unity. (manu­script, under review)
  • Büti­ko­fer, Sarah und Ste­fa­nie Bai­ler (2014). Exper­ten­in­ter­views mit Gene­ral­se­kre­tä­ren und Frak­ti­ons­chefs der Schwei­zer Par­tei­en. Datensatz/Transkription.
  • Hug, Simon, Ste­fa­nie Bai­ler, Sarah Büti­ko­fer und Tobi­as Schulz (2008). Haupt­er­geb­nis­se Par­la­men­ta­rier­be­fra­gung. Uni­ver­si­tät Zürich. Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft. (Daten­satz)
  • Kerr, Hen­ry (1981). Par­le­ment et socié­té en Suis­se. Saint Sapho­rin: Edi­ti­ons Georgi.
  • Lad­ner, Andre­as und Micha­el Bränd­le (2001). Die Schwei­zer Par­tei­en im Wan­del. Von Mit­glie­der­par­tei­en zu pro­fes­sio­na­li­sier­ten Wäh­ler­or­ga­ni­sa­tio­ne? Zürich: Seismo.
  • Smart­mo­ni­tor (2015). Par­lia­men­ta­ry obser­va­ti­on tool by poli­tools. www.smartvote.ch

Bild: DeFacto

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