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Schweizer Parteien: Von kantonalen Vereinen zu professionellen Politakteuren

Stefanie Bailer, Sarah Bütikofer
22nd Dezember 2015

Die Professionalisierung in der Schweizer Politik macht auch vor Parteien und Fraktionen nicht Halt. Schweizer Parlamentarier verhalten sich heute deutlich parteitreuer und disziplinierter als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das ist auch die Folge bewusster Entscheide der Fraktionsführungen, wie eine Untersuchung zeigt.

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Die verschiedenen Fraktionen des Schweizer Parlaments sind heute professionalisierter als vor einer Generation: Sie halten sich stärker an Parteiparolen und legen mehr Wert auf ein geeintes Bild nach Aussen. Die Ursachen dafür liegen nicht nur in der Polarisierung der Schweizer Politik oder der zunehmenden Erodierung des Milizsystems. Die Fraktionsführungen der Parteien haben auch mit eingesetzten Disziplinierungsmassnahmen darauf hingearbeitet.

In allen Fraktionen nahm sowohl die Geschlossenheit über die Zeit zu und auch das Bewusstsein dafür, dass ein geeintes Auftreten nach aussen von Vorteil ist, wie die folgenden Darstellungen zeigen:

  • Abstimmungsverhalten der Fraktionen:

Die grossen Fraktionen im Nationalrat stimmen heute im Durchschnitt geeinter ab als vor zwanzig Jahren. Zugenommen hat die Fraktionsgeschlossenheit vor allem in den Reihen der FDP, der SP und der SVP. Bei der SVP stieg sie stark an, von 80,5 Prozent im Jahr 1995 auf über 89 Prozent im Jahr 2015 (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1:

Geschlossenheit

  • Loyalität:

Parlamentarier betrachten die Fraktionseinigkeit heute als wichtiger als früher. In einer entsprechenden Untersuchung gaben 1975 durchschnittlich nur 58 Prozent der Parlamentsmitglieder an, die Einigkeit der Fraktion sei wichtig. 2007 waren es 85 Prozent. Die Werte sind über die Zeit in allen Parteien gestiegen, ausser für die FDP (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2:
Einigkeit

Zur Erklärung der gestiegenen Einigkeit wurden vier Faktoren untersucht. Neben dem Grad der Polarisierung entlang der Links-Rechts-Achse betrachteten wir die Anzahl der fest angestellten Mitarbeitenden, die Parteifinanzierung sowie die Anwendung von Disziplinierungsmassnahmen seitens der Fraktionsführung gegenüber Parlamentariern.

  • Professionelle Partei- und Fraktionsführung:

Erst in den 1950er und 1960er Jahren haben Schweizer Parteien überhaupt angefangen, ein eigenes Parteisekretariate aufzubauen. Die Sekretariate sind seither in allen Parteien gewachsen, ebenso ihre Aufgaben und ihr Zuständigkeitsbereich. Mittlerweile beschäftigen die grössten fünf Schweizer Parteien sowohl wissenschaftliche wie administrative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich von zwischen 14 und 22 Vollzeitstellen (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3:

Vollzeitstellen

  • Parteienfinanzierung:

Da die Finanzierung der Parteien in der Schweiz nicht öffentlichkeitspflichtig ist – was regelmässig von verschiedenen Gremien kritisiert wird, z.B. vom Europarat – gibt es nur Schätzungen, was die Budgets der Parteien angeht. Zwei der fünf befragten Parteigeneralsekretären erklärten, dass ihre Parteien in den letzten Jahren über mehr finanzielle Ressourcen verfügten als in den Vorjahren. Die anderen nahmen keine Stellung.

Offiziell zugänglich sind jedoch Informationen über die Entschädigungen, die die Parlamentsfraktionen mittlerweile vom Staat erhalten: Sie sind bei einer angenommen Fraktionsgrösse von zwanzig Personen von 25‘000 Franken im Jahr 1990 auf 680‘000 Franken im Jahr 2012 gestiegen (vgl. Art. 12 PRG).

  • Disziplinierungsmassnahmen:

Den Fraktionschefs stehen verschiedene Massnahmen zur Verfügung, um von der Parteilinie abweichend stimmende Parlamentarier zu bestrafen.

«Ich sage zu den Abweichlern, dass sie besser aus den Saal gehen sollen, um Kaffee zu trinken, wenn sie wirklich nicht mit der Fraktionsmehrheit abstimmen können.»

Ein interviewter Fraktionschef

Beispielsweise können sie Parlamentarier nicht in der gewünschten Kommission Einsitz nehmen lassen oder sie in ungeliebte Kommissionen abdelegieren.

«Ja, das spielt eine Rolle. Wenn jemand ständig abweicht, wenn jemand immer zu einer kleinen Minderheit gehört, dann müssen wir sagen, dass dies nicht die richtige Person ist.»

Ein anderer Fraktionschef auf die Frage, ob Kommissionssitze in Abhängigkeit vom fraktionskonformen Abstimmungsverhalten vergeben werden.

Mit Ausnahme der Fraktionsführung der SVP und einem von drei CVP-Vertretern gaben denn auch sämtliche befragte Fraktionschefs an, die Anwendung von Disziplinierungsmassnahmen habe in den letzten zehn Jahren zugenommen. Journalisten, die ebenfalls befragt wurden, sind der Ansicht, dass die SVP diejenige Partei ist, in der am meisten Disziplinierungsmassnahmen zur Anwendung kommen, gefolgt von der SP. Am wenigsten Disziplinierungsmassnahmen sprechen sie der FDP zu.

Ein auf Basis der durchgeführten Interviews mit den Fraktionschefs gebildeter Disziplinierungsindex (Bailer 2015) ergab hingegen ein anderes Bild. Die am stärksten disziplinierte Fraktion ist die der CVP (8.3 auf einer Skala von 0 bis 10), gefolgt von der SP mit einem Wert von 6. Die SVP und die FDP bilden das Mittelfeld (4.6 resp. 4.5), während in der Fraktion der Grünen am wenigsten diszipliniert wird (Wert 2).

Fazit: Ein "europäisiertes" Parlament

Mit der zunehmenden Professionalisierung der Mitglieder und der strafferen Führung durch die Fraktionsführungen ist das Schweizer Parlament über die Zeit den anderen europäischen Parlamenten immer ähnlicher geworden. In einer breit angelegten Vergleichsstudie in verschiedenen europäischen Staaten, zu der auch Daten aus dieser Analyse beigesteuert wurden, zeigten sich etwa in Deutschland oder der Niederlande ähnliche Werte wie in der Schweiz (Bailer 2015). Noch weichen Schweizer Parlamentarier stärker von ihren Fraktionspositionen ab als etwa Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Doch der Abstand ist geschrumpft und bezüglich Disziplinierungsmassnahmen durch die Fraktionsführung liegen die Fraktionen in der Schweiz und Deutschland gleichauf.

Infobox: Daten und Analyse
Als Gradmesser für die Professionalisierung Fraktionen der Bundesversammlung haben wir zunächst das Stimmverhalten der Fraktionsmitglieder im Nationalrat sowie ihre Haltung gegenüber einem einheitlichen Auftreten gegen aussen untersucht und mit entsprechenden Daten aus früheren Untersuchungen verglichen. Die Untersuchung basiert auf standardisierten Parlamentarierbefragungen (Kerr 1981, Hug et al. 2008).

Als mögliche Erklärungsfaktoren haben wir den Grad der Polarisierung entlang der Links-Rechts-Achse analysiert, die Anzahl der fest angestellten Mitarbeitenden, die Parteifinanzierung sowie die Anwendung von Disziplinierungsmassnahmen der Fraktionsführung gegenüber Parlamentariern. Diese Analysen basieren einerseits auf prozessgenerierten Daten (Abstimmungsverhalten des Nationalrats) und zum anderen auf Experteninterviews mit den Fraktionschefs sowie Generalsekretären der grossen Parteien (Bütikofer und Bailer 2014, Bailer 2015).

Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von: Bailer, Stefanie und Sarah Bütikofer (2015). From Loose Alliances to Professional Political Players: How Swiss Party Groups Changed. Swiss Political Science Review 21(4).


Referenzen: 

  • Bailer, Stefanie (2015). “To get whipped or not”: whether and when party group leaders use disciplinary measures to achieve voting unity. (manuscript, under review)
  • Bütikofer, Sarah und Stefanie Bailer (2014). Experteninterviews mit Generalsekretären und Fraktionschefs der Schweizer Parteien. Datensatz/Transkription.
  • Hug, Simon, Stefanie Bailer, Sarah Bütikofer und Tobias Schulz (2008). Hauptergebnisse Parlamentarierbefragung. Universität Zürich. Institut für Politikwissenschaft. (Datensatz)
  • Kerr, Henry (1981). Parlement et société en Suisse. Saint Saphorin: Editions Georgi.
  • Ladner, Andreas und Michael Brändle (2001). Die Schweizer Parteien im Wandel. Von Mitgliederparteien zu professionalisierten Wählerorganisatione? Zürich: Seismo.
  • Smartmonitor (2015). Parliamentary observation tool by politools. www.smartvote.ch

Bild: DeFacto