Eine Demokratie auf Abruf – Tunesiens Warten auf Reformen

Tune­si­en ist am Schei­de­weg, wie­der­mal. Anfang 2022 gibt es kein Par­la­ment, aber eine neue Regie­rung. Wie es dazu kam und wie Tune­si­ens Zukunft aus­se­hen wird. 

Tune­si­en ist am Schei­de­weg, wie­der­mal. Nach der erfolg­rei­chen Revo­lu­ti­on von 2011, in der der lang­jäh­ri­ge Dik­ta­tur Ben Ali schließ­lich gehen muss­te und der dar­auf­fol­gen­den neu­en Ver­fas­sung von 2014 schien sich Tune­si­en zunächst erfolg­reich zu einem demo­kra­ti­schen poli­ti­schen Sys­tem ent­wi­ckelt zu haben, jeden­falls bis 2021. Am 25.Juli 2021 hat der demo­kra­tisch gewähl­te Prä­si­dent Kais Sai­ed, sei­nes Zei­chens lang­jäh­ri­ger Exper­te für Ver­fas­sungs­recht, sowohl den Pre­mier­mi­nis­ter (was im ver­fas­sungs­recht­lich zusteht) also auch das Par­la­ment (was im ver­fas­sungs­recht­lich nicht zustand) sus­pen­diert. Anfang 2022 gibt es wei­ter­hin kein Par­la­ment, aber eine neue Regie­rung, die Judi­ka­ti­ve wur­de teil­wei­se aus­ge­tauscht und zudem hat sich der Prä­si­dent Kom­pe­ten­zen per Dekret ver­ord­net, die ihm laut Ver­fas­sung nicht zuste­hen. Der Auf­stand der Bevöl­ke­rung und der Zivil­ge­sell­schaft blieb dabei begrenzt und größ­ten­teils auf Anhän­ger des größ­ten isla­mi­schen Akteurs, Ennahdha, beschränkt.  Aller­dings nah­men zwi­schen Ende 20221 und Beginn 2022 die Span­nun­gen zwi­schen dem Prä­si­den­ten und dem größ­ten zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteur Tune­si­ens, der Gewerk­schaft UGTT, zum einen auch auf Grund ange­kün­dig­ter Spar­maß­nah­men im öffent­li­chen Sek­tor, zum ande­ren durch den fak­ti­schen Aus­schluss der UGTT von inof­fi­zi­el­len Aus­tau­schen mit Minis­te­ri­en („cir­cu­lai­re no. 20“) stark zu. Nach­dem der Prä­si­dent bereits nahe­zu alle offi­zi­el­len Kon­troll­in­stan­zen redu­ziert hat, wer­den jetzt auch inof­fi­zi­el­le Ein­fluss­nah­men redu­ziert, die vor allem die zivil­ge­sell­schaft­li­che Teil­ha­be tref­fen dürften.

Wie konn­te aber der demo­kra­tisch gewähl­te Prä­si­dent so weit gehen? Zunächst ein­mal lohnt eine Betrach­tung sei­nes Dis­kur­ses der ein inef­fi­zi­en­tes und kor­rup­tes Par­la­ment mit­samt den Par­tei­en denun­ziert. Wäh­rend dies sicher­lich nicht voll­stän­dig von der Hand zu wei­sen ist, trifft dies nicht auf alle Par­la­men­ta­ri­er zu und zudem man­gel­te es dem Par­la­ment durch­ge­hend an Res­sour­cen um effek­ti­ver in der par­la­men­ta­ri­schen Arbeit zu wer­den. Ein wirk­li­ches par­la­men­ta­ri­sches Sys­tem konn­te sich damit nie rich­tig ent­fal­ten, was allein dadurch aus­ge­drückt wur­de, dass seit 2014 bis auf Ennahdha zahl­rei­che Par­tei­en in neu­en Blö­cken zusam­men­ge­fasst und abge­spal­ten wur­den. Zudem wech­seln Par­la­men­ta­ri­er auch auf Grund der Hoff­nung auf Wie­der­wahl und der stark schwan­ken­den Zustim­mungs­wer­te die Par­tei­en. All dies sind aber Ent­wick­lun­gen, die sich bereits 2018 gezeigt haben und vor dem Ana­lys­ten wie die Inter­na­tio­nal Cri­sis Group ein­drück­lich warnten.

Hin­zu kommt ein absicht­li­ches Para­dox der Ver­fas­sung, die dar­auf aus­ge­legt war eine Brü­cke zwi­schen star­kem Prä­si­di­al­sys­tem mit par­la­men­ta­ri­scher Kon­trol­le nach fran­zö­si­schem Vor­bild und stär­ker reprä­sen­ta­ti­ven Model­len her­zu­stel­len. Dazu ist auch fest­zu­hal­ten, dass der aktu­el­le Prä­si­dent Sai­ed kei­ner im Par­la­ment ver­tre­te­nen Par­tei ange­hört. Dies erklärt auch die Miss­ach­tung des Prä­si­den­ten für das Par­la­ment und das Par­tei­en­sys­tem. Wäh­rend der Prä­si­dent der Auf­fas­sung ist, er wür­de die Regie­rung kon­trol­lie­ren und die Regie­rung Geset­ze vor­be­rei­ten, die dann nur vom Par­la­ment zu bestä­ti­gen sind, bestand bei Par­tei­en das Inter­es­se auch eige­ne Wäh­ler­in­ter­es­sen stär­ker mit ein­zu­brin­gen und Kom­pro­mis­se im Par­la­ment zu suchen. 2021 waren dann die Dif­fe­ren­zen zwi­schen Prä­si­den­ten und Par­la­ment zu groß, als dass Ers­te­rer noch eine Chan­ce sah sinn­voll mit Letz­te­ren zusam­men­zu­ar­bei­ten. Das dies dann gleich mit der zunächst Sus­pen­die­rung, dann Auf­lö­sung des Par­la­ments geschieht, ist ver­fas­sungs­recht­lich bedenk­lich, zumal gesetz­lich vor­ge­se­he­ne Infor­ma­ti­ons- und Kon­sul­ta­ti­ons­pflich­ten nicht beach­tet wurden.

In der Theo­rie soll­te zudem ein unab­hän­gi­ges Ver­fas­sungs­ge­richt die Kon­trol­le staat­li­cher Stel­len sicher­stel­len. Die­ses wur­de jedoch man­gels poli­ti­schen Wil­lens nie rea­li­siert. Folg­lich gab es im Juli 2021 auch nie­man­den, der die Schrit­te des Prä­si­den­ten unab­hän­gig als ver­fas­sungs­feind­lich ein­ord­nen konn­te. Inzwi­schen ist der Prä­si­dent weder vom Par­la­ment (da auf­ge­löst), noch von der Judi­ka­ti­ve (da unter prä­si­den­ti­el­le Kon­trol­le gestellt) kon­trol­liert und die klas­si­sche Gewal­ten­tei­lung wie in einer Demo­kra­tie vor­ge­se­hen exis­tiert aktu­ell nicht mehr in Tune­si­en. Und dies alles – und dies ist das Para­do­xe der tune­si­schen Demo­kra­tie – mit weit­rei­chen­der Unter­stüt­zung sei­tens der Bevöl­ke­rung. So inter­pre­tiert der Prä­si­dent sei­ne wei­ter­hin hohe Popu­la­ri­tät als Legi­ti­ma­ti­on für einen wei­te­ren Umbau des Staa­tes. Demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Bewer­tun­gen hält dies aller­dings nicht stand, da der gene­rel­le Sup­port nicht auto­ma­tisch in eine Unter­stüt­zung für das poli­ti­sche Sys­tem Saied’s gese­hen wer­den kann.

Ein wei­te­rer begüns­ti­gen­der Fak­tor dürf­te der man­geln­de wirt­schaft­li­che Out­put der tune­si­schen Demo­kra­tie sein. Dies knüpft an ein altes Phä­no­men an, das unter Demo­kra­tie­for­schern seit jeher dis­ku­tiert ist: Die Ver­bin­dung zwi­schen Demo­kra­tie und wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lung. Wäh­rend eini­ge For­scher wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung als wich­tig für die Demo­kra­tie erach­ten, sehen ande­re die­se als abge­trennt von der poli­ti­schen Situa­ti­on. Im Fal­le Tune­si­ens lässt sich sicher­lich fest­stel­len, dass die Out­put Dimen­si­on in Form von wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lung wich­tig ist. Sicher­lich haben gera­de die Coro­na­jah­re ihr übri­ges gege­ben, aber die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung in Tune­si­en hat mit BIP-Wachs­tums­ra­ten von um die 2% bzw. zeit­wei­se auch einem Rück­gang über die letz­ten Jah­re eher sta­gniert[1]. Natür­lich müs­sen auch Sta­tis­ti­ken aus der Zeit Ben Ali’s immer geson­dert betrach­tet wer­den, aber es scheint, dass die Demo­kra­tie zumin­dest auf wirt­schaft­li­cher Ebe­ne kaum Erfol­ge erzie­len konn­te. In die­sem Sin­ne über­rascht es nicht, dass ein prä­si­den­ti­el­ler Dis­kurs, der Kor­rup­ti­on und Miss­wirt­schaft anpran­gert, durch­aus auf Zustim­mung stößt. So haben um die 70% der Tune­si­er nach reprä­sen­ta­ti­ven Umfra­gen sowohl von Sig­ma Con­seil als auch Emrhod Con­sul­ting auch im Früh­jahr 2022 noch Ver­trau­en zu ihrem Prä­si­den­ten[2], auch wenn sich dar­aus sicher­lich kei­ne kom­plet­te Unter­stüt­zung für sein uni­la­te­ra­ler Umbau des poli­ti­schen Sys­tems her­ge­lei­tet wer­den kann.

Nun ist Sai­ed auch kein 2. Ben Ali und zumin­dest ange­kün­digt wur­den eine gro­ße Ver­fas­sungs­re­form und Neu­wah­len für Ende 2022. Zudem wur­de eine Online-Kon­sul­ta­ti­on ins Leben geru­fen. Aller­dings dürf­te sel­bi­ge kei­nen Anspruch auf Reprä­sen­ta­ti­vi­tät erhe­ben und von Vor­schlä­gen von Anhän­gern des Prä­si­den­ten geprägt sein. Die Zivil­ge­sell­schaft in Form der UGTT ihrer­seits hat eige­ne Vor­schlä­ge ange­kün­digt und die­se dürf­ten in enger Kon­sul­ta­ti­on mit der Zivil­ge­sell­schaft wie auch beim Natio­na­len Dia­log gesche­hen. Am Ende dürf­ten zwei ver­schie­de­ne Vor­schlä­ge auf dem Tisch lie­gen, einer des Prä­si­den­ten, der ein star­kes Prä­si­di­al­sys­tem vor­schla­gen wird, mit weit­rei­chen­den Kom­pe­ten­zen für den Prä­si­den­ten, sowie ein Alter­na­tiv­vor­schlag der Zivil­ge­sell­schaft, der eine wei­ter­ge­hen­de Kon­trol­le der Regie­rung erlau­ben dürf­te. Wäh­rend man aner­ken­nen muss, dass Tune­si­en aktu­ell kei­ne eta­blier­te Demo­kra­tie mehr ist — dafür sind die Kon­troll- und Par­ti­zi­pa­ti­ons­me­cha­nis­men zu gering- besteht den­noch Hoff­nung, dass Tune­si­en wie­der demo­kra­ti­scher wird, aller­dings spielt die Zeit dage­gen. Das wahr­schein­lichs­te Sze­na­rio dürf­te eine Ver­län­ge­rung der aktu­el­len Situa­ti­on bis weit in 2023 hin­ein sein. Was bis dahin noch von der tune­si­schen Demo­kra­tie übrig­bleibt, hängt zum einen am Prä­si­den­ten selbst und zum ande­ren an der tune­si­schen Zivilgesellschaft.


[1] https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG?locations=TN

[2] https://lapresse.tn/122159/sondage-emrhod-consulting-saied-et-moussi-toujours-aux-premieres-loges/ , https://www.leconomistemaghrebin.com/2022/02/18/sigma-conseil-tunisiens-confiance-kais-saied-najla-bouden/

Wei­ter­ge­hen­de Literatur:

  • Böcken­för­de, M. (2015). The dyna­mics of com­pre­hen­si­ve con­sti­tu­ti­on-buil­ding: reli­gi­on and the con­cept of twin tole­ra­ti­ons in Tuni­sia, in: Rous­se­lin, Mathieu and Smith, Chris­to­pher (Eds.). The Tuni­sian con­sti­tu­tio­nal pro­cess: main actors and key issu­es, Glo­bal Dia­lo­gues 7, Käte Ham­bur­ger Kolleg/ Cent­re for Glo­bal Coope­ra­ti­on Rese­arch, Duis­burg, pp. 24–35.
  • Hmed, C. (2016). Au-delà de l’exception tuni­si­en­ne: Les fail­les et les ris­ques du pro­ces­sus révo­lu­ti­onn­aire, in:  Pou­voirs, 156, pp. 137–147.
  • Inter­na­tio­nal Cri­sis Group (2018). Stem­ming Tunisia’s aut­ho­ri­ta­ri­an drift. Midd­le East and North Afri­ca Report Nr.180. https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/north-africa/tunisia/180-endiguer-la-derive-autoritaire-en-tunisie [22.03.2022].
  • Wei­landt, R. (2019). Divi­si­ons wit­hin post-2011 Tunisia’s secu­lar civil socie­ty. Demo­cra­tiz­a­ti­on 26(6), pp. 959–974.
  • Yar­di­mici-Geyik­ci, S. and Tür, Ö. (2018). Rethin­king the Tuni­sian mira­cle: a par­ty poli­tics view, in: Demo­cra­tiz­a­ti­on, 25 (5), pp. 787–803

 

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