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Eine Demokratie auf Abruf – Tunesiens Warten auf Reformen

Jan-Erik Refle
27th April 2022

Tunesien ist am Scheideweg, wiedermal. Anfang 2022 gibt es kein Parlament, aber eine neue Regierung. Wie es dazu kam und wie Tunesiens Zukunft aussehen wird. 

Tunesien ist am Scheideweg, wiedermal. Nach der erfolgreichen Revolution von 2011, in der der langjährige Diktatur Ben Ali schließlich gehen musste und der darauffolgenden neuen Verfassung von 2014 schien sich Tunesien zunächst erfolgreich zu einem demokratischen politischen System entwickelt zu haben, jedenfalls bis 2021. Am 25.Juli 2021 hat der demokratisch gewählte Präsident Kais Saied, seines Zeichens langjähriger Experte für Verfassungsrecht, sowohl den Premierminister (was im verfassungsrechtlich zusteht) also auch das Parlament (was im verfassungsrechtlich nicht zustand) suspendiert. Anfang 2022 gibt es weiterhin kein Parlament, aber eine neue Regierung, die Judikative wurde teilweise ausgetauscht und zudem hat sich der Präsident Kompetenzen per Dekret verordnet, die ihm laut Verfassung nicht zustehen. Der Aufstand der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft blieb dabei begrenzt und größtenteils auf Anhänger des größten islamischen Akteurs, Ennahdha, beschränkt.  Allerdings nahmen zwischen Ende 20221 und Beginn 2022 die Spannungen zwischen dem Präsidenten und dem größten zivilgesellschaftliche Akteur Tunesiens, der Gewerkschaft UGTT, zum einen auch auf Grund angekündigter Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor, zum anderen durch den faktischen Ausschluss der UGTT von inoffiziellen Austauschen mit Ministerien („circulaire no. 20“) stark zu. Nachdem der Präsident bereits nahezu alle offiziellen Kontrollinstanzen reduziert hat, werden jetzt auch inoffizielle Einflussnahmen reduziert, die vor allem die zivilgesellschaftliche Teilhabe treffen dürften.

Wie konnte aber der demokratisch gewählte Präsident so weit gehen? Zunächst einmal lohnt eine Betrachtung seines Diskurses der ein ineffizientes und korruptes Parlament mitsamt den Parteien denunziert. Während dies sicherlich nicht vollständig von der Hand zu weisen ist, trifft dies nicht auf alle Parlamentarier zu und zudem mangelte es dem Parlament durchgehend an Ressourcen um effektiver in der parlamentarischen Arbeit zu werden. Ein wirkliches parlamentarisches System konnte sich damit nie richtig entfalten, was allein dadurch ausgedrückt wurde, dass seit 2014 bis auf Ennahdha zahlreiche Parteien in neuen Blöcken zusammengefasst und abgespalten wurden. Zudem wechseln Parlamentarier auch auf Grund der Hoffnung auf Wiederwahl und der stark schwankenden Zustimmungswerte die Parteien. All dies sind aber Entwicklungen, die sich bereits 2018 gezeigt haben und vor dem Analysten wie die International Crisis Group eindrücklich warnten.

Hinzu kommt ein absichtliches Paradox der Verfassung, die darauf ausgelegt war eine Brücke zwischen starkem Präsidialsystem mit parlamentarischer Kontrolle nach französischem Vorbild und stärker repräsentativen Modellen herzustellen. Dazu ist auch festzuhalten, dass der aktuelle Präsident Saied keiner im Parlament vertretenen Partei angehört. Dies erklärt auch die Missachtung des Präsidenten für das Parlament und das Parteiensystem. Während der Präsident der Auffassung ist, er würde die Regierung kontrollieren und die Regierung Gesetze vorbereiten, die dann nur vom Parlament zu bestätigen sind, bestand bei Parteien das Interesse auch eigene Wählerinteressen stärker mit einzubringen und Kompromisse im Parlament zu suchen. 2021 waren dann die Differenzen zwischen Präsidenten und Parlament zu groß, als dass Ersterer noch eine Chance sah sinnvoll mit Letzteren zusammenzuarbeiten. Das dies dann gleich mit der zunächst Suspendierung, dann Auflösung des Parlaments geschieht, ist verfassungsrechtlich bedenklich, zumal gesetzlich vorgesehene Informations- und Konsultationspflichten nicht beachtet wurden.

In der Theorie sollte zudem ein unabhängiges Verfassungsgericht die Kontrolle staatlicher Stellen sicherstellen. Dieses wurde jedoch mangels politischen Willens nie realisiert. Folglich gab es im Juli 2021 auch niemanden, der die Schritte des Präsidenten unabhängig als verfassungsfeindlich einordnen konnte. Inzwischen ist der Präsident weder vom Parlament (da aufgelöst), noch von der Judikative (da unter präsidentielle Kontrolle gestellt) kontrolliert und die klassische Gewaltenteilung wie in einer Demokratie vorgesehen existiert aktuell nicht mehr in Tunesien. Und dies alles – und dies ist das Paradoxe der tunesischen Demokratie – mit weitreichender Unterstützung seitens der Bevölkerung. So interpretiert der Präsident seine weiterhin hohe Popularität als Legitimation für einen weiteren Umbau des Staates. Demokratietheoretischer Bewertungen hält dies allerdings nicht stand, da der generelle Support nicht automatisch in eine Unterstützung für das politische System Saied’s gesehen werden kann.

Ein weiterer begünstigender Faktor dürfte der mangelnde wirtschaftliche Output der tunesischen Demokratie sein. Dies knüpft an ein altes Phänomen an, das unter Demokratieforschern seit jeher diskutiert ist: Die Verbindung zwischen Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung. Während einige Forscher wirtschaftliche Entwicklung als wichtig für die Demokratie erachten, sehen andere diese als abgetrennt von der politischen Situation. Im Falle Tunesiens lässt sich sicherlich feststellen, dass die Output Dimension in Form von wirtschaftlicher Entwicklung wichtig ist. Sicherlich haben gerade die Coronajahre ihr übriges gegeben, aber die wirtschaftliche Entwicklung in Tunesien hat mit BIP-Wachstumsraten von um die 2% bzw. zeitweise auch einem Rückgang über die letzten Jahre eher stagniert[1]. Natürlich müssen auch Statistiken aus der Zeit Ben Ali’s immer gesondert betrachtet werden, aber es scheint, dass die Demokratie zumindest auf wirtschaftlicher Ebene kaum Erfolge erzielen konnte. In diesem Sinne überrascht es nicht, dass ein präsidentieller Diskurs, der Korruption und Misswirtschaft anprangert, durchaus auf Zustimmung stößt. So haben um die 70% der Tunesier nach repräsentativen Umfragen sowohl von Sigma Conseil als auch Emrhod Consulting auch im Frühjahr 2022 noch Vertrauen zu ihrem Präsidenten[2], auch wenn sich daraus sicherlich keine komplette Unterstützung für sein unilateraler Umbau des politischen Systems hergeleitet werden kann.

Nun ist Saied auch kein 2. Ben Ali und zumindest angekündigt wurden eine große Verfassungsreform und Neuwahlen für Ende 2022. Zudem wurde eine Online-Konsultation ins Leben gerufen. Allerdings dürfte selbige keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben und von Vorschlägen von Anhängern des Präsidenten geprägt sein. Die Zivilgesellschaft in Form der UGTT ihrerseits hat eigene Vorschläge angekündigt und diese dürften in enger Konsultation mit der Zivilgesellschaft wie auch beim Nationalen Dialog geschehen. Am Ende dürften zwei verschiedene Vorschläge auf dem Tisch liegen, einer des Präsidenten, der ein starkes Präsidialsystem vorschlagen wird, mit weitreichenden Kompetenzen für den Präsidenten, sowie ein Alternativvorschlag der Zivilgesellschaft, der eine weitergehende Kontrolle der Regierung erlauben dürfte. Während man anerkennen muss, dass Tunesien aktuell keine etablierte Demokratie mehr ist - dafür sind die Kontroll- und Partizipationsmechanismen zu gering- besteht dennoch Hoffnung, dass Tunesien wieder demokratischer wird, allerdings spielt die Zeit dagegen. Das wahrscheinlichste Szenario dürfte eine Verlängerung der aktuellen Situation bis weit in 2023 hinein sein. Was bis dahin noch von der tunesischen Demokratie übrigbleibt, hängt zum einen am Präsidenten selbst und zum anderen an der tunesischen Zivilgesellschaft.


[1] https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG?locations=TN

[2] https://lapresse.tn/122159/sondage-emrhod-consulting-saied-et-moussi-toujours-aux-premieres-loges/ , https://www.leconomistemaghrebin.com/2022/02/18/sigma-conseil-tunisiens-confiance-kais-saied-najla-bouden/

Weitergehende Literatur:

  • Böckenförde, M. (2015). The dynamics of comprehensive constitution-building: religion and the concept of twin tolerations in Tunisia, in: Rousselin, Mathieu and Smith, Christopher (Eds.). The Tunisian constitutional process: main actors and key issues, Global Dialogues 7, Käte Hamburger Kolleg/ Centre for Global Cooperation Research, Duisburg, pp. 24-35.
  • Hmed, C. (2016). Au-delà de l’exception tunisienne: Les failles et les risques du processus révolutionnaire, in:  Pouvoirs, 156, pp. 137-147.
  • International Crisis Group (2018). Stemming Tunisia’s authoritarian drift. Middle East and North Africa Report Nr.180. https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/north-africa/tunisia/180-endiguer-la-derive-autoritaire-en-tunisie [22.03.2022].
  • Weilandt, R. (2019). Divisions within post-2011 Tunisia’s secular civil society. Democratization 26(6), pp. 959-974.
  • Yardimici-Geyikci, S. and Tür, Ö. (2018). Rethinking the Tunisian miracle: a party politics view, in: Democratization, 25 (5), pp. 787-803