VOX-Analyse der Abstimmungen vom 24. November: Umweltbewusstsein, soziale Gerechtigkeit und finanzielle Belastungen gaben den Ausschlag

Am 24. November 2024 hat die Schweizer Stimmbevölkerung über vier zentrale Vorlagen abgestimmt. Drei wurden abgelehnt, einzig die Gesundheitsreform erhielt eine Mehrheit. Die Ablehnung wurde durch starke links-grüne Mobilisierung, Umweltbewusstsein und Kritik an sozialen sowie finanziellen Aspekten geprägt. Zudem öffnete sich ein tiefer Geschlechtergraben. 

Am 24. November 2024 standen vier Behördenvorlagen zur Abstimmung. Die Stimmbevölkerung lehnte entgegen der Empfehlung des Bundesrates und des Parlaments drei von vier Vorlagen ab. Während die starke Mobilisierung von Personen, die sich politisch links verorten, drei Referendumserfolge von links-grüner Seite miterklären, gab es bei der einheitlichen Finanzierung im Gesundheitswesen gewisse Unterstützung von «links» bis «rechtsaussen» und starke Unterstützung aus dem politischen Zentrum sowie von höheren sozialen Schichten.

Neben dem stark geäusserten Wunsch nach Kostendämpfung begründeten einige ihr «Ja» mit dem Willen zu einer notwenigen Reform für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen. Während sich hinsichtlich der Mobilisierung zwischen den Geschlechtern kein Unterschied ausmachen lässt, zeigen sich im Stimmverhalten über alle vier Vorlagen hinweg geschlechterspezifische Differenzen:

Die Mehrheit der Frauen lehnten alle vier Vorlagen ab, die Mehrheit der Männer stimmte allen vier Vorlagen zu. Besonders deutlich ausgeprägt ist das unterschiedliche Abstimmungsverhalten zwischen den Geschlechtern bei Personen unter 30 Jahren.

Die Gründe für die Ablehnung von drei der vier Behördenvorlagen sind vielschichtig. Insgesamt haben die Abstimmungsteilnehmenden ihren Entscheid bei den einzelnen Vorlagen inhaltlich getroffen. Obwohl eine Mehrheit der Stimmenden anerkennt, dass das heutige Autobahnnetz aus allen Nähten platzt, scheiterte die Vorlage an der Urne. Die Kritik fehlender Weitsicht und die Sorge der Umweltbelastung bewegt die Mehrheit der Stimmberechtigten zu einem «Nein» zum Ausbau der Nationalstrassen.

Bei den beiden Mietvorlagen zeigt sich ein tiefer Graben zwischen Mietenden und Eigentümerinnen sowie Eigentümern. Während sich die Mietenden klar gegen beide Vorlagen aussprachen, waren die Eigentümerinnen und Eigentümer dafür. Insbesondere bei der Kündigung wegen Eigenbedarfs wird dies deutlich. Bei beiden Mietvorlagen beurteilten viele Befragte die heutigen Regelungen, auch aus  Sicht der Eigentümerschaft, als ausreichend.

Ausbau der Nationalstrassen: Problemdruck wurde erkannt, Sorge vor Umweltbelastung aber grösser

Bundesrat und Parlament planten den Ausbau der Nationalstrassen an sechs Standorten, um Engpässe zu beseitigen und die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Fahrbahnerweiterungen und neue Tunnel sollten die Mobilität der Bevölkerung gewährleisten. Das Referendumskomitee kritisierte das Vorhaben als übertrieben, veraltet und zu teuer. Sie argumentierten, dass zusätzliche Strassen mehr Verkehr, Staus und Umweltbelastungen verursachen würden. Obwohl Bundesrat und Parlament den Ausbau als notwendig für Mobilität und Wirtschaft erachteten, lehnte das Stimmvolk die Vorlage am 24. November 2024 mit einem Ja-Anteil von 47,3 Prozent ab.

Für das «Nein» zum Ausbau der Nationalstrassen spielte die politische Orientierung eine entscheidende Rolle. Personen, die sich links des politischen Zentrums einstufen, haben die Vorlage klar abgelehnt. Die stärkere Mobilisierung der Sympathisierenden des linken Spektrums und der Mitte-Links-Parteien hat das «Nein» unterstützt. Ein weiterer bedeutender Faktor für denStimmentscheid war das Umweltbewusstsein.

Personen, die den Umweltschutz höher gewichteten als den wirtschaftlichen Wohlstand, stimmten klar gegen den Ausbau der Nationalstrassen. Auch soziodemografische Unterschiede wurden sichtbar: Während Männer die Vorlage mehrheitlich annahmen(57%), lehnten sie Frauen mit nur 38 Prozent Zustimmung deutlich ab.

Die wichtigsten Nein-Motive betrafen die Befürchtung zusätzlicher Umweltbelastungen sowie die Kritik an einer fehlenden Weitsicht im Ausbaukonzept. Während das Narrativ «mehr Strassen führt zu mehr Verkehr» bei 89 Prozent der Nein-Stimmenden Zustimmung erfuhr, konnte dieses Argument bei den Befürwortenden der Vorlage überhaupt nicht überzeugen (17%). Obwohl 64 Prozent der Befragten anerkannten, dass das bestehende Autobahnnetz, das für eine Bevölkerung von sechs Millionen Menschen konzipiert wurde, heute überlastet ist, reichte dies nicht aus, um eine Mehrheit für die Vorlage zu erzielen.

Untermiete: Mietende sehen in Gesetzesänderung keinen Mehrwert

Die Änderung des Mietrechts zur Untermiete wollte missbräuchliche Untervermietungen künftig verhindern. Jedoch sorgte sich eine Mehrheit der Stimmberechtigten vor einer Schwächung des Mietrechts und lehnte die Vorlage mit einem Ja-Anteil von 48,4 Prozent ab. Viele Gegnerinnen und Gegner argumentierten, dass die aktuell geltende Regelungen bereits ausreichen, da die Zustimmung derVermieterseite zur Untermiete ohnehin erforderlich ist. Eine Mehrheit der Abstimmungsteilnehmenden teilte diese Argumentation.

Darüber hinaus wurde die Vorlage als unnötiger Vorschlag kritisiert, da sie mehr Bürokratie mit sich gebracht hätte. Die zusätzliche Verpflichtung zu schriftlichen Gesuchen und eine mögliche Kündigung bei Verstössen wurden als Schikane empfunden. Einige fürchteten, dass strengere Vorschriften bestehende Probleme auf dem Wohnungsmarkt nicht lösen, sondern eher verschärfen könnten. Hohe Mietkosten und die Bedeutung der Untermiete als Möglichkeit, finanzielle Belastungen zu mindern, spielten ebenfalls eine Rolle bei der Ablehnung.

Sowohl auf der Links-Rechts-Achse als auch parteipolitisch waren die Fronten verhärtet: Während Personen, die sich «links» oder«linksaussen» einstufen, die Gesetzesänderung klar ablehnten, stimmten Personen, die sich «rechts» oder «rechtsaussen» einordnen deutlich für die Vorlage. Personen, die sich im politischen Zentrum ansiedeln, waren gespalten. Parteipolitisch betrachtet, war die Ablehnung bei den Sympathisierenden der Grünen (19 % Ja-Anteil) und der SP (14%) besonders stark. Anhängerinnen und Anhänger der GLP zeigten sich mit 48 Prozent Ja-Anteil knapp ablehnend. Sympathisierende der Mitte (64%), der FDP (84%) und der SVP (68%) sprachen sich deutlich für die Gesetzesänderung aus.

Ein weiterer Grund für das «Nein» lag im Vertrauen in verschiedene Institutionen. Während Befürwortende der Vorlage häufig ein hohes Vertrauen in den Bundesrat, die Gewerbeverbände oder den Hauseigentümerverband (HEV)1 hatten, war das Vertrauen der Nein-Stimmenden in Gewerkschaften und den Schweizerischen Mieterverband höher.

Kündigung wegen Eigenbedarfs: Mehrheit der GLP stimmt trotz Ja-Parole gegen die Vorlage

Die vorgeschlagene Änderung des Mietrechts sah vor, die Anforderungen für die Anerkennung von Eigenbedarf zu lockern. Statt einer Dringlichkeit hätte künftig ein erheblicher und aktueller Eigenbedarf ausgereicht, der von der Eigentümerseite nachzuweisen wäre. Zudem sollte die Mieterstreckung verkürzt werden, was Kündigungen erleichtert hätte. Die Vorlage erreichte 46,2 Prozent Ja-Stimmen und wurde daher am 24. November abgelehnt. 

Die Abstimmung zeigte eine klare Spaltung entlang der politischen Lager. Während die Gesetzesänderung von den Mitte-Rechts-Parteien unterstützt wurde, lehnten sie Parteien links des politischen Zentrums deutlich ab. Die Mehrheit der GLP-Sympathisierenden hatte trotz einer nationalen Ja-Parole ihrer Partei gegen die Vorlage gestimmt. Wie bei der Abstimmung zur Untermiete spielte auch hier das Vertrauen in Institutionen eine zentrale Rolle: Personen mit hohem Vertrauen in den Schweizerischen Mieterverband oder Gewerkschaften tendierten deutlich zur Ablehnung.

Gegnerinnen und Gegner sahen in der Gesetzesänderung vor allem eine Schwächung der Rechte von Mietenden und befürchteten Rechtsunsicherheiten sowie einen Machtzuwachs seitens der Vermietenden. Sie argumentierten, dass die bestehenden Regelungen bereits ausreichend seien und keine Anpassung notwendig wäre. Viele vermuteten, dass das eigentliche Ziel der Vorlage darin bestand, Mieterhöhungen zu erleichtern oder Kündigungen zu beschleunigen. Diese Bedenken führten letztlich dazu, dass die Gesetzesänderung keine Mehrheit fand.

Finanzierung Gesundheitsleistungen: Sozialverträgliche Reform mit Hoffnung auf Dämpfung des Prämienanstiegs

Die einheitliche Finanzierung der Gesundheitsleistungen zielt darauf ab, ambulant und stationär erbrachte Leistungen identisch zu finanzieren. Neu sollen bei ambulanten und bei stationären Leistungen Krankenkassen maximal 73,1 Prozent und Kantone mindestens 26,9 Prozent der Kosten tragen. Zuvor wurden ambulante Leistungen alleine über die Krankenkassen und stationäre Leistungen von den Krankenkassen sowie den Kantonen finanziert. Durch diese Änderung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) sollen Fehlanreize abgebaut, ambulante Behandlungen gefördert und die medizinisch sinnvollste sowie kostengünstigste Behandlungunterstützt werden. Am 24. November 2024 sprach sich eine Mehrheit der Stimmbevölkerung mit 53,3 Prozent für die KVG-Reform aus.

Im politisch linken Lager fand die Vorlage nur wenig Zustimmung. Dennoch war die Grundhaltung nicht durchweg ablehnend. Ein Grund dafür kann in der Stimmfreigabe der Grünen gesehen werden. Sympathisierende der Grünen haben zu einem Drittel für die Vorlage gestimmt. Die Nein-Parole der SP wurde zudem nicht von allen SP-Sympathisierenden getragen: 24 Prozent stimmte für die einheitliche Finanzierung der Gesundheitsleistungen. Auf der anderen Seite des parteipolitischen Spektrums zeigte sich ebenfalls eine gewisse Abweichung zu der nationalen Parteiparole: Rund ein Drittel der SVP-Sympathisierenden sprach sich trotz gefasster Ja-Parole der Partei gegen die Gesetzesänderung aus.

Die Ja-Stimmenden erhoffen sich eine Dämpfung des Prämienanstiegs, die Förderung einer fairen Kostenaufteilung und den Abbau von Fehlanreizen. Zudem wurde die Notwendigkeit der Reform betont, um ein modernes und zukunftsfähiges Gesundheitssystem zu schaffen. Gleichzeitig wurde die Vorlage von einer Sorge begleitet: Eine Mehrheit der Stimmbevölkerung äusserte die Befürchtung, dass die Macht der Krankenkassen zunehmen könnte. Trotz dieses Kritikpunkts überzeugte die Reform, da sich viele Stimmberechtigte eine stärkere Förderung ambulanter Eingriffe und eine bessere Effizienz im Gesundheitssystem wünschen.

Die Beteiligung: Durchschnittliche Beteiligung mit tiefer Mobilisierung des rechten politischen Lagers

Die Abstimmungsbeteiligung am 24. November 2024 war mit rund 45 Prozent im langjährigen Ver- gleich durchschnittlich. Stimmende aus dem linken Lager nahmen stärker an den Abstimmungen teil als Personen des politischen Zentrums und rechts davon. Die Vorlage zur eigentlichen Finanzierung der Gesundheitsleistungen wurde von der Stimmbevölkerung am wichtigsten eingeschätzt. Jedoch war es auch die Vorlage, die am schwierigsten verständlich war.

Die VOX-Analyse
Die Ergebnisse der VOX-Analyse basieren auf einer repräsentativen Nachbefragung von 3’113 zufällig ausgewählten Stimmberechtigten, durchgeführt von gfs.bern im Auftrag der Bundeskanzlei. Die Befragung erfolgte sowohl online als auch mittels Papierfragebogen.

Referenz: 

Bild: Unsplash

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KategorienSchweizer PolitikThemen
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