Dringend gesucht: Erinnerung

Nur allzu oft speichert das menschliche Gehirn Erinnerungen falsch ab oder lässt sie in Vergessenheit geraten. Wie stellen Forschende im NFP 80 «Covid-19 in der Gesellschaft» sicher, dass Befragte ihnen möglichst korrekte und unverfälschte Auskünfte zur Pandemiezeit erteilen? Folgender Beitrag liefert Antworten auf diese Fragen und macht den Auftakt zur neuen Serie über das NFP 80 auf DeFacto. 

Unserem Gedächtnis ist nicht zu trauen. Wir verwechseln Geburtstage und Namen, verlegen das Portemonnaie – und manches, an das wir uns zu erinnern glauben, hat so gar nie stattgefunden. Das hat nicht nur Folgen für uns und unser Umfeld, sondern auch für die Forschung. In der Psychologie und in den Sozialwissenschaften ist der Umgang mit verfälschten oder verzerrten Erinnerungen eine seit langem bekannte Herausforderung.

Für Forschende im NFP 80 «Covid-19 in der Gesellschaft» stellt sich die Frage, wie gut sich Menschen an Ereignisse oder Gefühle während der Pandemie erinnern. «Viele haben die Covid-19-Pandemie aus ihren Köpfen gestrichen», sagt Alexander Seifert von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er ist Co-Leiter des NFP-80-Projekts «Generationsübergreifender Zusammenhalt», das untersucht, wie Menschen verschiedener Generationen während der Pandemie miteinander Kontakt hielten. «Bei unseren Interviews sagen immer mal wieder Personen, sie könnten sich fast gar nicht mehr daran erinnern.»

Manche Erlebnisse bleiben besser im Gedächtnis haften als andere. So hätten Befragte von kreativen Ideen erzählt, mit denen sie trotz Abstandsregeln in Kontakt blieben, erzählt Seifert. «Eine Frau traf sich mit Bekannten zu Brunnengesprächen, wie sie es nannte. Der Brunnen diente dabei als Abstandhalter.» Andere hielten einen Schwatz von Fenster zu Fenster oder vom Fenster auf die Strasse. Und in einem Quartier veranstalteten die Bewohnerinnen und Bewohner eine Art Corona-konforme Schnitzeljagd, bei der die Kinder Teddybären auf Fenstersimsen suchen durften.

In vielen Fällen aber müssen Forschende dem Gedächtnis von Probandinnen und Probanden auf die Sprünge helfen. Seifert und sein Team nutzen dazu beispielsweise Bilder. «Wir bitten die Personen, Fotos von damals mitzubringen, und wir zeigen ihnen Covid-Kampagnen-Plakate des Bundesamts für Gesundheit», erzählt Seifert. «Beides kann helfen, sich in die damalige Situation zurückzuversetzen.»

Beschönigen oder übertreiben?

Denselben Kniff wenden Forschende des NFP-80-Projekts «Städtische Räume für Jugendliche» an, das von Anke Kaschlik von der ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften geleitet wird. Das Projekt untersucht die Nutzung und Bedeutung von öffentlichen, privaten, physischen und virtuellen Räumen für Jugendliche allgemein und während der Pandemie. Im Empfinden von Jugendlichen seien die vier Jahre seit der Pandemie noch einmal eine längere Zeitspanne als für ältere Menschen, sagt Kaschlik.

Befragt werden Jugendliche in Gruppen-Workshops an Schulen. «Unser Projekt bildet die ganze Bandbreite von Schulen ab – von Berufsschulen bis Gymnasien», sagt Kaschlik. Schon diese Breite mit insgesamt rund 230 Befragten biete eine gewisse Gewähr, Erinnerungslücken im Gesamtprojekt zu vermeiden. Zur Erinnerungsauffrischung bitten die Forschenden die Jugendlichen zusätzlich, einen Blick auf ihre damaligen Fotos oder Social-Media-Posts zu werfen. Zudem trugen sie auf einem Zeitstrahl Pandemie-Massnahmen ein – zum Beispiel, ab wann Treffen von mehr als sechs Personen verboten waren.

«Diese Anhaltspunkte zeigen Wirkung», erzählt Kaschlik. «Bei einigen begannen die Erinnerungen zu sprudeln und das regte im Austausch in der Gruppe auch andere an.» Ein Beispiel sei jenes von zwei Jugendlichen namens Rouven und Tatjana. Beim Durchschauen des Massnahmen-Zeitstrahls sagte Rouven: «Ah ja, stimmt: Das war die Zeit der Hamsterkäufe.» Worauf auch Tatjana sich erinnerte und sagte: «Wir sind damals WC-Papier hamstern gegangen.»

Die Gruppen-Workshops haben laut Kaschlik einen weiteren Vorteil. Denn Menschen vergessen nicht nur: Bewusst oder unbewusst legen sie sich Erinnerungen zurecht, beschönigen oder tabuisieren. Wenn sich Jugendliche beispielsweise während der Pandemie Massnahmen widersetzten, erzählten sie das Forschenden vielleicht nicht gern, sagt Kaschlik. «Aber gleichzeitig wollen sie vor ihren Kolleginnen und Kollegen ein wenig angeben. So gleicht sich das vielleicht aus und wir erhalten am Ende zumindest in der Summe realistische Aussagen.» Zudem validieren die Forschenden ihre Analyseergebnisse zusammen mit den Jugendlichen in erneuten Workshops.

Mit drei Schulklassen führte das Forschungsteam zudem sogenannte «Walking Talks» durch, also Interviews während des gemeinsamen Begehens von beispielsweise Parks oder Jugendräumen. Dieses Vorgehen habe sich als sehr hilfreich erwiesen, um mit den Jugendlichen im Detail über spezifische Orte und deren Qualitäten reden zu können, sagt Anke Kaschlik. «Für die Jugendlichen war es vor Ort viel einfacher, sich zu Möglichkeiten und Hürden der Nutzung bestimmter städtischer Orte zu äussern.»

Vertrauen aufbauen

Wer sich der Gefahr der verfälschten Erinnerungen bewusst ist, kann Gegenmassnahmen treffen. Beim NFP-80-Projekt «Generation Covid» geht es um das Wohlbefinden junger Menschen während der Pandemie. Ein Projektteil besteht aus Interviews mit ungefähr 30 Fachpersonen aus Verwaltungen oder Organisationen zu politischen Massnahmen, mit denen junge Menschen damals unterstützt wurden. In diesem beruflichen Kontext sei die Gefahr des reinen Vergessens eher gering, sagt Co-Projektleiterin Núria Sánchez-Mira von der Universität Neuenburg. «Hingegen kann es sein, dass jemand ein geschöntes Bild seiner Institution vermitteln möchte.»

Um das zu verhindern, setzen die Forschenden auf Faktenanalysen: Sie konsultieren Berichte zu den umgesetzten Massnahmen – und beziehen sich in den Interviews immer wieder darauf. Zudem sei es wichtig, Vertrauen zu den befragten Menschen aufzubauen, sagt Sánchez-Mira. «Sie müssen wissen, dass es nicht unser Ziel ist, sie oder ihre Institution zu kritisieren. Wir wollen Lehren für künftige Pandemien ziehen.»

Keine Angst vor schwierigen Themen!

Faktenkenntnisse und Vertrauen sind zwei Punkte, die auch Annika Rohrmoser und Gemma García Calderó von der Universität Basel betonen. Beide sind Doktorandinnen im Rahmen des NFP-80-Projekts «Einsamkeit vorbeugen», das untersucht, wie einsam sich Menschen während der Pandemie fühlten – und welche Massnahmen dagegen wirken. Ein Kernpunkt der Forschungsarbeiten sind Gespräche mit ungefähr 40 Personen, die während der Pandemie Einsamkeit erfuhren.

Die Forschenden bereiten diese qualitativen Interviews minutiös vor. Sie befragen Expertinnen und Experten auf dem Gebiet – und Gemma García Calderó erstellt eine Übersichtsarbeit zu bereits existierenden Studien. «Dieses Wissen gibt uns die Sicherheit, dass wir die wichtigen Punkte ansprechen und mit Nachfragen von verschiedenen Seiten beleuchten», erklärt sie. «Das hilft Missverständnisse zu vermeiden oder allfällige Widersprüche in den Antworten aufzudecken.»

Gerade das Thema Einsamkeit sei mit Stigmata behaftet, ergänzt Annika Rohrmoser. «Manche Menschen glauben, sie seien selbst schuld, wenn sie sich einsam fühlten – und scheuen sich, darüber zu sprechen.­» Um solche Tabus zu vermeiden, muss das entsprechende Gesprächsumfeld geschaffen werden. «Wir versuchen den Befragten aufzuzeigen, dass jede und jeder von uns Momente der Einsamkeit hat. Und dass uns ihre Erinnerungen wichtig sind und es keine richtigen oder falschen Antworten gibt.»

Daten aus Längsschnittstudien

Erinnerungsprobleme tauchen nicht nur bei qualitativen, sondern auch bei quantitativen Datenerhebungen auf; ganz besonders, wenn Ereignisse weit zurückliegen. Im Projekt «Generationsübergreifender Zusammenhalt» etwa sollen 1600 Menschen in einer nationalen Befragung beispielsweise angeben, wie oft sie mit Enkelkindern oder Grosseltern zu Pandemiezeiten und zu Nicht-Pandemiezeiten Kontakt hatten. «Ursprünglich wollten wir die Zeit vor der Pandemie mit jener während der Pandemie vergleichen», erzählt Alexander Seifert. Weil es aber seine Zeit dauerte, bis das NFP seine Arbeit aufnehmen konnte, erschien das den Forschenden zu riskant. Sie entschieden sich stattdessen, die Pandemie-Zeit mit der Gegenwart zu vergleichen.

Einen eleganten Ansatz hat das Projekt «Generation Covid» gewählt: Für die Frage, wie sich die Pandemie auf das Wohlbefinden junger Menschen ausgewirkt hat, greift es auf Daten aus dem Schweizer Haushalts-Panel zurück, bei dem rund 10‘000 Schweizer Haushalte seit 1999 jährlich befragt werden. «Während der Pandemie gab es sogar eine zusätzliche Befragungswelle», erzählt Núria Sánchez-Mira. «Weil die Befragten jeweils ihre aktuelle Situation schildern, vermindert sich die Erinnerungsverzerrung.»

Eine Garantie für korrekte, unverfälschte und ungefärbte Erinnerungen gibt es nicht. Doch die Forschenden des NFP 80 sind sich der Herausforderung bewusst. Sie wenden konsequent verschiedene Methoden und Strategien an, um unerwünschte Einflüsse oder Verzerrungstendenzen zu erkennen – und lassen bei der Interpretation ihrer Resultate besondere Vorsicht walten.


Referenzen:

Bild: NFP80

Dieser Artikel wurde von Raed Hartmann bearbeitet.
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KategorienPolitische Soziologie, Psychologie, Schweizer PolitikThemen
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