Zeitung, Tages-Anzeiger

Genug Substanz, etwas wenig Balance: Die Wahlen 2023 in den Medien

In Zeiten politischen Wettbewerbes, wie etwa Wahlen, spielen Medien eine wichtige Rolle bei der Informierung und Meinungsbildung der Bevölkerung. Wie ausgewogen und umfassend war die Berichterstattung bei den letztjährigen Wahlen in der Schweiz? Die aktuelle Untersuchung gibt Aufschluss darüber, ob die Medien ihrer demokratischer Verantwortung gerecht werden.

Landesweite Wahlen sind Brennpunkte in den politischen Prozessen einer Demokratie. Wenige andere Ereignisse lenken die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit so stark auf die nationale Politik wie der Wettbewerb um den Einsitz in den nationalen Parlamenten. Die essenzielle Rolle der Medien als Arena der demokratischen Öffentlichkeit tritt deshalb bei nationalen Wahlen noch stärker zu Tage. Eine der wichtigsten Medienfunktionen dabei ist das Informationsangebot an die Bevölkerung (Müller 2014). Je umfassender und ausgeglichener die Medien über politische Ereignisse während Wahlkämpfen berichten, desto eher kann dies eine unabhängige Meinungsbildung und die Teilnahmebereitschaft der Wähler:innen unterstützen (Schudson 2008: 2). Im Rahmen der schweizerischen Wahlstudie Selects 2023 konnten die Autor:innen die Berichterstattung in den Print- und Online-Medien zu den eidgenössischen Wahlen auswerten (Wüest et al. 2024). In der Folge werden die wichtigsten Resultate überblicksweise eingeordnet.

Das Verhältnis verschiedener Themen in der medialen Berichterstattung, die Medienagenda, ist das Ergebnis konstanter Aushandlungsprozesse zwischen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren (Boydstun 2013). Für die vorliegende Studie ist ein spezifisches Ergebnis dieser Aushandlungsprozesse, die Aufmerksamkeit der Medien auf die Schweizer Politik, entscheidend. Nur wenn Medien der Schweizer Politik im Verhältnis zu anderen Nachrichten ein gewisses Gewicht einräumen, vermögen sie das Augenmerk der Wähler:innen auf das Thema zu lenken und somit deren Meinungsbildung anzustossen (Bennett and Entman 2001). Beobachter:innen befürchten bereits seit längerem, dass Medien diese Funktion aufgrund der Konzentrations- und Kommerzialisierungsprozesse der Medienlandschaft nicht mehr gut erfüllen können (Esser und Matthes 2013).

Abbildung 1 zeigt das Gewicht der Schweizer Politik in der medialen Agenda der 116 untersuchten Medientitel. Die Punkte zeigen die Agenda verschiedener Nachrichtenbereiche für jeden Titel, während die grauen Balken den durchschnittlichen Anteil über alle Titel darstellen. „Schweizer Politik“ ist mit durchschnittlich 18,4 Prozent für die meisten Zeitungen eine zentraler, aber nicht der gewichtigste Schwerpunkt. „Wirtschaft, Umwelt und Technik“ sowie „Kultur, Gesellschaft und Unterhaltung“ haben mit 22,4 bzw. 20 Prozent insgesamt ein etwas stärkeres Gewicht.

Themenschwerpunkte in den traditionellen Medien eidgenössischen Wahlkampf 2023

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Wahlstudie Selects 2023 · Relative Anteile der klassifizierten Artikel in Prozent

Eine überwiegende Mehrheit der Tageszeitungen (grüne Punkte, mit einem Click auf die Legende können diese Titel getrennt betrachtet werden) und rund zwei Drittel der Online-Zeitungen (hellviolette Punkte) weisen einen überdurchschnittlichen Anteil an Berichterstattung zur Schweizer Politik auf. Kritisch zu sehen ist, dass die Agenda der regional äusserst breitenwirksamen Medientiteln wie Ticinonline, 20 minutes und 20 Minuten deutlich unterdurchschnittlich durch die Schweizer Politik besetzt ist.  Und bei den Magazinen, Sonntags- oder Wochenzeitungen (dunkelviolette Punkte) ist es stark von der redaktionellen Nische abhängig, welche diese Titel besetzen. So bestreiten dezidiert politische Nischenpublikationen wie die Weltwoche oder Wochenzeitung ihre Agenda entsprechend stärker mit Schweizer Politik als die meisten anderen Medientitel. Umgekehrt hat es in Unterhaltungszeitschriften wie der Glückspost oder der Encore nachvollziehbarerweise wenig Platz für politische Inhalte.

Eine weitere Anforderung an die Rolle der Medien in einer Demokratie ist, dass sie sich nicht vollständig strategisch auf den Nachrichtenwert abstützen (Zoizner 2020). Nationale Wahlen sind hochkarätige politische Ereignisse, und profilierte Persönlichkeiten, Parteikampagnen sowie andere Wahlkampfveranstaltungen bieten Medienschaffenden viel niederschwelligen Anlass, die Sichtbarkeit ihrer politischen Berichterstattung zu maximieren. Die Wissenschaft spricht hier von Tendenzen des Infotainments oder der Skandalisierung (Graber 2004), welche im schlimmsten Fall die Informationsversorgung der Wähler:innen mit substanziellen Inhalten stören können.

In Abbildung 2 sind alle Artikel, welche in Abbildung 1 unter „Schweizer Politik“ zusammengefasst waren, in einzelne Themenbereiche aufgeschlüsselt. Der Themenbereich „Wahlkampf & politisches System“ ist dabei besonders interessant, entspricht er doch am ehesten einem strategisch auf den schnellen Nachrichtenwert abzielenden Journalismus. „Wahlkampf & politisches System“ rangiert nicht nur hinter allgemein die öffentliche Debatte dominierenden Ereignissen wie dem Angriff Russlands auf die Ukraine oder dem Krieg zwischen Israel und der Hamas, welche die überwiegende Mehrheit der Berichterstattung im Themenbereich „Internationale Beziehungen & Sicherheit“ ausmachen. Auch weniger profilierte aber vergleichsweise gehaltvolle Themenbereiche wie „Infrastruktur, Umwelt & Energie“ (insbesondere mit Debatten rund um erneuerbare Energien) und “Wirtschaft, Fiskalpolitik & Sozialstaat” (vornehmlich Debatten zur Teuerung und der Aufarbeitung des Untergangs der Credit Suisse) werden häufiger aufgegriffen als der Wahlkampf um Einsitz in die eidgenössischen Parlamente.

Agenda zur Schweizer Politik während den eidgenössischen Wahlkampf 2023 in den traditionellen Medien

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Wahlstudie Selects 2023 · Relative Anteile der klassifizierten Artikel in Prozent

Nichtsdestotrotz sind einige der Medientitel, welche den Fokus ihrer Berichterstattung überdurchschnittlich stark auf den Themenbereich „Wahlkampf & politisches System“ legen, essenziell für die Versorgung der breiteren Bevölkerung mit Nachrichten (z.B. srf.ch, Ticinonline oder 20 Minuten, vgl. Abb. 2). Es besteht also schon ein gewisses Risiko, dass bestimmte Wählerschaften zu viel vom „Wahlzirkus“ und zu wenig von politischen Themen mitbekommen, welche ihre Interessen tangieren und eine Meinungsfindung auslösen sollten.

Eine oft geäusserte Kritik an den Medien ist, dass sie sich in ihrer Berichterstattung zu stark an die bereits einflussreichen Persönlichkeiten und Organisationen anlehnen (Tresch 2009, Hopmann et al. 2011). Hohe Amtsträger:innen wie Bundesrät:innen oder bisherige nationale Parlamentarier:innen sowie traditionell starke Parteien (in der Schweiz üblicherweise die vier Bundesratsparteien) sind in ihrer Medienarbeit vergleichsweise professionalisiert und verfügen deshalb auch über einen entscheidenden Startvorteil, wenn es um die Medienpräsenz in einer Wahlkampagne geht. Zudem sind diese Akteure eingebunden in eine festgelegte Abfolge von Ereignissen wie Pressekonferenzen, Sitzungen und Debatten, an welcher sich die Medienschaffenden orientieren können.

Abbildung 3 zeigt die relativen Vorkommen der sechs grössten Parteien beziehungsweise deren Politiker:innen in der Medienlandschaft Schweiz. An den Durchschnittswerten der relativen Vorkommen wird die klare Dominanz der Bundesratsparteien ersichtlich. Während die Medienpräsenz der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sowie der Mitte ungefähr ihren Wähler:innenstärken entspricht, bieten die Medien den Sozialdemokraten (SP) und den Liberalen (FDP) eindeutig eine zu grosse Plattform an. Nur schon die Grünen (GPS) und Grünliberalen (GLP) müssen mit viel weniger Medienaufmerksamkeit auskommen.

Aufmerksamkeit für Parteien und deren Politiker:innen in den traditionellen Medien

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Wahlstudie Selects 2023 · Relative Anteile der Nennungen in Prozent

Diskussionswürdig ist zudem die Tatsache, dass neun der 15 in der Medienanalyse gemessenen Parteien zur Restkategorie „Andere“ zusammengefasst werden mussten, weil zu wenig Nennungen für diese kleineren Parteien vorlagen. Und diese neun Parteien bestehen zur Mehrheit nicht aus zersplitterten Gruppierungen. So sind hier Parteien zu finden, welche schweizweit eine gewisse Wählerbasis besitzen, wie die EVP oder die EDU, ebenso wie Parteien, welchen regional eine tragende Bedeutung in der Parteienpolitik zukommt wie die Lega im Tessin, dem MCG im Kanton Genf, der AL in den grossen Städten und der Liberalen Partei in der Nordwestschweiz. Diese Parteien bieten vielen Wähler:innen je nach Standpunkten valable programmatische Alternativen. Deshalb hätten sie es verdient, stärker im Scheinwerferlicht der wichtigsten Bühne für die Schweizer Politik, den eidgenössischen Wahlen, zu stehen.

Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine definitiven Ergebnisse der Medienanalyse für die Selects 2023 präsentiert werden können, lässt sich zeigen, dass die traditionelle Medienlandschaft aus Online- und Printzeitungen insgesamt eine qualitativ gute Berichterstattung zur Schweizer Politik bereitstellt. Bis auf einzelne, allerdings wichtige Medientitel wird die Wählerschaft mit einem ausgewogenen Informationsangebot über die politischen Inhalte versorgt. Wie differenziert und umfassend die inhaltliche Berichterstattung stattfindet, muss Gegenstand weiterer Untersuchungen bleiben. Aber eine übertriebene und potenziell kontraproduktive Eingrenzung der redaktionellen Agenda auf den Wahlkampf findet nicht statt.

Kritischer einzustufen ist die Tendenz fast aller Medientitel, den grössten vier Parteien eine besonders grosse Medienpräsenz einzugestehen. Diese Parteien repräsentieren die Interessen nur eines Teils der Schweizer Bevölkerung, vor allem bilden sie das föderal stark aufgegliederte Parteiensystem nur ungenügend ab. Das Ungleichgewicht besteht also nicht im Sinn einer systematischen Verzerrung einer bestimmten politischen Richtung, sondern im Sinn eines Oligopols der Bundesratsparteien. Mehr Gewicht auf kleinere Parteien würde den Wähler:innen helfen, alternative politische Programme kennenzulernen und schlussendlich eine bessere Wahlentscheidung zu treffen.

Methodik

Die Medienanalyse der schweizerischen Wahlstudie Selects 2023 erfasste und analysierte 116 Print- und Onlinemedien aus der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweiz. Die Erhebungsperiode erstreckt sich dabei auf den Zeitraum von sechs Monaten vor den eidgenössischen Wahlen 2023. Über ein Sentence-Embedding-basiertes Textclustering wurden generelle, medientitel-unabhängige Zeitungsrubriken, der Bezug von Artikeln zur Schweizer Politik und 17 politische Sachthemen erhoben. Zusätzlich wurde das Vorkommen der 15 wichtigsten Parteien, der 5997 National- und Ständeratskandidat:innen, der 7 Bundesrät:innen und des Bundeskanzlers gemessen.


Referenzen:

  • Bennett, W. Lance and Robert. M. Entman (2001). Mediated Politics: Communication in the Future of Democracy. Cambridge University Press.

  • Boydstun, Amber E. (2013). Making the News: Politics, the Media & Agenda Setting. University of Chicago Press.

  • Esser, Frank and Jörg Matthes (2013). Mediatization effects on political news, political actors, political decisions, and political audiences. In Kriesi, Lavenex, Esser, Matthes, Bühlmann and Bochsler (eds.): Democracy in the Age of Globalization and Mediatization. Springer.

  • Graber, Doris (2004). Mediated politics and citizenship in the twenty-first century. Annual Review of Psychology, 55, 545–71.

  • Hopmann, David N., Clas H. De Vreese and Erik Albæk (2011). Incumbency bonus in election news coverage explained: The logics of political power and the media market. Journal of Communication 61(2): 264-82.

  • Müller, Lisa (2014). Comparing Mass Media in Established Democracies: Patterns of Media Performance. Palgrave Macmillan London.

  • Schudson, Michael (2008). Why Democracies Need an Unlovable Press. Polity Press.

  • Tresch, A. (2009). Politicians in the media: Determinants of legislators’ presence and prominence in Swiss newspapers. The International Journal of Press/Politics, 14(1), 67-90.

  • Wüest, Bruno, Roland Krell, Ronja, Wirz and Claude Meier (2024). Der Wahlkampf 2023 in traditionellen Medien. Hochschule für Wirtschaft Zürich, Center for Research and Methods.

  • Zoizner, Alon, Shaul R. Shenhav, Yair Fogel-Dror, and Tamir Sheafer (2020). Strategy News Is Good News: How Journalistic Coverage of Politics Reduces Affective Polarization. Political Communication 38(5): 604–23.

Bild: flickr.com

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KategorienKommunikationswissenschaft, Schweizer PolitikThemen
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