Herr Gut, sind 16-Jährige bereit für das Stimmrecht?

Das Stimmrechtsalter 16 wurde in der Schweizer Politik auf kantonaler und nationaler Ebene schon häufiger diskutiert. Welche Rolle nehmen Jugendliche und junge Erwachsene überhaupt in der Schweizer Politik ein und wie könnte ihre Partizipation gefördert werden? Robin Gut spricht über das Stimmrechtsalter und die politische Beteiligung der Jungen.

Welche Argumente sprechen für und gegen die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16?

Robin Gut:

  • Die Befürworterinnen und Befürworter wollen die Jugendlichen bei politischen Entscheidungen mitbestimmen lassen, die sie am längsten und stärksten betreffen werden. Dies betrifft zum Beispiel den Klimaschutz oder die Altersvorsorge. Dieses Bedürfnis hat mit den Protesten der Klimajugend ein grösseres Gewicht erhalten. Ein weiteres Argument ist die Demografie: Die Schweizer Stimmbevölkerung wird immer älter, gegen Ende des Jahrzehnts wird die Medianwähler:in über 60 Jahre alt sein. Das Stimmrechtsalter 16 würde diesen Trend verlangsamen, aber nicht aufhalten.

    Darüber hinaus spricht aus Sicht der politischen Bildung einiges für das Stimmrechtsalter 16: Dürfen die Schülerinnen und Schüler gegen Ende der obligatorischen Schulzeit das Gelernte gleich in der Praxis anwenden, kann dies das politische Interesse und die politische Beteiligung erhöhen. Dieser Effekt gilt aber nur für die Jugendlichen mit Schweizer Staatsbürgerschaft. Bei ausländischen Jugendlichen könnte sich demgegenüber die Unzufriedenheit erhöhen, weil sie politisch nicht mitbestimmen dürfen.

  • Die Gegnerinnen und Gegner stören sich vor allem daran, dass Bürgerinnen und Bürger politisch mitbestimmen sollen, obwohl sie noch nicht volljährig sind. Dies bedeutet zum Beispiel, dass sie noch keine Steuern bezahlen müssen, noch nicht der Wehrpflicht unterliegen, oder juristisch noch nicht vollständig handlungsfähig sind. Das Argument der Volljährigkeit und die damit verbundenen Rechte und Pflichten wird insbesondere gegen das passive Wahlrecht ab 16 Jahren verwendet, also das Recht, gewählt zu werden. Es gibt aber aus politikwissenschaftlicher Sicht keinen zwingenden Grund, das Wahlrecht erst mit der Volljährigkeit zu gewähren. Wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, lässt sich auch das passive Wahlrecht ab 16 Jahren umsetzen, wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt.

    Ein weiteres Argument der Gegnerinnen und Gegner ist der Vorwurf des geringen politischen Interesses, der tiefen Beteiligung und der geistigen Unreife der Jugendlichen. Allerdings widerspricht die wissenschaftliche Evidenz diesem Argument, ebenfalls sind politisches Interesse oder geistige Reife auch bei volljährigen Bürgerinnen und Bürgern kein Grund für einen Stimmausschluss. Darüber hinaus befürchten rechte Parteien, dass Jugendliche tendenziell eher links wählen und sie deshalb Wähleranteile einbüssen würden. Nachwahlbefragungen in der Schweiz stützen dieses Argument. Allerdings würden vom Stimmrechtsalter 16 primär jene Parteien profitieren, die die Meinungen und Interessen der jungen Bürger:innen sowie den Zeitgeist am besten vertreten – wie Erfahrungen aus dem europäischen Ausland zeigen, müssen das nicht per se linke Parteien sein. Generell sind die 16- und 17-Jährigen Bürger:innen eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe mit vielfältigen Meinungen und Interessen. 

Aus empirischer Sicht sind die 16- und 17-Jährigen somit fähig, politische Entscheide zu fällen. Ebenfalls zeigt das Stimmrechtsalter 16 keine oder positive Effekte auf das politische Interesse und die politische Beteiligung der Jungen. Letzten Endes ist es deshalb eine normative Abwägung des heutigen Stimmvolkes, ob es die 16- und 17-Jährigen politisch mitbestimmen lassen will.

Woran scheitert die Umsetzung des Stimmrechtsalter 16 in so vielen Kantonen und auf Bundesebene?

Sowohl auf Bundes-, als auch auf Kantonsebene geniesst das Thema Stimmrechtsalter 16 tiefe Priorität. Die Bevölkerung empfindet andere Politikbereiche wie die Klimapolitik, die Zuwanderung, oder die Gesundheitspolitik als dringlicher und wichtiger. Dies ist wohl auch auf das geringe politische Gewicht der Jugendlichen, ihre geringen Finanzkraft und ihren tiefen politischen Organisationsgrad zurückzuführen. Des Weiteren dürfte die parteipolitische Spaltung in dieser Frage dazu führen, dass das Stimmrechtsalter 16 bis auf weiteres kein parteiübergreifendes Anliegen sein wird. Jugendbewegungen wie die Klimajugend, die wahlpolitisch betrachtet einem bestimmten politischen Lager zuzurechnen sind, dürften diese Tendenz akzentuieren.

Über die tiefe Priorität und die politische Spaltung hinaus ist das Stimmvolk generell sehr skeptisch gegenüber einer Ausweitung des Stimmrechts. Historisch betrachtet hat das Schweizer Stimmvolk das Stimmrecht langsam und in kleinen Schritten auf weitere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt. Wie sich beim Frauenstimmrecht oder dem Stimmrechtsalter 18 gezeigt hat, sind oft mehrere Anläufe und langjährige politische Diskussionen nötig, was hauptsächlich auf den Kontext des Föderalismus und der direktdemokratischen Volksrechte zurückzuführen ist. Dabei dienten die Kantone und Gemeinden als politische Versuchslabore. Einige Kantone übernahmen Vorreiterrollen, währenddessen andere zögerlich agierten. Auf Bundes- und Kantonsebene liess sich das Stimmvolk oft erst in mehreren Anläufen von einer Ausdehnung des Stimmrechts überzeugen. Diese Muster wiederholen sich beim Stimmrechtsalter 16.

Auf Bundes- und Kantonsebene wurde eine Mehrheit der Vorstösse von Parlamentarierinnen und Parlamentariern angestossen, nicht über Unterschriftensammlungen. Dies lässt darauf schliessen, dass die gewählten Politikerinnen und Politiker dem Anliegen gegenüber aufgeschlossener sind als das Stimmvolk. Auf Bundesebene scheiterte das Stimmrechtsalter 16 bis jetzt primär daran, dass kein Kanton ausser Glarus 2007 dem Anliegen zugestimmt hat. Ausserhalb von Glarus hat das Stimmvolk in den Kantonen bisher acht Mal über das Stimmrechtsalter 16 abgestimmt, jedes Mal mit einem Nein-Anteil von zwei Dritteln oder mehr. Die Annahme des Stimmrechtsalters 16 an der Landsgemeinde im Kanton Glarus ist daher nicht repräsentativ für den Rest der Schweiz und hat keinen allgemeinen Trend ausgelöst.

Welche Rolle spielt das Alter der Stimmberechtigten in der Schweizer Politlandschaft?

Das Alter ist nicht die primäre politische Konfliktlinie in der Schweiz. Parteipolitische Differenzen, Unterschiede zwischen den Sprachregionen, oder der Stadt-Land Graben fallen da stärker ins Gewicht. Trotzdem haben wir festgestellt, dass die jüngeren Stimmberechtigten in für sie relevanten Themen wie der Altersvorsorge oder dem Umweltschutz von den älteren Stimmberechtigten überstimmt werden. Das jüngste Beispiel dafür ist die angenommene Volksinitiative über die 13. AHV Rente, die von einer Mehrheit der unter 40-Jährigen abgelehnt wurde. Ein weiteres Beispiel ist das gescheiterte Referendum über das CO2 Gesetz von 2021, welches von einer Mehrheit der unter 40-Jährigen angenommen wurde. Weil der Stimmkörper weiter altert, werden die Jungen in Zukunft öfters Abstimmungen in für sie relevanten Themenbereichen verlieren. Stand heute gehen wir davon aus, dass das Alter als politische Konfliktlinie relevanter wird. Die Rolle des Alters als politische Konfliktlinie müsste aber noch systematischer untersucht werden.

Inwiefern würde eine Senkung des Stimmrechtsalters die Beteiligung junger Menschen bei Abstimmungen verändern?

Generell ist die politische Partizipation junger Bürgerinnen und Bürger tiefer als jene älterer. Aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Deutschland, Österreich und Grossbritannien gehen wir davon aus, dass eine Senkung des Stimmrechtsalters die politische Beteiligung der jungen Menschen erhöhen würde. Dies unter anderem, weil die Jugendlichen mit 16 Jahren noch stärker in ihrem sozialen Umfeld verankert sind als mit 18 Jahren. Insbesondere eine Auseinandersetzung mit politischen Themen in der Schule könnte die Partizipation nachhaltig steigern. So könnten zum Beispiel Schulklassen im Vorfeld einer Abstimmung oder einer Wahl dieses Thema vertieft im Unterricht behandeln. Die Schülerinnen und Schüler mit Schweizer Staatsbürgerschaft könnten dann das dabei erarbeitete Wissen gleich in einen politischen Entscheid umwandeln. Da sie den politischen Prozess beeinflussen könnten, würde das politische Interesse der Jugendlichen damit automatisch zunehmen.

Welche Hindernisse und Hürden halten Jugendliche davon ab, sich politisch zu beteiligen?

Jugendliche und junge Erwachsene haben oft andere Prioritäten als Politik. Sie haben erste Liebesbeziehungen, schliessen die Schule ab, setzen sich mit der Berufswahl auseinander und lösen sich vom Elternhaus. In dieser Situation hat die Politik oft keine Priorität.

Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass junge Erwachsene sich stärker unkonventionell, beziehungsweise selektiv politisch beteiligen. Das heisst, sie gehen öfter an Demonstrationen oder äussern sich im Internet über politische Themen. An Abstimmungen nehmen sie demgegenüber nicht routinemässig teil, sondern nur, wenn das Thema für sie wichtig ist. In der Schweiz ist zudem zu erkennen, dass das Interesse für Abstimmungen weitaus höher ist als jenes für Wahlen. In Ländern ohne direktdemokratische Instrumente könnte diese Abneigung gegen die repräsentative Demokratie eine mögliche Hürde für die Partizipation der Jugendlichen darstellen.

Wie können Jugendliche dazu motiviert werden, mehr politisch zu partizipieren?

Aus unserer Sicht wäre es wichtig, sich nicht nur auf die politische Partizipation zu konzentrieren, sondern den Alltag der Jugendlichen generell partizipativer zu gestalten und ihnen Verantwortung zu übertragen. Dies könnte bedeuten, partizipative demokratische Strukturen in der Schule, am Arbeitsplatz oder in Vereinen vermehrt zu leben und zu fördern. Demokratie und Beteiligung sollten sich nicht auf politische Prozesse beschränken, sondern in allen Lebensbereichen gefördert werden.

Darüber hinaus könnte ein Ja zum Stimmrechtsalter 16 ein Signal der Gesellschaft an die Jugendlichen sein, dass wir sie ernst nehmen und ihre Meinung schätzen. Dieses Signal könnte auch das passive Wahlrecht ab 16 umfassen. Sollte das Stimmvolk dereinst eine 17-Jährige Jugendliche zur Gemeindepräsidentin wählen, würde dies ein klares Signal an die Jugendlichen senden, dass sie Teil der politischen Prozesse sind und dass man sie ernst nimmt.

Wie würde eine erhöhte Beteiligung junger Menschen an Abstimmungen die politische Agenda und die politischen Outcomes in der Schweiz verändern?

Wir schätzen, dass die 16- und 17-Jährigen rund 2.4% eines erweiterten Stimmkörpers ausmachen würden. Rein aufgrund der Demografie wäre ihr direkter politischer Einfluss daher begrenzt und quantitativ nicht zu vergleichen mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Wie die Frauen sind auch die jungen Bürgerinnen und Bürger eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe mit den unterschiedlichsten Interessen und Meinungen. Grosse politische Verschiebungen wären daher nach einer Senkung des Stimmrechtsalters nicht zu erwarten. Bei Wahlen haben Erfahrungen aus dem europäischen Ausland gezeigt, dass es sehr auf den Kontext ankommt, welche Partei vom Stimmrechtsalter 16 profitieren kann. Im Schweizer Kontext direktdemokratischer Volksabstimmungen könnten die Stimmen der Jungen bei sehr knappen Abstimmungen mit einer ausgeprägten altersspezifischen Konfliktlinie durchaus den Ausschlag geben.

Eine erhöhte Beteiligung junger Menschen an Abstimmungen und Wahlen dürfte aber vor allem eine stärkere Ausrichtung der politischen Parteien auf dieses neue Wählersegment zur Folge haben. Dies könnte zu einem verstärkten Interessensausgleich zwischen den Generationen beitragen. Dieser Interessensausgleich ist aus unserer Sicht zentral, weil bereits heute absehbar ist, dass der Stimmkörper weiter altern und die altersspezifischen politischen Konfliktlinien zunehmen werden. Deshalb sollten wir generell darauf hinarbeiten, den politischen Interessen der jüngeren Generationen längerfristig mehr Gewicht einzuräumen.

Neben dem Stimmrechtsalter 16 wäre es zum Beispiel denkbar, die Interessen junger Menschen mit einer Standesstimme stärker zu berücksichtigen, analog zur Berücksichtigung kantonaler Interessen mit dem heutigen Ständemehr. Mögliche Weiterentwicklungen wären auch das Stimmrecht ab einem früheren Alter oder das Familienstimmrecht. Ebenfalls wäre es denkbar, die Interessen der ungeborenen Generationen politisch stärker zu berücksichtigen. Hier haben beispielsweise Schweden oder Wales erste Ansätze entwickelt, die auch in der Schweiz weiterverfolgt und getestet werden könnten.


Robin Gut

Robin Gut ist seit April 2021 Assistent und Doktorand bei Prof. Daniel Kübler am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). In seiner Dissertation untersucht er Referenden in nicht- und halbdemokratischen Ländern weltweit. Im Rahmen seiner Dissertation entwickelt er als Mitglied des Projektteams auch die am ZDA angesiedelte Referendum-Datenbank RDB weiter. Seit 2022 unterrichtet Robin das BA-Seminar «Fifty Shades of Democracy» zu Demokratisierung und Demokratiemessung. Daneben unterstützt er die wissenschaftliche Auswertung der Bürgerpanel-Projekte des ZDA und forscht zum politischen Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Geboren 1989 in Zürich, 2009-2014 Bachelor-Studium in Politikwissenschaft und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Anschliessend 2015-2018 Monomaster in Politikwissenschaft mit dem Track «Democracy, Development and International Relations» an der Universität Zürich. Daneben forschte er als Hilfsassistent bei Prof. Daniel Bochsler am Zentrum für Demokratie Aarau im Rahmen des Nationalfonds-Projekts «the Genesis of Consociational Oligarchies». 2018-2021 war Robin als Sicherheitspolitischer Berater in der Bundesverwaltung tätig.

Bild: flickr.com

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