Ja zur 13. AHV-Rente: Siegen durch Teilen

Der Sou­ve­rän hat ent­schie­den, das Volk hat der Vor­la­ge zuge­stimmt. Doch wel­ches Volk? In die­sem Arti­kel wer­den die Resul­ta­te zur 13. AHV-Ren­te auf Ebe­ne der Sprach­re­gio­nen und für den Stadt-Land-Gegen­satz betrach­tet. Dabei zeigt sich: selbst eine dop­pel­te Min­der­heit – die wel­schen Kan­to­ne – kann plötz­lich zur demo­kra­ti­schen Mehr­heit gehören.

Die Schweiz zeich­net sich durch eine Viel­zahl an Völ­kern aus. Da sind zum einen die 26 Kan­to­ne und 2’138 Gemein­den, die sich zum ande­ren in ver­schie­de­nen funk­tio­na­len und kul­tu­rel­len Regio­nen zusam­men­fin­den. Es gibt das länd­li­che und das Stadt­volk, die Roman­die oder die Sviz­ze­ra ita­lia­na, oder auch das wel­sche gegen­über dem deutsch­schwei­zer Stadt­volk. Die Abstim­mung vom 3. März zeigt aller­dings ein­mal mehr, dass sich die­se Unter­schied­lich­keit eini­gend aus­wir­ken kann. Denn wenn wir uns die AHV-Abstim­mungs­re­sul­ta­te durch die Bril­le der Stand-Land-Typo­lo­gie des BFS pro Sprach­re­gi­on anschau­en, las­sen sich drei Ein­sich­ten feststellen.

Einmal mehr ein Röstigraben

Ers­tens kam es zu einem Rös­ti­gra­ben: Abbil­dung 1 zeigt, wie sich die gene­rel­le Zustim­mung in der Roman­die auf einem hohen Niveau von 75 Pro­zent Ja befin­det. Öst­lich der Saa­ne erreich­te sie hin­ge­gen nur knapp den grü­nen Bereich (52% Ja). In den Kan­to­nen Genf, Neu­en­burg, Jura und Waadt hat kei­ne ein­zi­ge Gemein­de abge­lehnt; in Les Enfers (JU) schwang sich die Zustim­mung gar auf den Schwei­zer Rekord von 95 Pro­zent Ja. Die ita­lie­ni­sche Schweiz (Tes­sin und meh­re­re Bünd­ner Täler) nahm die Vor­la­ge mit 71 Pro­zent Ja eben­falls sehr klar an. Auf der ande­ren Sei­te gehö­ren alle ableh­nen­den zehn (ehe­ma­li­gen Halb-)Kantone zur Deutschschweiz.

Es trifft zwar zu, dass der Rös­ti­gra­ben nicht im enge­ren Sin­ne auf­ge­bro­chen ist, weil bei­de Sei­ten zuge­stimmt haben: Die deutsch­schwei­zer Mehr­heit hat die wel­sche Min­der­heit nicht über­stimmt, weil bei­de mehr­heit­lich die glei­che poli­ti­sche Prä­fe­renz aus­drück­ten. Trotz­dem ist der Unter­schied von 23 Pro­zent­punk­ten beacht­lich und mehr als dop­pelt so gross als der lang­jäh­ri­ge Durch­schnitt. Ein Staat, der umver­teilt und Chan­cen aus­gleicht, wird west­lich der Saa­ne nach wie vor enthu­si­as­ti­scher begrüsst. Auch wenn die­ser Staat iro­ni­scher­wei­se mehr­heit­lich auf Schwei­zer­deutsch kommuniziert.

Abbildung 1. Zustimmung zur AHV13-Initiative nach Sprachregion und Gemeindetyp

Abbil­dung: Alix d’A­gosti­no, DeFac­to · Daten­quel­le: BFS · Daten­stand: 03.03.2024; alle 2’138 Gemeinden

Unterschiedliche Gegensätze innerhalb der Sprachregionen

Zwei­tens decken die Resul­ta­te unter­schied­li­che Zusam­men­set­zun­gen der gröss­ten zwei Sprach­re­gio­nen auf. In der Roman­die beträgt die Dif­fe­renz zwi­schen Stadt und Land gera­de mal 4 Pro­zent­punk­te. Die deutsch­schwei­zer Land­ge­mein­den hin­ge­gen sind der ein­zi­ge Ort, wo die Initia­ti­ve mehr­heit­lich abge­lehnt wur­de (47% Ja). Dafür haben die Städ­te Bern und Basel mit 64–65%, Luzern und Zürich mit 55–57% Ja zuge­stimmt. Ins­ge­samt beträgt die Dif­fe­renz zwi­schen deutsch­schwei­zer Gross­städ­ten und Land 12 Pro­zent­punk­te, vier­mal mehr als in der Roman­die. Der Stadt-Land-Gra­ben war also auch bei die­ser Abstim­mung vor allem ein deutsch­schwei­zer Phä­no­men, wohin­ge­gen die Roman­die poli­tisch gese­hen viel ein­heit­li­cher tickt.

Aus der Minderheit wird eine Mehrheit

All dies bringt uns zum drit­ten, viel­leicht gar span­nends­ten Punkt: dass näm­lich genau all die­se Unter­schied­lich­kei­ten zur Sta­bi­li­tät und zum Zusam­men­halt des Lan­des bei­tra­gen. Denn a prio­ri kann auch eine noch so stark befür­wor­ten­de Roman­die – etwa wie der Kan­ton Jura, der mit mehr als 82% Ja für die Initia­ti­ve stimm­te – gegen eine auch nur leicht stär­ker als jetzt ver­wer­fen­de Deutsch­schweiz nichts aus­rich­ten. Und das sogar noch vor Ein­be­zug der Zusatz­hür­de, die es bei allen Ver­fas­sungs­än­de­run­gen zu über­win­den gibt: Die Not­wen­dig­keit der Kan­tons­mehr­heit spielt der Deutsch­schweiz einen zusätz­li­chen Trumpf in die Hän­de. Und was gibt es Schlim­me­res für eine Sprach­min­der­heit, als zur Volks­mehr­heit zu gehö­ren, aber an der Kan­tons­mehr­heit zu scheitern?

Dass es bei der Abstim­mung zur 13. AHV-Ren­te für Volks- und Stän­de­mehr gereicht hat, zeigt, dass auch die dop­pel­te Min­der­heit der wel­schen Kan­to­ne gewin­nen kann. Dies aller­dings nur unter Erfül­lung zwei­er­lei Bedin­gun­gen. Zum einen braucht es auf­sei­ten der sprach­li­chen Min­der­heit eine robus­te Stimm­be­tei­li­gung, oder zumin­dest kei­ne klar tie­fe­re als auf­sei­ten der Mehr­heit. Abbil­dung 2 zeigt, dass am 3. März 2024 in der Tat alle Sprach­re­gio­nen etwa gleich stark mobi­li­siert waren. Zum ande­ren braucht es Alli­an­zen: je stär­ker die natür­li­che Mehr­heit – also die Deutsch­schweiz – intern geteilt ist, des­to grös­ser sind die Sie­ges­chan­cen der Minderheit(en).

Abbildung 2. Beteiligung bei der AHV13-Abstimmung nach Sprachregion und Gemeindetyp

Abbil­dung: Alix d’A­gosti­no, DeFac­to · Daten­quel­le: BFS · Daten­stand: 03.03.2024; alle 2’138 Gemeinden

Par­tei­po­li­tisch gelang es der ver­ei­nig­ten Lin­ken, einen genü­gend gros­sen Teil der sonst stramm bür­ger­lich stim­men­den Mit­te-rechts Sym­pa­thi­san­ten und Sym­pa­thi­san­tin­nen auf ihre Sei­te zu zie­hen. Vor allem bei sonst der SVP Zuge­neig­ten scheint dies beson­ders gut geklappt zu haben. Die Volks­ab­stim­mung hat gezeigt, dass der dop­pel­te Mehr­heits­sieg einer sich sonst dop­pelt in der Min­der­heit befind­li­chen Grup­pe – den latei­ni­schen Kan­to­nen – nur durch die Auf­tei­lung der Schweiz in vie­le klei­ne Völ­ker mög­lich wurde.

Sprache ist nicht alles, aber vieles

Nach Erschei­nen des Kom­men­tars in Le Temps erreich­te mich eine Email, in der sich jemand um die Bedeu­tung der Spra­che für wirt­schaft­li­chen Fak­to­ren erkun­de­te: «War­um die Spra­chen­fra­ge dis­ku­tie­ren, wenn sie nur ganz wenig Kon­se­quen­zen für die Wirt­schaft hat? Die Stimm­be­rech­tig­ten der deutsch­schwei­zer Kan­to­ne haben vor allem des­we­gen gegen die 13. AHV-Ren­te gestimmt, weil sie mehr ver­die­nen als die Welschen.»

Mei­ne Ant­wort war, dass die Dis­kus­si­on hier nicht den Ein­druck erwe­cken woll­te, dass Spra­che und Kul­tur die ein­zi­gen Erklä­rungs­fak­to­ren für poli­ti­sches Ver­hal­ten wären. Trotz­dem ver­bleibt selbst unter Berück­sich­ti­gung vie­ler ver­schie­de­ner Kon­troll­va­ria­blen wie dem durch­schnitt­li­chen steu­er­ba­ren Ein­kom­men, dem Wahl­er­folg der SVP bei den letz­ten Natio­nal­rats­wah­len und/oder der Sozi­al­hil­fe­quo­te (all dies für alle Schwei­zer Gemein­den – die Unter­schei­dung in Stadt-Land küm­mert sich übri­gens bereits um einen gros­sen Teil die­ser Vari­anz) eine viel stär­ke­re Unter­stüt­zung der 13. AHV-Ren­te in der Roman­die (sie­he Abbil­dung 3). Selbst wenn also öko­no­mi­sche Fak­to­ren eine Rol­le spie­len, bleibt doch auch noch ein gros­ser Ein­fluss der poli­ti­schen Kul­tur – bei die­ser Abstim­mung genau­so wie bei ande­ren Fra­gen zum Wohlfahrtsstaat.

Abbildung 3. Sozialhilfe: Zustimmung zur 13. AHV-Rente auf Gemeindeebene nach Sprachgebiet und Sozialhilfequote

Abbil­dung: Alix d’A­gosti­no, DeFac­to · Daten­quel­le: BFS · Anmer­kun­gen: OLS, kon­trol­liert für % SVP bei NRW vom Okto­ber 2023


Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien in leicht geän­der­ter Fas­sung am 4. März 2024 in Le Temps. Der Bei­trag wur­de von Sean Mül­ler über­setzt und von Sarah Büti­ko­fer und Remo Pari­si redigiert.

Bild: Unsplash.com

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